WEILL, Kurt: LOST IN THE STARS

  • Kurt Julian Weill (1900-1950):
    LOST IN THE STARS
    (Deutsche Titel: Der weite Weg; auch: Im Sternenzelt verloren)
    A Musical Tragedy in zwei Akten nach Alan Patons Novelle „Cry, the Beloved Country“ von Maxwell Anderson


    Uraufführung am 30. Oktober 1949 im Music Box Theatre von New York


    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Der Anführer (Tenor oder hoher Bariton)
    Stephen Kumalo, schwarzer südafrikanischer Reverend (Bass-Bariton)
    Absalom, sein Sohn (Sprechrolle)
    John Kumalo, Stephens Bruder (Sprechrolle)
    Alex, Stephens Neffe (Knaben-Sopran)
    Matthew und Grace Kumalo (Sprechrollen)
    Irina, Absaloms Geliebte (Mezzosopran)
    Linda, eine Entertainerin (Mezzosopran, Tänzerin)
    Weitere Sprechrollen:
    Arthur Jarvis, James Jarvis, Edward Jarvis,
    ein Mann („Antwortender“), Bahnhofsvorsteher in „Train to Johannesburg“,
    Richter in „Cry, the Beloved Country“, Mann in „Fear“
    Dorfbewohner in „Bird of Passage“
    Chor


    Das Geschehen spielt in Ndotsheni und Johannesburg, Südafrika, im Jahre 1949.


    INHALTSANGABE


    ERSTER AKT


    Nach einer kurzen, klagenden Orchestereinleitung wird das Publikum nüchtern-sachlich in die reale Welt Südafrikas des Jahres 1949 eingeführt: Der Anführer besingt die grünen Hügel von Ixopo (The Hills of Ixopo), auf dem die reichen Weißen leben und die erodierten Flächen mit den elenden Slums der schwarzen Bevölkerung.


    Stephen Kumalo, anglikanischer Reverend der St. Markus-Gemeinde in Ndotsheni, einem Dorf nahe Johannesburg, hat von seinem dort lebenden Bruder John einen Brief erhalten. Daraus erfährt Stephen, dass die gemeinsame Schwester Gertrude einen für sein Geschäft schädlichen Lebenswandel führt; John bittet Stephen, die Schwester und deren Sohn Alex zu sich zu nehmen. Als er seiner Frau Grace davon erzählt und ihr seinen Entschluss mitteilt, mit dem Ersparten nach Johannesburg fahren zu wollen, gibt es Streit: Grace sagt, dass jenes Geld doch für die Ausbildung ihres Sohnes Absalom gedacht war, der - leider - nach Johannesburg gegangen sei, um in den Goldminen sein Glück zu versuchen. Stephen antwortet, dass Absalom sich schon seit einem Jahr nicht mehr gemeldet habe und dass er, einmal in der Großstadt, sich nach ihm erkundigen werde.


    Die nächste Szene spielt bereits am kleinen Bahnhof etwas außerhalb von Ndotsheni: Die Reisenden, die vom Chor darzustellen sind, schildern menschliche Schicksale, Schwarzer wie Weißer, die täglich in die Großstadt fahren (Train to Johannesburg). Auf dem Perron sind auch der weiße Farmer James Jarvis, der seinen Sohn Arthur, einen Advokaten, der sich für die Abschaffung der Apartheid einsetzt, und seinen Enkel Edward, zum Zug nach Johannesburg gebracht hat. Mit Missmut sieht James, dass sich Arthur und Stephen, die sich schon seit der Kinderzeit kennen, angeregt unterhalten - das ist für ihn eine eklatante Verletzung geltender Gesetze.


    In der Großstadt angekommen erfährt Stephen von seinem Bruder, dass er wegen beengter Verhältnisse nicht bei ihm wohnen kann; völlig entgeistert muss er auch noch hören, dass Absalom längst nicht mehr in den Minen arbeitet, sondern sich nur noch mit Matthew, Johns Sohn und damit Absaloms Vetter, und anderen zwielichtigen Gestalten herumtreibt. Deshalb hat John die beiden auch auf die Straße gesetzt, er will schließlich keinen Ärger mit der Polizei haben. Stephen macht sich mit seinem Neffen Alex auf die Suche nach Absalom - er ahnt zwar, dass sein Sohn auf die schiefe Bahn geraten ist, hat aber nicht die geringste Vorstellung von dem, was er im Dschungel von Johannesburg an schlimmen Erfahrungen machen wird (The Search).


