Reprisenformen und Atonalität

  • [...] hierher verschoben:
    Die romantische Musikphilosophie hatte ja die große Symphonie zur Gattung der Gattungen erhoben. Zu Beginn des 20. Jhd. hat sie als Ideal im Grunde ausgedient - jedenfalls bei maßgeblichen Wegbereitern der Moderne. Debussy hält sie für überholt, Schönberg schreibt "Kammer"-Symphonien, tauscht also das Ideal auf dem Felde der Symphonie aus. Und die Reprise ist nach Adorno der Hauptangriffspunkt der Neuen Musik. Schönberg war der Auffassung, dass Reprisenformen zu leeren Formhülsen werden, wenn sie (wie in der Spätromantik) die Stütze in der Tonalität verlieren. Reprisenformen als Großformen zu verwenden, wird deshalb von den Zwölftönern erst einmal gemieden. Ob es gelingen kann, den sinnstiftenden Verlust der Tonalität zu kompensieren, ist dann eine andere Frage. Das ist letztlich eine Aufgabe der Analyse. Mir scheint aber, dass solche Versuche bezeichnend doch eher marginal geblieben sind.


    Schöne Grüße
    Holger


  • Die romantische Musikphilosophie hatte ja die große Symphonie zur Gattung der Gattungen erhoben. Zu Beginn des 20. Jhd. hat sie als Ideal im Grunde ausgedient - jedenfalls bei maßgeblichen Wegbereitern der Moderne. Debussy hält sie für überholt, Schönberg schreibt "Kammer"-Symphonien, tauscht also das Ideal auf dem Felde der Symphonie aus. Und die Reprise ist nach Adorno der Hauptangriffspunkt der Neuen Musik. Schönberg war der Auffassung, dass Reprisenformen zu leeren Formhülsen werden, wenn sie (wie in der Spätromantik) die Stütze in der Tonalität verlieren. Reprisenformen als Großformen zu verwenden, wird deshalb von den Zwölftönern erst einmal gemieden. Ob es gelingen kann, den sinnstiftenden Verlust der Tonalität zu kompensieren, ist dann eine andere Frage. Das ist letztlich eine Aufgabe der Analyse. Mir scheint aber, dass solche Versuche bezeichnend doch eher marginal geblieben sind.

    Bitte um Quelle dafür ... im Bläserquintett schreibt er einen langen, zwölftönigen, atonalen Sonatenhauptsatz mit Wiederholung der Exposition, mit Reprise und sogar mit Transposition des Seitenthemas in der Reprise. Genausogut hätte er auch eine Sinfonie schreiben können. Auch andere Werke sind ganz klassizistisch in der Form aber atonal (und zwölftönig).

    Reprisenformen als Großformen zu verwenden, wird deshalb von den Zwölftönern erst einmal gemieden.

    Das Bläserquintett ist eines der ersten Zwölftonwerke Schönbergs.
    :hello:

  • Bitte um Quelle dafür ... im Bläserquintett schreibt er einen langen, zwölftönigen, atonalen Sonatenhauptsatz mit Wiederholung der Exposition, mit Reprise und sogar mit Transposition des Seitenthemas in der Reprise. Genausogut hätte er auch eine Sinfonie schreiben können. Auch andere Werke sind ganz klassizistisch in der Form aber atonal (und zwölftönig).

    Das Bläserquintett ist eines der ersten Zwölftonwerke Schönbergs.
    :hello:


    Der Fall Schönberg ist natürlich etwas komplizierter. Grundsätzlich ist es so, dass die Reprisenform ihren Sinn von der Tonalität her gewinnt - also harmonisch definiert ist: Reprise heißt, zur Tonika zurückzukehren. Das ist mit der Zwölftontechnik erst einmal unvereinbar, denn sie vermeidet ja gerade die Bildung eines tonalen Zentrums. Die Entwertung der Reprisenform führt bei Schönberg deshalb zunächst zum musikalischen Aphorismus, also dem Verzicht auf "großformale" Zusammenhänge. Mit der Zwölftonkomposition wollte er wieder große Formen komponieren. Bei Schönberg gibt es nun eine konstruktivistische und eine pragmatische Seite. Die pragmatische ist das Gebot der "Faßlichkeit". Zur Erreichung der Faßlichkeit kann er natürlich auch konventionelle Formschemata durchaus weiter verwenden. Allerdings ist dann die Frage, ob das Formproblem der Sinnentleerung der Reprisenform durch die Chromatik in der Spätromantik damit wirklich gelöst oder nicht vielmehr nur verlagert wird. Der Logik der Zwölftonmusik widerspricht im Grunde die Reprise. Wenn dann Reprisenformen in der Komposition verwendet werden, entsteht das Problem des Verlustes von formaler Einheit: einerseits ein Verlauf, der von der "Logik" der Zwöltonkomposition bestimmt wird, die auf Wiederholungslosigkeit angelegt ist und andererseits einer Formarchitektur, die wiederholt. Das sind dann zwei getrennte Ebenen, die schwerlich zusammenfinden. Diesen Widerspruch hat Schönberg selbst erkannt. Dargestellt habe ich das in meinem Schönberg-Aufsatz. Bei Alban Berg geht es dann in eine andere Richtung, daß sich die Reprisenform des Sonatensatzes von innen her auflöst, indem die Durchführung "total" wird, auf Exposition und Reprise übergreift. All diese "Probleme" sind nun nicht gerade dazu geeignet, die Formprobleme einer großen romantischen Symphonie zu bewältigen mit Sonatensatz, mit Per-aspera-ad-astra-Dramaturgie usw., weswegen man diese Großform dann doch eher gemieden hat.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Diesen Widerspruch hat Schönberg selbst erkannt. Dargestellt habe ich das in meinem Schönberg-Aufsatz.

