Das blinde Amseljunge im Nest oder der Pawlowsche Hund in der Musik

  • Amseljunge sind am Anfang blind. Wenn ihre Eltern im Nest aufsetzen, merken es die Jungen am leichten Vibrieren des Nestes; sie sperren ihre Schnäbel auf. Das Aufsperren der Schnäbel heißt für die Eltern: "Da muss der Wurm rein!". Wir reden also hier von sog. Schlüsselreizen, die in der Tierwelt oft instinktiv angelegt sind. Es gibt aber auch sog. "Trigger" (Abzug, Auslöser), die man erlernt, und hier gibt es eine Reihe musikalischer "Trigger". Damit verlassen wir die Wissenschaft, und es wird hemmungslos subjektiv.
    Was ein musikalischer Trigger ist, lässt sich am Beispiel am besten erklären. Wir hören ja alle viel Musik, entweder gern, mit Widerwillen oder gleichgültig. Aber es gibt Musik, die uns elektrisiert.
    "Figaros Hochzeit", letzte Szene. Sordinierte Geigen. Aha, denke ich und schnalle mich geistig an, meine Lieblingsarie, die Arie der Barbarina über die verlorene Nadel, zugleich die Eingangspforte zu einem der schönsten Finale der Musikgeschichte.
    "Rosenkavalier", letztes Bild, drei Frauen auf der Bühne, Konversation. Plötzlich ein ganz neuer Ton im Orchester (Holzbläser); Text "Marie Theres...". Jetzt weiß ich, dass eines der wunderbarsten Trios für drei Frauenstimmen beginnt, das mit dem Schlussduett das Stück zu einem glücklichen Ende führen wird.
    "Musikalische Exequien" (Schütz): Introitus eines einzelnen unbegleiteten Tenors - "Nacket bin ich von Mutterleibe kommen" - mein Lieblingswerk der geistlichen Musik liegt vor mir. Das Gefühl verstärkt sich noch unendlich, wenn man da mitsingen darf. Darin liegt allerdings eine gewisse Gefahr, denn trotz der Ergriffenheit muss man das Stück richtig und sauber singen.
    Es gibt natürlich auch negative Trigger (und hier bitte ich beim Lesen sehr zu beachten, was ich oben über die Subjektivität gesagt habe. Eine Wertung von "Triggern" scheint mir nicht sinnvoll!)
    Was ist das: Pa-pa-pa- schrumm (volles Orchester mit Klavier)? Richtig, Nr. 1b-moll.
    Bei Beethovens 9. im 4. Satz ist es der Bariton mit: "O Freu - heu - heunde, nicht diese Töne!" Das denke ich mir auch und fliehe.
    Ach ja, bei 12-Ton-Musik und Musik noch jüngeren Datums hat bei mir noch nie was getriggert und ich kenne auch keine anderen Leute, bei denen das so war.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Weitere Beispiele finden sich in meinem Thread "Supernovae in der Musik"!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Wunderschöne Assoziationen, gekonnte Wolrtspielereien und Vergleiche. Danke. :jubel:


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ja, lieber Dottore, ich danke herzlichst für einige wertvolle Erklärungen über "Trigger". Erstens habe ich dieses Wort noch nie gehört, zweitens konnte ich den Sinn dann auch nicht kennen, und drittens bin ich im alten Jahr durch Dich auch schon wieder etwas klüger geworden. Ich will aber keinesfalls auf dem Wort herumreiten (obwohl es ja auch ein Pferd mit diesem Namen geben soll), sondern nur unterstreichen, daß auch ich bei Neutönern niemals ein solches Erlebnis haben könnte (dazu müßte ich diese Geräusche natürlich auch hören, was mir aber abgeht). Dafür dachte ich aber sofort an das Duett Almaviva-Susanna mit den "Versprechern" der Zofe und natürlich an das herrliche Sextett aus dem "Figaro" - da triggert es bei mir dann auch, Gänsehauteffekt garantiert. Habe ich aber schon mal im Thread über Gänsehautstellen erwähnt (glaube ich zumindest ;( )