    Am Abend finden sich Stephen und Alex in einem ärmlichen Zimmer bei Gertrude wieder; die Suche nach Absalom war nicht erfolgreich, aber Stephens Befürchtungen scheinen sich tatsächlich zu bewahrheiten: Was er über seinen Sohn und dessen Kumpane gehört hat, lässt ihn nicht nur unruhig werden, sondern auch an seinem Vorhaben zweifeln, Absalom nach Ndotsheni zurückzuholen. Bei Kerzenschein erzählt er seinem Neffen von seinem Zuhause (The Little Gray House).


    Ein Szenenwechsel führt in eine der vielen Slum-Kneipen, in der Absalom und Matthew mit Kumpanen, denen man nicht gerne alleine in der Dunkelheit begegnen möchte, über die ungerechte Verteilung des Wohlstands sinnieren. Mit dabei sind auch die Entertainerin Linda und deren Freundinnen Rose und Sutty. Zur Aufheiterung singt Linda einen lustigen Song (Who'll Buy). Absalom wirkt übelgelaunt und abwesend; er nimmt auch nicht an dem „Scheinprozess“ teil, dem Linda wegen „unbefugter Unzüchtigkeit“ unterzogen wird. Dann aber hat jemand die Idee, das Haus eines Weißen auszurauben, um mit der Beute den Slums entfliehen und ein neues Leben als Goldgräber beginnen zu können. Absalom zeigt sich daran nicht interessiert, weil er an seine schwangere Freundin Irina denkt. So schnell geben die jungen Männer aber nicht auf; Matthew verstrickt Absalom in eine Diskussion über den Einsatz von Schusswaffen bei dem Einbruch.


    In diesem Moment kommt Irina auf die Szene und bekennt mit einem sentimentalen Song (Trouble Man) ihre Liebe zu Absalom. Sie äußert ihr Wissen, dass der Geliebte von der Polizei gesucht wird und hofft, ihn von den Kumpanen trennen zu können. Selbst der Hinweis auf seine Bewährungsfrist hat keine aufrüttelnde Wirkung bei Absalom. Letztlich ist der Einfluss der jungen Männer stärker, denn Absalom stimmt dem Einbruch zu.


    In einer weiteren Szene besucht Stephen die Freundin seines Sohnes in deren armseliger Hütte und aus dem Gespräch der beiden gewinnt der Reverend einen schlechten Eindruck von Irina: Er schätzt sie als leichtfertig ein, nimmt ihr Liebesgeständnis nicht ernst. Will er nicht hören, dass sie die Situation durchaus richtig sieht? Überhört er absichtlich, dass sie den Einfluss der Kumpane auf Absalom bedauert, weil sie dadurch in Not und Bedrängnis geriet?


    Die jungen Männer haben den Einbruch in das Haus des Weißen gestartet und in einem erregenden Augenblick erschießt Absalom den Hausbesitzer, er weiß nicht, dass es der Anwalt Arthur Jarvis ist, der Freund seines Vaters, der Kämpfer gegen die Ungleichheit der Rassen. Dieser Mord löst eine Reihe von Reaktionen aus, die Weill mit auffällig scharfen musikalischen Dissonanzen spickt: Eine erste Reaktion führt der Chor aus, der nicht nur Schlagzeilen der Tagespresse vorträgt (Murder in Parkwood), sondern auch die von Rassendünkel gefärbten Kommentare liefert (Fear).


    Stephen findet schließlich Absalom - im Gefängnis von Johannesburg. Die Polizei hat die Einbrecher und den Mörder von Arthur Jarvis schnell gefasst, und Absalom sofort des Mordes angeklagt. Vater Stephen will das jedoch nicht glauben, hält alles für eine Intrige und verspricht seinem Sohn, ihn nach Klärung der falschen Anklage nach Ndotsheni zu holen. Absalom macht seinem Vater aber eine Strich durch dessen vermeintlich klare Rechnung: Er gesteht den Mord an Arthur Jarvis - mit der Folge, dass Stephen in eine tiefe Glaubenskrise gerät. Die unhaltbaren Zustände, die er in Johannesburg erleben musste, und Absaloms schwere Schuld lassen ihn zusammenbrechen. Voller Verzweiflung singt er „Lost in the Stars“- Ausdruck der Hoffnungslosigkeit eines von Gott verlassenen Menschen und zugleich der musikalische Schluss des ersten Aktes.


    ZWEITER AKT


    Nach dem „Entr'Acte“ folgt ein Chorsatz (The Wild Justice), der nicht nur die Realität der im Lande praktizierten Rechtsprechung hinterfragt, sondern gleichzeitig auch jener Justiz selbst den Prozess macht und die Todesstrafe als nutzlos und verabscheuungswürdig bezeichnet.


