Jehan Alain: Drei Tänze (Trois danses) – Freuden, Trauer (Sarabande), Kämpfe

  • Hallo, liebe Orgelfreunde,


    als ich diese Musik zum ersten Mal in einem Kirchenkonzert gehört hatte, klang danach alle Musik anders. Sie greift in das tiefste Gefüge der Musik, aber sie wirkt sicher nur, wenn sie auf Gegenliebe trifft. Alain schrieb in der Widmung eines anderen Stückes („Le Jardin suspendu“) an Madame Evain:


    "Ich verlange nicht, daß man den Aufbau eines meiner Werke bewundert. Ich wäre sogar traurig, wenn es nur das gäbe ... Ich frage einfach: Berührt Sie das, gefällt Ihnen das instinktiv, ohne nachzudenken, einfach so, weil Sie es eben so mögen, ohne Grund ... weil Sie etwas von sich selbst darin wiederfinden." (Brief vom 22.12.1934)



    Jehan Alain als Zeichner


    Biographisches und Entstehung


    Der Vater Albert Alain (1880 - 1971) war Organist, Orgelbauer und Komponist und hatte u.a. private Studien bei Vierne. Jehan lebte 1911 - 1940. Die nächste Schwester Marie-Odile (1914 - 1937) starb bei einem Unglück auf einer Bergtour. Marie-Claire wurde 1926 geboren. Jehan heiratete 1935 Madeleine Payan (1912-1975). Sie hatten 3 Kinder Lise (geb. 1936), Agnes (geb. 1938 ) und Denis (geb. 1939).


    Jehan studierte 10 Jahre von 1929 - 1939, unterbrochen vom Militärdienst 1933-34. Dort spielte er Saxophon in einer Militärkapelle. Um seine Familie zu unterhalten verdiente er sich Geld mit Klavierunterricht und Organistentätigkeit an kleineren Kirchen. Nur wenige Monate nach Ende seines Studiums wurde er 1939 für den Kriegsdienst mobilisiert. Anfangs war es noch sehr ruhig und er hatte viel Zeit zum Komponieren. Das änderte sich schlagartig im Mai 1940, und er fiel bereits im Juni 1940, erschossen bei der Dienstfahrt in der Nähe von Saumur auf seinem Militärmotorrad.


    Wie durch ein Wunder haben die Drei Tänze „überlebt.“ Schon 1937 hatte er den zweiten Satz begonnen, als er vom Tod der Schwester erfuhr. Ursprünglich als Sarabande geplant, gab er ihm jetzt den Titel „Danse funèbre pour honorer une mémoire héroique“, in bewusster Abwandlung der berühmten Marche funébre der Musikgeschichte.


    Er arbeitete bis 1940 an den "Trois Danses". Sie waren für Orchester gedacht. Der zweite Satz liegt in einer Kammermusik-Fassung für Quintett, Orgel und Pauken vor, alle Sätze für Orgel. Die Orchesterfassung war möglicherweise in der frühen Phase des Kriegsdienstes abgeschlossen, ist aber in den Kriegswirren verloren gegangen. Alain hatte im April 1940 im Radio ein Orgelkonzert von Noelie Perront gehört, in dem sie Stücke von Bach und ihm spielte. Das hatte ihm so gefallen, dass er ihr vom Kriegsdienst aus die Orgelfassung schickte.


    Zum Werk


    Während seines 10-jährigen Studiums hatte Alain mit großem Interesse alle Diskussionen über eine Erneuerung der französischen Musik miterlebt. Frankreich suchte als „lateinisches“ Land seine Ursprünge sowohl in der antiken griechischen Musik wie in der Gregorianik der großen gotischen Dome und natürlich den Meisterwerken des Barock (die Wahl einer Sarabande ist kein Zufall). War hier ein fester Grund gefunden, dann fühlte es sich fähig, in offenen Kontakt mit den verschiedensten Kulturen der Welt zu kommen, die seinerzeit bekannt wurden. Natürlich ist auch Alains Interesse an der zeitgenössischen Musik in Paris zu erkennen, den Impressionismus und Erik Satie.


    Im Tonmaterial greift er bisweilen auf den Nahen Osten zurück, der ehijjaji-Skala (auch Zigeunertonleiter genannt) und der indischen Maya-Malavagaula-Skala. Ein Musikwissenschaftler (Wilhelm Hafner „Das Orgelwerk von Jehan Alain“) stellt die Stilmittel zusammen: "Rhythmische Subtilität aber auch Bizarrheit, monophone bis komplexe Satzgestaltung, blockartige Phrasenbauweise, Repetition, Obstinatotechnik, Verwendung des Tritonus als konstruktives Intervall, Entfaltung verschiedener, den Messian'schen Modi verwandter Skalen, Isorhythmik und -melodik, Ansätze zu polyrhythmischer und -tonaler Gestaltungsweise und serieller Technik." (S. 343)


    Das mag – so hingeschrieben – überfrachtet und akademisch klingen. Aber von dem Stück geht ein vollkommen eigener Charakter aus. Am besten trifft das wohl der französische Ausdruck obsession (Besessenheit).


    Unterstützt Orgelmusik sonst den Kirchengesang und lässt in der freien Gestaltung den Raum klingen und strahlen, getragen von der jahrhundertelangen Überlieferung des Gottesdienst, so sucht der ebenfalls tief religiöse Alain umgekehrt in seiner Verzweiflung Zuflucht an der geliebten Orgel: Wie wird sie auf seine Gefühle reagieren, was kann sie ihm sagen. Ich kenne kaum eine andere Musik, die konsequenter solch ein Hineinhorchen in den Raum zeigt, statt ihn gestalten zu wollen.