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Vor vielen Jahren haben wir in Oberhausen mit der Theatergruppe meiner Schule eine eigene Bearbeitung von Bradburys "Fahrenheit 451" aufgeführt, angelehnt an das Buch und an den Film von Truffaut. Im letzten Bild kam am Anfang "The Unanswered Question" von Charles Ives. Es wurde totenstill im Saal.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Seit meiner Jugend habe ich regelmäßig die Matthäuspassion gehört. In den 50er - Jahren in Düsseldorf unter Eugen Szenkar, mit Riesenchor und Riesenorchester. Immer habe ich die ersten Töne antizipiert, dieser ganz eigene Bach - Ton, bestimmt vor allem durch die Holzbläser und besonders durch die oboi d´amore. Das ist ein Trigger der besonderen Art. Die Orchester sind kleiner und leuchtender geworden, aber dieser Bach-Ton ist geblieben.
    Genauso nach langen Stunden, wenn die Streicher in den tiefen Lagen "wedelten", und dann kam "Am Abend, da es kühle ward".
    Kann man sich übrigens vorstellen, dass ein Dirigent dieser Passion, der Vorspann - Mode etwa eines Marthaler folgend, vor dem ersten Teil der Matthäuspassion den Text von Jean Paul "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei" liest oder lesen lässt? Und vor dem zweiten Teil Nietzsches tollen Menschen, mit der Aussage, dass Gott tot sei?

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Ein "trigger" ist ja der Abzugshahn an einer Schusswaffe. In der Oper "Die Sache Makropulos" von Janacek gibt es eine Stelle, die tatsächlich wie zwei Schüsse (im übertragenen Sinne, weil wie bei einem Startschuss im Stadion die Sache ernst wird) klingt. Im dritten Akt verdichten sich die Beweise gegen Elina Makropulos; sie hatte sich umgezogen und tritt in großer Robe ein, Flasche und Glas in der Hand. Da ertönt dieses Thema (Klavierauszug, 3. Akt, Ziffer 58), das mich immer elektrisiert, weil jetzt die Oper umschlägt und eines der gewaltigsten Finale der Operngeschichte einsetzt.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Zitat

    dr. pingel: Bei Beethovens Neunter im vierten Satz ist es der Bariton mit "O Freu - heu- heunde, nicht diese Töne!" Das denke ich mir auch und fliehe.

    Das hatten wir doch schon mal, lieber dr. pingel. Aber wieder denke ich mir, ob deine Bemerkung nicht ein bisschen polemisch ist.
    Du kommst ja auch vom Gesang, und wenn ihr einen fähigen Chorleiter habt, dann hält er sicher jede Menge von Legatogesang, gerade beim "h". Und wenn es dann ein veritabler Bass ist und kein leichtgewichtiger Bariton, und wenn der dann auch Ahnung vom Legato-Gesang hat, dann braucht bestimmt keiner zu fliehen. Hat auch Silvester in Köln im restlos ausverkauften Haus (2000 Besucher) keiner getan, und wenn ich Siegfried richtig verstanden habe, der das gleiche Spektakel in Zürich über sich "ergehen lassen musste", auch nicht.


    Liebe Neujahrsgrüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber William,