    Stephen Kumalo ist verzweifelt, hin- und hergerissen zwischen den väterlichen Gefühlen einerseits und den bisherigen religiösen Überzeugungen andererseits: Muss er dem Sohn nicht raten, vor Gericht auf jeden Fall die Wahrheit zu sagen und sich damit selbst dem Tode auszuliefern? Oder sollte er, um der Hinrichtung zu entgehen, nicht besser lügen, die Schuld auf andere abzuwälzen? Sein Bruder John plädiert für die Lüge, da die Beweislage mehr als dürftig sei. Ansonsten solle sich Stephen darauf gefasst machen, dass Absalom hängen werde. Stephen führt in einem Monolog sein Dilemma vor, findet aber keine endgültige Lösung (Soliloquy: O Tixo, Tixo, Help Me!). Dass der Reverend in diesem Moment einen der alten Götter der Eingeborenen anruft, zeigt seinen Zwiespalt auf.


    Ein Szenenwechsel führt Stephen mit dem Vater des Getöteten, James Jarvis, zusammen: Stephen will mit ihm über den tragischen Fall sprechen, doch James lehnt ab - er hat für den Mörder seines Sohnes kein Mitleid. James hat seinen Sohn schon verloren und auch Stephen wird ihn durch einen gerechten Richterspruch verlieren. Als Stephen behauptet, die Apartheidspolitik sei der eigentliche Grund für ihrer beider tragisches Schicksal, gerät James in Wallung und beruft sich auf klare Gesetze und scheut auch rassistische Argumente nicht. Es wird klar, dass er nur seine eigene Interessenlage im Kopf hat.


    Irina ist ins Gefängnis gegangen und wird auch vorgelassen. Sie weiß, dass sie auf lange Zeit, möglicherweise sogar für immer, von Absalom getrennt sein wird. Aber sie gesteht ihm wieder ihre Liebe und verspricht, auf ihn warten zu wollen. Damit das noch ungeborene, gemeinsame Kind den Namen des Vaters tragen wird, will sie Absalom hier im Gefängnis heiraten (Stay Well).


    In der Gerichtsverhandlung suchen sich Absaloms Kumpane mit gegenseitigen Alibis von aller Schuld reinzuwaschen, Absalom aber gesteht reumütig den Mord an Arthur Jarvis. Die Wiederholung des Eingangschores „The Wild Justice“ hat die Wirkung eines Spannungsaufbaus vor dem Richterspruch. Und der ist, was zu erwarten war, eindeutig: Absaloms Geständnis wird vom Richter akzeptiert und mit dem Tode am Strang bestraft; seine Kumpane aber werden wegen dürftiger Beweise freigesprochen.


    Während der Chor einen Klagegesang anstimmt (Cry, the Beloved Country), der mit einer emotional geladenen Musik den Urteilsspruch ins Düstere steigert, wird die Verwandlung in Absaloms Zelle vollzogen: Stephen ist mit Irina ein letztes Mal vor seiner Hinrichtung vorgelassen worden. Als Reverend ist Stephen ermächtigt, seinen Sohn mit Irina zu trauen und diese Zeremonie wird zu einem Ritual voller Dramatik, in dem das Abschiednehmen, nicht das Zusammenführen zweier Liebender, textlich wie musikalisch im Vordergrund steht: Die Musik des Klagechores „Cry, the Beloved Country“ verbindet sich mit Irinas „Stay Well“, der Chorgesang drückt Trauer über Absaloms verpfuschtes Leben ebenso aus wie das durch Apartheid manifestierte Unrecht in Südafrika, wozu auch noch die immer und überall vorhandene Habgier der Menschen gezählt werden muss. Nach der Trauung wird den Beteiligten bewusst, dass Absalom an der Schwelle des Todes steht, in Irina aber neues Leben heranwächst -„Erbe unserer Angst“.


    Die Szene kehrt an den Ausgang des Dramas zurück: In Ndotsheni spielen Alex und andere Kinder, darunter auch James Jarvis' Enkel Edward, fröhlich miteinander das „Maulwurf“-Spiel und Alex singt „Big Mole“, einen Song auf „den schnellsten aller Grabenbauer“, der „sich rasch wie ein Gedanke durch die Erde gräbt“. Kein Kind macht sich Gedanken über das Problem der Rassentrennung, sie sind dagegen in der Lage, Rassenschranken nicht wahrzunehmen. Die Szenerie ist eine Vision auf Harmonie zwischen den Rassen. James Jarvis beobachtet das Spiel der Kinder, zunächst ganz offensichtlich mit Ärger, wobei er drauf und dran ist, Edward das Spiel mit schwarzen Kindern zu verbieten; dann aber erinnert er sich an seinen toten Sohn, der genau jene schrankenlosen Ideale hatte, die von den spielenden Kindern vorgelebt wird.


