Boris - der andere - Tschaikowsky (1925-1996)

  • "...I consider him to be a genius [...]. I do think that one day people will come to know that two great Russian composers bore the same name..." [Mstislav Rostropovich]


    Nun soweit ist es noch nicht gekommen, selbst eingefleischte Kenner wissen oft nicht, dass es da noch einen zweite Komponisten mit dem Namen Tschaikowsky gab. Studiert in Moskau u.a. bei Dimitri Schostakowitsch hat Boris T. 1947 seine erste Symphonie vorgestellt. Sie wurde zwar von seinem berühmten Lehrer sehr gelobt, fiel aber wie vieles, was nach dem Krieg komponiert wurde, sofort in Ungnade und konnte erst 1962 uraufgeführt werden. Das Lob von DSCH könnte man auch als Eigenlob kritisieren, denn die 1. Symphonie trägt deutliche Züge des Lehrers ohne deshalb als simples Plagiat zu erscheinen. Die melodischen Einfälle sind schon eigene, aber die Verarbeitung und viele Orchestrierungseffekte sind dann doch dem Lehrer geschuldet. Ein historischer Vergleich wäre das Duo Beethoven-Ries.
    Die Symphonie ist 32 Minuten lang und enthält die klassischen 4 Sätze, das Vorbild wäre also die 5. Symphonie von DSCH, auch im Tonfall ähneln sich die beiden Stücke. Mit jedem Hören gefällt mir die Symphonie besser und wer DSCH mag, wird hiermit auch zufrieden sein. Die beiden Orchestersuiten sind zwar später komponiert, gehören aber stilistisch einer ganz anderen Zeit an. Sie klingen wie Rimsky-Korsakoff bzw sehr früher Stravinsky und teils sogar wie der Namensvetter (es gibt allerdings keinerlei echte Verwandtschaft): Sehr farbig und melodiös, machen die beiden Partituren ebenfalls richtig Freude.
    Es gibt inzwischen ein, zwei Handvoll Einspielungen der Musik von Boris T., die 2. Symphonie und das Violinkonzert stehen schon im Regal. Darüber demnächst mehr.
    Eine B.T.-Society kümmert sich um den Nachlass und die Verbreitung dieser hörenswerten Musik.

  • Hallo Lutgra,


    für Boris Tschaikowsky einen neuen Thread auf zu machen ist sinnvoll, denn in dem Thread Russische Komponisten des 20.Jhd, wo Boris auch schon zahlreich (ab Beitrag 18) Erwähnung fand, vermischt sich einiges mit anderen russ Komponistenkollegen.


    Ich war 2008 durch die Beiträge und Empfehlungen auf Boris Tschaikowsky gekommen und habe mir auch einen CD-Grundstock angeschafft (viel Auswahl ist ja für B.T. nicht gegeben).
    Kurz zu einigen Werken:
    Klavierkonzert (1971)
    Das Klavierkonzert enthält neben absolut minimalistischen rhythmischen monolythischen Klavierakkorden (erster Satz) hochvirtuose Abschnitte (3. und 4.Satz) bereit. Seltsamerweise stehen keine Satzbezeichnungen bei den 5 Sätzen. Diese könnten so lauten:
    I. Allegro (Toccata) II. Andantino III. Allegretto (in Sonatensatzform) IV.Rondo: Allegro vivace V.Moderato
    *Das ist moderne Musik mit absolut tonalem Ansatz - aber hochinteressant und mit eigenem Profil - Klasse !


    Die Sinfonie Nr.1 (1947) hat einige interessante Momente zu bieten, besonders der rhythmusgeprägte 2.Satz.
    Ich würde Boris hier und da noch mehr Emotion gewünscht haben, wie der Erstling von Schostakowitsch, an den diese Sinfonie und vieles von ihm einfach nicht heranreicht.
    (Abb der CD von Lutgra in Beitrag 1)


    Die Sebastopol Sinfonie (1980) in einem großen Satz ist seine Dritte Sinfonie (von 4 Sinfonien). Interessant ist hier, dass er Themen aufstellt und diese im Verlauf unverarbeitet unter den Tisch kehrt. Sie kehren nicht wieder. Damit enthält er sich allem Formalissmus und gestaltet den Satz quasi in Episoden. Sie schildert eine Füle optischer Eindrücke der Krim-Hafenstadt Sebastopol am schwarzen Meer......
    Am Ende steht eine hochinteressante Komposition.


    Toll auch auf gleicher Chandos - CD die Sinfonische Dichtung "Der Wind Sibiriens" (1984) in eisiger Kälte. Er erzielt durch die orchestrale Zusammensetzung völlig neue Klangfarben.


    Die Musik für Orchester (1987) ist Boris T.´s letztes Werk, das aus 7 ineinander übergehenden Sätzen besteht, die in ihren Satzbezeichnungen (Motive, Far Road, The Wires Sing, Four Notes, Thods and Quarts, Shadows, Epilog) gekennzeichnet werden.