    du beantwortest Spott mit sachlichen Einwänden, die sicher berechtigt sind. Aber beides ist nicht kompatibel. Natürlich weiß ich, was Legato-Singen ist. Aber es geht hier um die Komposition, die ich für misslungen halte.
    Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Chorkompositionen: das eine sind die groß besetzten Chöre, die auch immer ein Orchester brauchen. Das sind dann die Werke von Beethoven, Mahler, Brahms, Haydn, Mendelssohn, dazu die Messen von Schubert, Mozart und Haydn. Und natürlich die Fülle der Opernchöre. Bach gehört übrigens nicht dazu. Weder die Matthäuspassion noch die Johannespassion sind geeignet für große Ensembles. Die Matthäuspassion mit 80 Mann im Orchester und 120 im Chor ist ein Bastard!
    Das ist nicht meine Welt. Meine Welt ist die A-Cappella-Musik (natürlich manchmal auch begleitet mit basso continuo oder kleinem Orchester); diese Musik singe ich seit 40 Jahren in Chören, die nicht mehr als 20 Mitglieder haben. Die älteste Musik stammt aus dem 13. Jahrhundert, die neueste aus dem Jahr 1990. Keiner von uns sehnt sich nach der großen Chormusik und schon gar keiner möchte Beethoven singen. Ich meine, dass Beethoven kein guter Chorkomponist war: Fidelio, Missa Solemnis, Chorfantasie und der 4. Satz der 9. sind, verglichen mit den großen Chorkomposition von Brahms und Mahler, nur zweitklassig; und verglichen mit Palestrina, Josquin, Bach, Schütz, Schein und Händel sogar nur drittklassig. Über seinen grandiosen Rang als Sinfoniker sagt das natürlich gar nichts aus!
    Noch eine Bemerkung: die Krönungsmesse von Mozart ist ein wunderschönes Stück, vor allem, weil sie wie Cosi fan tutte klingt! Aber so was hat Bach ja auch schon gemacht (Weihnachtsoratorium!). Aber für mich als Tenor ist das gar nichts! Viel zu leicht und nur Schrummtata als Füllstimme für den Sopran, der all die guten Sachen zu singen hat. So was gibt es in der Polyphonie, bei Schütz und bei Bach nicht!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Mendelssohn hat mehrere CD-Stunden a capella Chormusik komponiert (dann gibt es auch noch Stücke mit nur Orgel als Begleitung) und nicht nur Chormusik mit großem Orchester. Aber das wirst Du wahrscheinlich ohnehin wissen.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Mendelssohn hat mehrere CD-Stunden a capella Chormusik komponiert (dann gibt es auch noch Stücke mit nur Orgel als Begleitung) und nicht nur Chormusik mit großem Orchester. Aber das wirst Du wahrscheinlich ohnehin wissen.



    Das hast Du Recht. Mendelssohn und Brahms sind im 19. Jahrhundert die Komponisten, die in Bezug auf Chormusik alles konnten.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Was klingt denn bei Bach wie Cosi fan tutte oder bei der Krönungsmesse wie das Weihnachtsoratorium?

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Die Krönungsmesse klingt wie Cosi fan tutte, und das Weihnachtsoratorium hat vorher schon als "Herkules am Scheidewege" existiert. Das tertium ist "geistlich wie weltlich"!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Bei Beethovens 9. im 4. Satz ist es der Bariton mit: "O Freu - heu - heunde, nicht diese Töne!" Das denke ich mir auch und fliehe.


    Da wirkt bei Beethoven noch das barocke Figurendenken nach (Stichwort: Hypotyposis, das endlose ha-ha-ha-ha) - was schon der Empfindsamkeit des 18. Jhd. manieriert vorkam. Von Mahler wird die Hypotyposis-Figur dann bezeichnend als Parodie verwendet (in den Wunderhorn-Liedern). :hello:


    Scghöne Grüße
    Holger

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Der Vorwurf, für Sänger (zu) instrumental und unsanglich zu komponieren wird und wurde gegenüber Bach ähnlich häufig (jedenfalls regelmäßig) gebracht wie gegenüber Beethoven. (Von Mozart hätte er es "lernen" können.) Es spricht nichts dafür, dass Beethoven irgendwas wollte, was er nicht konnte, sondern vieles dafür, dass er es ziemlich genau so wollte, wie er es eben komponiert hat. Dass das ein paar Sängern und Pingelmännern heute nicht gefällt, ist eine ganz andere Sache...

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Dass das ein paar Sängern und Pingelmännern


    Hätte ich wählen können, wäre ich ja auch lieber Sänger geworden, aber es wurde mir leider nicht in die Wiege gelegt.


    Von Bach habe ich eben erst erfahren, dass er für den 2. Satz des 5. Brandenburgischen Konzertes die Flöten in D-Dur und h-Moll spielen lässt und die Hörner in F-Dur.
    Bei so viel Rücksichtsnahme gegen die Instrumentalisten, kann man sich sicher noch mehr für die Sänger freuen.


  • ist doch eher einer Verwechslung zuzuschreiben. Beethoven konnte eben nicht zwischen Gesang und Instrumentalmusik unterscheiden.


    Von Bach wollte er nichts lernen und von Puccini konnte er es nicht.


    Beethoven war so taub, dass er sein Leben lang dachte, er malt.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Zitat

    dr.pingel: Beethoven war so taub, dass er ein Leben lang dachte, er malt.

    Was ist das gut, lieber Dr. Pingel, dass du nicht taub bist, sonst dächtest du am Ende vielleicht auch noch, du malst :D !?