    Plötzlich fällt James auf, dass aus St.-Markus hymnische Musik zu hören ist und Menschen auf die Kirche zugehen. Er sieht, dass Stephen Kumalo aus dem Pfarrhaus kommt und, die Hände von Gemeindegliedern schüttelnd, auf die Sakristei zugeht. Neugierig geht auch James in die Kirche und bekommt die Ankündigung mit, dass der Reverend sein Amt aufgeben will - weil zu befürchten ist, dass die Weißen aus Wut gegen seinen Sohn, der zum Mörder wurde, die Gemeinde nicht mehr unterstützen werden. Damit ist seine Arbeit gefährdet. Stephen gibt aber auch zu, dass die Tage in Johannesburg ihn an der Existenz eines liebenden und gerechten Gottes haben zweifeln lassen. Nach einer Schrecksekunde bitten die Gemeindeglieder ihren Hirten, zu bleiben und weiter als Geistlicher für sie tätig zu sein: „A Bird of Passage“ stimmt der Chor an und verkündet die eigentliche und zentrale Botschaft des Stücks.


    Die letzte Szene zeigt Stephen, der bei fast herunter gebrannter Kerze die Totenwache für seinen vor der Hinrichtung stehenden Sohn hält. Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims drückt das Orchester mit unerbittlicher Schärfe aus, während der Chor, sozusagen als Gedankenleser, die Stimmung eines gepeinigten Vaters anstimmt (Four O'Clock). Plötzlich tritt James Jarvis ins Zimmer und beide Männer kommen sich in dieser Stunde näher, weil James erkannt hat, dass er nicht allein trauert, und weil ihm auch klar geworden ist, dass Überheblichkeit nicht weiterführt. Im Gedenken an die Ideale seines Sohnes Arthur bietet er Stephen an, mit ihm die Totenwache für Absalom zu halten und seine Wohnung in Ndotsheni zu nehmen. Stumm umarmen sich die Männer als Zeichen ihrer inneren wie äußeren Überzeugung.


    Plötzlich schlägt die Uhr viermal - zusammenzuckend blickt Stephen auf die Uhr auf dem Kaminsims und schlägt dann die Hände vor sein Gesicht. James nimmt Stephen tröstend in den Arm. Das Orchester stimmt als Reprise „Thousands of Miles“ an und der Chor darf vor dem fallenden Vorhang noch einen Kurzkommentar zur Melodie von „Hills of Ixopo“ abgeben...


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Das Stück basiert auf dem 1948 erschienenen Roman „Cry, the Beloved Country“ (Denn sie sollen getröstet werden) von Alan Paton. Die Uraufführung 1949 am Broadway war Weills letzte Bühnenpremiere: Im darauf folgenden Jahr starb der Komponist. Am 1. Juli 1950, nach 281 Aufführungen, wurde LOST IN THE STARS abgesetzt. Die New York City Opera präsentierte das Werk dann wieder im April 1958 unter Regisseur Jose Quintero mit Lawrence Winters als Stephen Kumalo. Ein Revival erlebte das Stück am 18. April 1972 im Imperial Theatre, endete aber schon am 20. Mai nach 39 Vorstellungen. Die Laufzeit von LOST IN THE STARS mit Todd Duncan (der schon den Porgy in Gershwins „Porgy and Bess“ gespielt hatte) als Stephen, dem Engländern Leslie Banks als James Jarvis, Julian Mayfield als Absalom und Inez Matthew als Irina (unter der musikalischen Leitung von Maurice Levine) wurde nur „als respektabel“ beurteilt, war also kein finanzieller Erfolg. Im Jahre 1998 kam Weills Musica Tragedy erstmals in Südafrika auf die Bühne und zwar durch die Roodeport City Opera.


    Maxwell Anderson hatte Weill auf Patons Erfolgsroman aufmerksam gemacht und holte, als er beim Komponisten Interesse feststellte, dessen Genehmigung für eine Dramatisierung ein. Nach dem Vorbild des antiken Theaters sollte ein kommentierender Chor eingesetzt werden, der Orts- und Szenenwechsel überbrücken konnte. Weill griff in seiner Musik auf ein unvollendetes Stück von 1938 zurück: „Ulysses Africanus“, das auf dem 1919 erschienenen gleichnamigen Roman von Harry Stilwell Edwards beruhte.


    © Manfred Rückert für den Tamino-Musicalführer 2014
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:

    Diese Aufnahmen unterschiedlicher Labels sind inhaltlich identisch; sie enthalten zwar jede Musiknummer, sogar eine (Little Tin God), die Weill noch vor der Premiere aus der Partitur wieder entfernt hat, aber nicht die Dialoge. Es ist die einzige Aufnahme des Musicals - das übrigens der Oper sehr nahe steht.
    Thomas Siedhoff: Handbuch des Musicals (Schott)

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    MUSIKWANDERER