    Boris Tschaikowsky hatte Glück den von ihm hochgeschätzten Dirigenten Vladimir Fedossejew zur Seite zu haben, dem er sehr viele Werke widmete und der sie auch authentisch aufführte.



    Das Violinkonzert (1969) und Cellokonzert (1964), das Rostropowitsch auf seiner Liste seiner wichtigsten Cellokonzerte hatte, die von Lutrgra erwähnte Sinfonie Nr.2 sind mir immer noch nicht bekannt; die stehen seit Jahren auf der Wunschliste... wurde von mir einfach vergessen ... vielleicht auch wegen meiner nachfolgenden Gedanken:


    Warum ist er nicht so bekannt, wie so manche seiner Komponistenkollegen ? Der grosse Durchbruch ist einfach nicht da. Hinter seinem Lehrer D.Schostakowitsch bleibt er deutlich zurück. B.Tschaikowsky Komponistenkollege Andrej Eshpai ist auch nicht unbedingt mehr verbreitet; hat aber einiges zu bieten, was mich noch mehr anspricht.



    NAXOS; 2005, DDD



    Chandos; 2005, DDD

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo teleton
    schön, dass Du hier mit einsteigst. Ob Du allerdings im Forum jemand findest, der beide Einspielungen der 2. Symphonie kennt, wage ich mal zu bezweifeln. Der einzige Tamino, von dem ich mir das vorstellen könnte, ist ja leider schon lange nicht mehr dabei.


    Mir ist dann heute das passiert, was einem Sammler eigentlich nicht passieren darf. Ich warte seit einigen Tagen auf die bereits bestellte Kondrashin-Aufnahme und habe noch mal nach weiteren Aufnahmen im Internet gesucht und diese hier gefunden:




    Und dachte, das Cover kommt dir aber irgendwie bekannt vor...und tatsächlich, diese Aufnahme habe ich schon, vermutlich schon seit 15 Jahren und ebenso lange nicht mehr gehört. :D


    Ja, natürlich gleich rein in den Player und gerade gehört. Diese 1967 komponierte Symphonie ist ganz anders als die erste. 3 Sätze, 50 min, allein der erste 22 min lang. Ein rätselhaftes Werk, vergleichbar rätselhaft wie Nielsen 6 und DSCH 15. Der erste Satz scheint mir eine Suche nach einem Thema zu sein, aus dem man ein großes Allegro bauen kann. Die Suche ist allerdings nicht erfolgreich. Was bei der Suche so alles passiert, ist aber sehr spannend zu hören. Der Satz ist sehr transparent und spärlich orchestriert, es gibt nur wenig und kurze Steigerungen, alles fängt pizzicato an und hört auch so auf. Es dominieren die Holzbläser und umfangreiches gestimmtes Schlagwerk (Celesta, Xylo- und Marimbaphon). Der 2. Satz nimmt dieses Verfahren wieder auf, aber es gibt zunehmend auch Streicherpassagen, die zu einigen lyrischen Höhepunkten führen. Der 3. Satz ist am ehesten ein klassischer Symphoniesatz, hier hört man auch die typischen Steigerungen, die man in ähnlicher Weise vom Lehrer DSCH kennt. Insgesamt ein ganz eigenes, originelles Werk, das man sicher mehrmals hören muss, um es komplett zu erfassen.
    Die Interpretation durch Kondrashin ist ganz famos und die vielen kammermusikalischen Passagen sind hervorragend eingefangen. Allerdings, wenn dann das große Streichorchester aufspielt, haben wir den Effekt, den leider viele Melodiya-Aufnahmen aus dieser Zeit vermitteln: wurde hier im Flugzeughangar aufgenommen? Die Digitalisierung durch Russian Disc scheint diesen Effekt noch zu verstärken, insofern bin ich gespannt, ob die Abmischung bei Hänssler besser geklappt hat.
    Ich weiss jetzt ja nicht, wie die Fedosejew klingt, aber möglicherweise könnte die Antwort sein: man braucht beide. Die Russian Disc gibt es übrigens beim amerikanischen Flußpartner für $1,95.


    Das Violinkonzert habe ich heute morgen im Auto gehört, darüber demnächst mehr. Das Cellokonzert besitze ich auch, aber auch da ist es Jahre her, dass ich das gehört habe.

  • Nun soweit ist es noch nicht gekommen, selbst eingefleischte Kenner wissen oft nicht, dass es da noch einen zweite Komponisten mit dem Namen Tschaikowsky gab.

    Es gbt auch noch einen dritten: Alexander (*1946) und der hat auch ein Violinkonzert geschrieben. Das nur am Rande.

  • Na, das ist ja ein schräges Stück, eine musikalische Wundertüte der besonderen Art. Was hier in 38 min an unterschiedlichen Ideen aufgehäuft wird, ist schon ziemlich eindrucksvoll. Mehr hat Stravinsky in Petrushka auch nicht zusammenbekommen. Und dem Komponisten scheint der Schalk im Nacken zu sitzen. Ein witzigeres Cellokonzert kenne ich jedenfalls nicht. Wird nicht jedermanns Sache sein, aber mir gefällt's. Die Einspielung mit dem auf dieser CD geehrten (aber merkwürdigerweise auf der Titelseite nicht erwähnten) Cellisten Viktor Simon ist brilliant und geht auch klanglich in Ordnung, eine der besseren Einspielungen aus der ehemaligen SU.