    Liebe Grüße


    Willi ^^

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Dr. Pingel,


    Ich verehre Beethoven aber ich bleibe cool. Meine ernste Miene (links) dürfte reichen ;)


    Jemanden, der die meiste Chorliteratur ab 1300 bis 1990 kennt und mehr gesungen hat, als hier gewisse Leute überhaupt (er)kennen


    Damit hast Du dein Ohr geschult. Wenn Du von der höchst vollendeten Musik der alten Meister durchdrungen bist, hat sich Deine Wahrnehmung bestimmt verändert. Dann könnte ich verstehen, warum Du fähig bist, negative Meinungen zu äußern, die auf Unverständnis stoßen.
    Deine Erfahrung als Hörer genügt mir völlig, aber es wäre schön, wenn Du objektiv begründen könntest, warum Beethoven hier schlechter sei als Josquin. Es ist bestimmt nicht so einfach!
    Herzliche Grüße
    Jacques


    P.S. : Das Wort "Amseljunge" war für mich ein Trigger. Wenn jemand von meiner lieben Komponistin der Natur spricht, bin ich sofort da! Mit "Trigger" in der Musik kann ich dagegen nichts anfangen. Mit Supernovae schon.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Lieber Jacques,
    danke für deinen sehr verständnisvollen und nachdenklichen Text. Meine Kritik an Beethoven bezieht sich nur auf die Chormusik, auf nichts anderes.
    Ich habe damals eine Begründung versucht; objektiv kann sie nicht sein. Es ist einfach subjektiv so, dass du als Chorsänger bei Josquin, Palestrina, Bach, Schütz, Händel, Brahms viel mehr herausgefordert bist, vor allem, wenn du in kleinen Ensembles singst. Wenn wir doppelchörig singen, sind wir im Tenor zu zweit. Wenn du Mahler oder Beethoven singst, ist es völlig egal, ob du singst. Es ist auch egal, wenn du Fehler machst.
    Was die Neunte betrifft, so sind es vor allem die Schlusstakte, wo der Sopran über zig Takte das hohe a halten muss. Das klingt für mich nicht, selbst bei einem der besten Chöre der Welt, dem von Herreweghe. Dann liegt es an der Kompoisition.
    Noch ein Nachwort: ich habe meine Einstellung immer als persönlich deklariert, die subjektiv aus der Erfahrung mit anderer Chormusik erwachsen ist. Niemals wollte ich den anderen ihre 9. rauben. Umgekehrt scheint das nicht zu gelten, eine solche Abweichung wird da nicht toleriert.
    Du bist da eine rühmliche Ausnahme, lieber Jacques, die ich sehr zu schätzen weiß.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Lieber Dr. Pingel,


    auch ich erlaube mir, bei allem gebotenen Respekt, von Deiner Meinung abzuweichen, ganz einfach mit dem Hinweis darauf, dass z. B. Bachs und Beethovens Chormusik einfach zu unterschiedlich sind, um sie mit Kategorien wie "besser" oder "schlechter" klassifizieren zu können. Ich denke, dass jeweils eine andere Zielsetzung verfolgt wird.
    Ich kann Deine Begeisterung und Freude über eine anspruchsvolle Stimmführung in jeder Stimmlage ausgesprochen gut verstehen, denke jedoch, dass auch die Missa Solemnis z.B. viele Passagen enthält, die mindestens genauso schwer zu realisieren sind, und wie Du richtig ausführst, bringt es auch Profichöre an ihre Grenzen, die 9. Symphonie entsprechend zu singen, dass es klingt - das ist dann m. E. keine Schwäche der Komposition, sondern eine entsprechend andere Herausforderung an den Chor.
    Dann geht es weniger um das feine Ziselieren von Koloraturen und Trillern - eine eigene Fähigkeit, die nicht jeder hat -, sondern um das Stehvermögen, hohe und höchste Lagen zu bewältigen, mit der notwendigen Klangfülle und Durchschlagskraft, ohne dass es schrill und angestrengt klingt - was auch eine eigene Herausforderung bedeutet.


    Mein Fazit: Beides hat seine eigenen spezifischen Anforderungen, ohne besser oder schlechter zu sein - nur anders. Und was Bach und Beethoven angeht- ich knie vor beiden!