    Die Sarabande sucht in den einleitenden Takten den Klang der Kirche, wiederholt siebenmal in unterschiedlicher Dynamik das Thema, über Ruhepunkte hinweg, wie sie sonst nur von Bruckner bekannt sind, bis aus der Mitte des Raums der Klang unendlicher Trauer aufscheint und einen langsamen Rhythmus zum Schwingen kommen läßt. In unbeschreiblicher Kraft bis zum ausgespielten fff wird die Resonanz des gewaltigen Kirchengebäudes berührt, das bis in die Wurzeln getroffen scheint. Ein würdiges Abbild der früh-mittelalterlichen Maße, nach denen die großen Baumeister die gotischen Dome errichtet haben.


    Viele Grüße,
    Walter

  • hallo, walter,


    danke für die informative einleitung zu komponist und werk. ich denke, du hast die tänze genau richtig beschrieben ...ich liebe sie auch :yes:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Hallo!


    Ja, Jehan Alain, das Enfant terrible der französischen Orgelszene, hat mit den Drei Tänzen wirklcih ein Meilenstein der Orgelliteratur vorgelegt.


    Für diejenigen, die diese hochiteressant Musik kennenlrnen wollen, mal einige CD-Tipps (das Orgelwerk von Jehan Alain passt genau auf zwei CDs, von daher habe ich mich mal auf Gesamtaufnahmen beschränkt):


    Der Franzose Eric Lebrun hat für Naxos eine 1) besonders preisgünstige und 2) besondes gute Aufnahme auf 2 CDs vorgelegt. Er spielt die Werke an "seiner" Orgel in der Kirche St. Antoine des 15-20 ein:



    Alain, Jehan-Ariste (1911-1940)
    Sämtliche Orgelwerke Vol. 1
    Litanies
    Petite Piece
    Le Jardin Suspendu
    Fantaisie Nr. 2
    Variations sur un theme de Clement Janequin
    2 Danses a Agni Yavishta
    Preludes profanes Nr. 1 & 2
    Choral Cistercien
    Climat
    Monodie
    Ballade en mode Phrygien
    Choral Phrygien
    Suite
    Eric Leburn / Cavaille-Coll Orgel Saint-Antoine des Quinze-Vingts Paris
    Naxos
    DDD
    1995


    Alain, Jehan-Ariste (1911-1940)
    Sämtliche Orgelwerke Vol. 2
    3 Danses
    Intermezzo
    Variationes sur l'hymne "Lucis Creator"
    Berceuse sur deux notes qui cornent
    Grave
    Lamento
    Fantaisie Nr. 1
    Prelude & Fugue
    Choral dorien
    Aria
    Postlude pour l'office des Complies
    Eric Lebrun / Cavaille-Coll Orgel Saint-Antoine des Quinze-Vingts Paris
    Naxos
    DDD
    1995


    Absatztechnisch geschickt sind die "Highlights" (Trois Danses bzw. Litanies) auf je einer der beiden CDs verteilt, die Trois Danses
    sind auf CD 2 zu finden.


    Eine Schwester Jehan Alains, die bekannte Organistin Marie-Claire Alain, hat sich ihr Leben lang die Verbreitung des Orgel-Oeuvres ihres Bruders gefördert. Sie hat die Orgelwerke herausgegeben und es gab kaum ein in Orgelkonzert von ihr ohne ein Werk von Jehan Alain (und sei es als Zugabe). Aufgrund ihrer Nähe zu den Quellen gehört sie zu den führndsten Jehan-Alain-Foschern Die erste Gesamteinspielung (in einem eher klassischen Ansatz) entstand 1972. Diese Aufnhame ist als Dopel-CD momentan in einer Low-budget-Reihe erhältlich:



    Alain, Jehan-Ariste (1911-1940)
    Sämtliche Orgelrwerke
    Variations sur Lucis Creator; 2 Danses a Agni Yavistha; Postlude pour l'office de complies; Prelude & Fugue; Fantaisie Nr. 1; Preludes Nr. 1 & 2; Choral Dorien; Choral Phrygien; Choral Cistercien; Lamento; Climat; Petite Piece; Ballade; Grave; Monodie; Andante; Berceuse sur deux notes qui cornent; Intermezzo; Suite; Le Jardin suspendu; Litanies;
    3 Danses; Janequin-Variationen; Fantasie Nr. 2
    M.-C. Alain / Schwenkedel-Orgel St. Christoph in Belfort
    1972
    ADD
    2 CDs
    Erato


    Möchte vielleicht jemand weitere Aufnahen vorstellen?


    Gruß
    Karsten

  • Hallo Walter,


    ein schöner Beitrag von Dir.
    Alain genießt bei mir einen hohen Stellenwert, und möchte eine weitere
    gute Aufnahme hier dem Orgelforum vorstellen:




    Titelverzeichnis:
    1.Litanies
    2.Petite Piece
    3.Le Jardin Suspendu
    4.Deuxieme Fant
    5.Vars Sur Un Theme De Clement Janequin
    6.Deux Danses A Agni Yavishta: 1ere Danse
    7.Deux Danses A Agni Yavishta: 2eme Danse
    8.Premier Prld Profane
    9.Deuxieme Prld Profane
    10.Chor Cistercien
    11.Climat
    12.Monodie
    13.Ballade En Mode Phrygien
    14.Chor Phrygien
    15.Ste: Intro Et Vars
    16.Ste: Scherzo
    17.Ste: Chor


    Preis für sagenhafte 3,95 €
    Eingespielt 1997 mit Eric Lebrun.



    Grüsse
    reklov29

    Bach ist so vielfältig, sein Schatten ist ziemlich lang. Er inspirierte Musiker von Mozart bis Strawinsky. Er ist universal ,ich glaube Bach ist der Komponist der Zukunft.
    Zitat: J.E.G.