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  • Weihnachten naht und der eine oder andere sucht noch eine CD für Kind, Neffe, Enkel.



    Die auf dieser CD versammelten Märchensuiten sind als Geschenk ideal, eine schöne Alternative zu "Peter und der Wolf". Stilistisch ähnlich. Orchester und Klang erstklassig.


  • :thumbsup: Ich bin jetzt froh, dass ich mich für die Fedossejew-Aufnahme (Relief) entschieden habe, denn mit Fedossejew hatte ich in Bezug auf Boris T. ja bereits beste Erfahrungen gemacht, wenn man die vergangenen Beiträge betrachtet. Das scheint mir der B.Tschaikowsky-Spezialist zu sein - kein Wunder - er ist ja sein Mentor !


    Die Sinfonie Nr.2(1967), die Fedossejew-Aufnahme und die technische Qualität der Aufnahme sind - der Hammer !
    Lutgra berichtete ja bereits in Beitrag 3 von seinem Hörerlebnis mit der Sinfonie Nr.2.
    3 Sätze - Dauer 54 Minuten
    @Lieber Lutgra, ich kann Dir Fedossejew nur bestens empfehlen.


    Zudem wird auf der CD ja auch die Sinfonie mit Harfe und Orchester (1993) geboten, die insgesamt ruhiger gestaltet ist, nicht weniger modern, aber voll geniessbar und ebenso hörenswert.
    5 Sätze - Dauer 21 Minuten.


    *** Die RELIEF_CD ist hervorragend bebildert und hat ein vorbildliches Textheft (in Deutsch), das ich für das Verständnis und der Geschichte dieser Werke für sehr wichtig halte. Qualitativ mit den cpo-Textheften vergleichbar !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Schier unergründlich sind die Tiefen des Forums. So habe ich diesen Thread erst heute entdeckt, ausgelöst durch eine Neuerscheinung mit Kammermusik dieses Komponisten. Da von Naxos produziert, erschwinglich für (fast) jedermann und somit eine gefundene Aufnahme für "Entdecker"
    Auch ich werde im weiteren Verlauf des Jahres eine CD dieses Komponisten erwerben - unabhängig davon, ob sie mir letztlich gefällt, vor allem aber aus "bidungsbürgerlichem" Antrieb. :D
    Generell in meinen Augen (ohren - ich hab in ein paar Samples kurz hineingehört) ein moderater Komponist des 20. Jahrhunderts, den man nicht unbeachtet in Vergessenheit geratenlassen sollte......
    Ob der Name Fluch oder Segen für ihn war , das ist eine weitere Frage...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Nach Andrei Eshpai, Boris Tschaikowsky war Boris Tischtschenko der 3. Schostakowitsch-Schüler, den es für mich unbedingt zu entdecken gab.

    Schön dass alle drei "geniessbare" Musik des späten 20.Jhd und Tischtschenko bis ins 21.Jhd lieferten, die oft an den grossen Lehrer erinnern und einfach nur "gute moderne Musik" sind.


    Heute fiel mir bei der Suche nach Boris Tschaikowsky-CD´s eine CD ins Auge - die ich bestellen wollte ... man wird alt ... die hatte ich bereits und die wurde sogleich aufgelegt:


    :) Das Klavierkonzert (1971) von Boris Tschaikowsky:


    Es ist in fünf Sätze eingeteilt.

    Der Rhythmus ist das wichtigste strukturelle Mittel der Sätze, bei dem dieser als Sprungbrett verwendet wird und alle musikalischen gedanken und die Art ihrer Durchführung abgeleitet sind.


    NAXOS, 2006, DDD



    8) Zur Erinnerung und zur Anregung für Hörprogramme dieser drei Interessanten Schostakowitsch-Schüler hole ich diesen Thread gerne mal wieder "nach oben" !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Boris Tschaikowsky hat eine Komposition hinterlassen, Der Jüngling (Der grüne Junge *) nach F. Dostoijewsky für Viola d'amore, Klavier und Orchester. (* Swetlana Geier, die geniale Übersetzerin des literarischen Werkes Dostoijewskis, wählte diesen Titel für ihre Übersetzung ins Deutsche.) 33 Minuten dauert das Werk.


    Zu Ehren des 60. Geburtstages von Boris Tschaikowsky entstand diese Aufnahme. Den Klavierpart spielt der Komponist.

    Vladimir Fedoseyev dirigiert das Moscow Radio SO, Alexander Petrov spielt die Stimme der Viola d'amore.


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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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  • Der Komponist interpretiert sein eigenes Klavierkonzert. Das Moscow Radio SO spielt unter der Stabführung von Vladimir Fedoseyev. AD 1979 (siehe Beitrag 9 von teleton)


    01:16 - 1

    06:48 - 2

    16:04 - 3

    22:14 - 4

    28:41 - 5


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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928