    Viele Grüße von einem Basskollegen, der sowohl die Missa solemnis etc. als auch Bachkantaten leidenschaftlich sang und singt :hello:

  • Lieber Dr. Pingel,


    Zuerst vielen Dank für die nette Worte! Kennst Du die Version von Gardiner?




    Niemals wollte ich den anderen ihre 9. rauben


    Meine 9. war bis gestern die von Karajan (Wiener Philharmoniker, 1963). Der Schlußsatz hatte mich immer gestört, deswegen fand ich Dein Urteil nicht so abwegig. Ich dachte aber daß es an den Interpreten lag. So interpretiert finde ich die Vokalpartien überhaupt nicht schön. Ganz zu schweigen von den gequälten Solostimmen! (Karajan hat es trotzdem geschafft, einige Stellen wirklich überirdisch (ja, wirklich « über Sternen ») klingen zu lassen).


    Niemals wollte ich den anderen ihre 9. rauben. Umgekehrt scheint das nicht zu gelten, eine solche Abweichung wird da nicht toleriert.


    Ich antworte mit einem Zitat :


    « Die Linie, die seit dem 19. Jahrhundert die Verehrer der Symphonie von ihren Kritikern trennt, geht durch das Werk. Beethoven selbst hat sie gezogen. Auf der einen Seite stehen – so Hanslick – drei instrumentale Sätze, schöne, wenn auch nicht makellos schöne Stücke, über die « unter aufmerksamen und vorbereiteten Hörern kaum ein Streit entstehen » wird. Auf der anderen Seite steht der zutiefst « unschöne » letzte Satz. Das Ganze ist – so Eduard Hanslick – eine « ästhetische Ungeheuerlichkeit ». Denn der Chor stimmt mit dem instrumentalen Teil der Symphonie nicht zusammen. [E. Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, S. 50f.] Hanslicks Werturteil kann man auf sich beruhen lassen. Die Feststellung aber, auf die es sich gründet, ist unabweisbar. Die 9. Symphonie ist ein zutiefst uneinheitliches Werk. [Die Frage nach der musikalischen Einheit des Werks ist umstritten. Vgl. Dazu M. Broyles, Beethoven. The Emergence and Evolution of Beethoven's Heroic Style, S. 237ff.] Der Zwiespalt ihrer Teile lässt sich rein musikalisch nicht erklären. Er fordert eine Interpretation, die übers Musikalische hinausgeht. Wer sie dem Werk verweigert, weicht ihm aus.(*)...........
    « Richard Wagner kannte die Komposition wie wohl kaum ein zweiter. Er schreibt am 7. Juni 1855 Franz Liszt : « Der letzte Satz mit den Chören [ist] entschieden der schwächste Theil, er ist bloß kunstgeschichtlich wichtig, weil er uns auf sehr naive Weise die Verlegenheit eines wirklichen Tondichters aufdeckt, der nicht weiss, wie er endlich (nach Hölle und Fegefeuer) das Paradies darstellen soll. » (**)


    (*) BEETHOVEN Interpretationen seiner Werke, herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus und Alexander L. Ringer, Band II, Laaber-Verlag 1994, S. 255.
    (**) ibid.S. 257.



    Ich habe immer gedacht daß etwas mit dem Tempo nicht stimme. Wie sollte Beethoven die Freude vermitteln bei diesem moderaten Tempo? Und heute kam die Offenbarung : ich habe die Version von Gardiner entdeckt! Was für eine Interpretation! Bei diesem Tempo kommt endlich die Freude! Das Orchester ist sehr leichtfüssig, das Rezitativ (Violoncello und Contrabasso, In der Art eines Rezitativs, aber im Tempo) ist sehr schön gestaltet und hat wirklich das Charakter eines Rezitativs. Die Vokalpartien haben nicht diese unerträgliche Schwere wie bei Karajan. Hervorragend! Obwohl die Stellen mit den Solostimmen (die bei Gardiner wirklich nicht mehr problematisch wirken) sowie die Orchester-Schlußtakte mir nach wie vor nicht gefallen, bin ich viel weniger kritisch geworden mit diesem Schlußsatz.
    Diese Interpretation scheint mir sehr wichtig zu sein für die Rezeptionsgeschichte der Neunten. Ich bin mir fast sicher, daß wenn die Hörer früher eine solche Interpretation gekannt hätten , der Streit sich nicht mit einer solchen Vehemenz entfacht hätte.


    Herzliche Grüsse
    Jacques


    Tempi, approximativ ermittelt (Allegro assai, Hauptthema Freude, schöner Götterfunken) :


    Barenboim : 138
    Karajan : 144
    Bernstein : 144
    Furtwängler : 146
    Abbado : 152
    Herreweghe : 168
    Busch : 170
    Gardiner : 176

  • Lieber Jacques,
    dein letzter Beitrag ist eine Perle hier in meinem thread, weil er meine Kritik wirklich ernst nimmt. So wie hier möchte ich immer kritisiert und auch belehrt werden. Die alte Karajan- Aufnahme habe ich auch, da scheitert der 4. Satz einfach am unzulänglichen Chor (bei den Solisten gefällt mir Gundula Janowitz als einzige).
    Übrigens gehört die 9. zu den tollsten Sinfonien, die in meinen Augen je geschrieben worden sind, vor allem der zweite Satz reißt mich immer wieder hin. Auch die Orchestereinleitung zum 4. Satz, in der die vorigen alle noch mal verbunden werden, ist schlichtweg genial. Diese Äußerung wurde hier im Forum bemängelt (wie kannst du die ersten 3 Sätze toll finden und den 4. nicht? Antwort: Ja, kann ich!). Vielen Dank hier für die Literatur und die Zitate, die ich so nicht kannte (bis auf Hanslick).
    Meine Ablehnung gilt nach wie vor nur für mich und ist begründet auf meinen Chorerfahrungen. Ich habe sogar schon mal überlegt, ob man aus der 9. nicht eine reine Orchestersinfonie machen sollte, indem man die Solistenstimmen und den Chor von einem kleinen Orchester ausführen lässt.
    Dass es immer nur an den Ausführenden liegen soll, konnte ich bisher nicht glauben. Ich habe mir die Herreweghe - CD gekauft, der ja einen der besten Chöre der Welt hat. Das Erstaunliche: auch hier konnte mich der 4. Satz nicht überzeugen, aber die kühne Art, die ersten drei Sätze zu spielen, hat mir diese Aufnahme zur Referenzaufnahme gemacht.
    Besonders dankbar bin ich für deinen Hinweis auf Gardiner. Ich habe reingehört und aufgehorcht, aber meine Computer - Lautsprecher sind zu mickrig. Also werde ich diese Aufnahme gleich bestellen. Nichts würde ich mir nämlich lieber wünschen, als die ganze 9. zu mögen! Da bist du der erste, der mich so weit gebracht hat!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Bei Hanslick muß man wissen, daß sein Urteil über Beethovens 9. Teil seiner Polemik gegen Richard Wagner ist. Die "kunstgeschichtliche Bedeutung", von der Wagner spricht, ist die, daß für ihn der Chorsatz der 9. beweist, daß der Weg der Musik weg von der Symphonie als reinem Instrumentalstück und hin zum Musikdrama führe - und zwar unumkehrbar. Genau das ist für Hanslick eine "ästhetische Ungeheuerlichkeit".


    Schöne Grüße
    Holger

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Mir ist aus dem Zitat oben nicht ganz klar, wer "Die Feststellung aber, auf die es sich gründet, ist unabweisbar. Die 9. Symphonie ist ein zutiefst uneinheitliches Werk" sagt. Hanslick oder die Autoren des zitierten Aufsatzes oder zitieren die hier noch jemand anderen? Das ist jedenfalls keineswegs eine einhellige Meinung derer, die das Werk kommentiert haben.


    Tovey oder Riezler sind z.B. ganz und gar nicht dieser Ansicht. Es stellte sich hier erstmal die Frage, welche Vorstellung von "Einheitlichkeit" hier angelegt wird und warum die 9. sie nicht erfüllen soll.
    Gewiss ist sie kein so geschlossenes Werk wie Beethovens 5., aber sie ist ja auch mehr als doppelt so lang und deckt ein erheblich weiteres emotionales und musikalisches Spektrum ab.
    Wir führen diese Diskussion jetzt gefühlt zum zehnten Mal, aber ich kenne nach wie vor keine Sinfonie von vergleichbarem Umfang und Spannweite, die ich geschlossener finde. Die Eroica ist ungefähr ebenso "uneinheitlich", mit zwei tendeziell zu "leichten" Sätzen nach den gigantischen ersten beiden und einem sehr ungewöhnlichen Finale (wie auch in der 9.)
    Es ist richtig, dass Beethoven verschiedene Pläne verfolgte und große Mühe auf die Einleitung des Finales und Motivation des Auftretens der Sänger gewendet hat. Und sicher kann man hier Einzelheiten kritisieren. Dass das Ganze misslungen sei, halte ich nach wie vor für eine Mindermeinung, oft von Kommentatoren oder Hörern, denen auch andere Kühnheiten Beethovens nicht geheuer sind (wie Hanslick).
    Mein unwissenschaftliches Killer-Argument ist letztlich der überwältigende Erfolg des Werks beim "naiven" Hörer. Der übertrifft jedes andere, ähnliche Experiment einer Sinfonie mit Gesang (o.ä.) von Berlioz Romeo & Julia über Liszts Faust-Sinfonie bis zur Sinfonie der Tausend um ein Vielfaches.


    (Die "Kritik" von Pingel beschränkt sich hier wie anderswo darauf, dass die Chorpartie unangenehm zu singen ist und ihm persönlich dieser Abschnitt nicht gefällt...)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • (Die "Kritik" von Pingel beschränkt sich hier wie anderswo darauf, dass die Chorpartie unangenehm zu singen ist und ihm persönlich dieser Abschnitt nicht gefällt...)


    So ist es. Ich will jetzt mal die Gardiner-Aufnahme abwarten, vielleicht gewinne ich neue Erkenntnisse. Ansonsten ist die 9. auch für mich ein überwältigendes Werk!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Schön, lieber Dr. Pingel, daß Du die Gardiner-CD bestellt hast. Hoffentlich gefällt Dir diese Version.
    Hanslicks Meinung teile ich nicht ganz und finde, genau wie Du, daß der 2. Satz und die Orchestereinleitung des 4.Satzes die gelungensten sind. Der 2. Satz ist sogar für mich einer der genialsten sinfonischen Sätzen von Beethoven überhaupt, also makellos. Gundula Janowitz hat mir auch immer gut gefallen.

    Mir ist aus dem Zitat oben nicht ganz klar, wer "Die Feststellung aber, auf die es sich gründet, ist unabweisbar. Die 9. Symphonie ist ein zutiefst uneinheitliches Werk" sagt. Hanslick oder die Autoren des zitierten Aufsatzes oder zitieren die hier noch jemand anderen?


    Ich verstehe Deine Not, lieber Johannes, es ist nicht sehr überschaubar. Es ist die Meinung des Autors des Aufsatzes, Wilhelm Seidel.

    Gewiss ist sie kein so geschlossenes Werk wie Beethovens 5., aber sie ist ja auch mehr als doppelt so lang und deckt ein erheblich weiteres emotionales und musikalisches Spektrum ab.


    Es sind zwar mildernde Umstände, aber keine Entschuldigungen, besonders für Beethoven.

    Dass das Ganze misslungen sei, halte ich nach wie vor für eine Mindermeinung, oft von Kommentatoren oder Hörern, denen auch andere Kühnheiten Beethovens nicht geheuer sind (wie Hanslick).


    Sie sagen nur das Ganze sei uneinheitlich.

    Mein unwissenschaftliches Killer-Argument ist letztlich der überwältigende Erfolg des Werks beim "naiven" Hörer.

    Ist doch kein Freibrief für ein makelloses Werk!


    Herzliche Grüße
    Jacques

  • Sie sagen nur das Ganze sei uneinheitlich.


    Letztlich steht dahinter die Gattungstradition, lieber Jacques. Zur Symphonie gehört traditionell einfach kein Chor im Finale - solche Gattungs-Grenzen hat man im 19. Jh. sehr Ernst genommen. Das sind aber Argumente, die angesichts der Beliebtheit und dem Erfolg der 9. reichlich akademisch und obsolet wirken und nur noch befremdlich sind, da hat Johannes recht. Und eine sorgfältige Analyse kann ja auch zeigen, daß Beethoven das Chor-Finale sehr wohl mit dem vorgehenden symphonischen Teil verzahnt hat.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Das weiss ich, lieber Holger, und diskutiere es nicht. Ich habe nur von der Qualität der Musik gesprochen.
    Herzliche Grüße
    Jacques

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Interviebanner 1 Gelbe Rose