    Du hast einen Schönberg-Aufsatz geschrieben, interessant. Den werde ich mir gelegentlich mal zu Gemüte führen, hab ihn auch schon im Internet gefunden: Konstruktion und Verdichtung. Oder gibt es noch einen anderen?

  • Du hast einen Schönberg-Aufsatz geschrieben, interessant. Den werde ich mir gelegentlich mal zu Gemüte führen, hab ihn auch schon im Internet gefunden: Konstruktion und Verdichtung. Oder gibt es noch einen anderen?


    Das ist genau der, lieber Lutgra! Den hat die Schönberg-Gesellschaft ins Netz gestellt. Es gibt noch einen anderen Aufsatz von mir auf Englisch in Perspectives of New Music, Washington D.C. "Decomposition of the Sound Continuum" (zitiert im Wikipedia-Artikel "Momentform") - wo ich mich kritisch mit der Adorno-These auseinandersetze, wonach Zwölftonmusik die Musik entdynamisiert sowie das Problem des Strukturalismus in der Neuen Musik erörtere, womit sich Adorno gar nicht auseinandergesetzt hat. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Stockhausen - im letzten Kapitel gehe ich dann noch einmal auf Schönberg ein, die "entwickelnde Variation". Wenn Du einen Sonderdruck von mir haben willst, dann maile mich mal privat an! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Nun sind aber schon in der (Spät)romantik die harmonischen Spannungen nicht mehr das, was Sonatenformen wesentlich bestimmt (u.a. weil durch eine wesentlich reichere harmonische Palette der Grundkontrast Tonika-Dominante nicht einen Satz von 10-15 min beherrschen kann) und ebenso kann eine "Reprise" durch Techniken wie "entwickelnde Variation" relativ stark verändert werden, auch wenn vermutlich in fast allen entsprechenden Brahms- und Bruckner-Sätzen die Reprisen deutlich als solche erkennbar sind. Die Abneigung gegen wörtliche Wiederholungen, die Beethoven oder Schubert noch fremd ist, findet man jedenfalls schon stellenweise bei Brahms.
    D.h. die Sonatenform inkl. Reprise ist schon in der Spätromantik und bei Neoklassizistischen, im wesentlichen tonalen, Werken, eigentlich ein Anachronismus, und es bestehen erhebliche Unterschiede zur Wiener Klassik.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • D.h. die Sonatenform inkl. Reprise ist schon in der Spätromantik und bei Neoklassizistischen, im wesentlichen tonalen, Werken, eigentlich ein Anachronismus, und es bestehen erhebliche Unterschiede zur Wiener Klassik.


    So sehe ich das auch. In meinem Schönberg-Aufsatz habe ich mich auf die maßgebliche Quelle dafür bezogen: Wagners Kritik von Beethovens Leonoren-Ouvertüre, wo er den Sonatensatz dort als einen eben solchen Fremdkörper empfindet. Schönberg muß das gelesen haben, denn er reproduziert genau Wagners Auffassung, wonach der Sonatensatz im Grunde antidramatisch sei.


    Schöne Grüße
    Holger

  • D.h. die Sonatenform inkl. Reprise ist schon in der Spätromantik und bei Neoklassizistischen, im wesentlichen tonalen, Werken, eigentlich ein Anachronismus, und es bestehen erhebliche Unterschiede zur Wiener Klassik.

    So ist es. Bei Schönberg ist dann die Kopplung an die Tonalität ganz weg, und der Sonatensatz definiert sich ohne Dominanttonart. Insofern hat er im Bläserquintett eigentlich weniger "Rechtfertigungsprobleme" als man sie manchen Spätromantikern zuweisen könnte. Die Sonatenform hat sich da nämlich von ihrem ursprünglichen Tonalitätsbezug gelöst und lebt auch ohne ihn ganz gut. Die Form 1. Thema, 2. Thema, Durchführung, Reprise hat ja an sich mit Tonalität nichts zu tun, nur historisch. Kurios ist dann nur die "Einrichtung" in der Reprise.

  • Das ist mit der Zwölftontechnik erst einmal unvereinbar, denn sie vermeidet ja gerade die Bildung eines tonalen Zentrums. Die Entwertung der Reprisenform führt bei Schönberg deshalb zunächst zum musikalischen Aphorismus, also dem Verzicht auf "großformale" Zusammenhänge. Mit der Zwölftonkomposition wollte er wieder große Formen komponieren.

    Bemühe Dich doch bitte um eine genauere Schreibweise!
    Der Aphorismus bei Schönberg hat nichts mit seiner Zwölftontechnik zu tun, die kommt erst später! Ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass Dir das nicht geläufig ist ...

  • Der Logik der Zwölftonmusik widerspricht im Grunde die Reprise.

    Warum sollte das so sein?

    Zitat

    Wenn dann Reprisenformen in der Komposition verwendet werden, entsteht das Problem des Verlustes von formaler Einheit: einerseits ein Verlauf, der von der "Logik" der Zwöltonkomposition bestimmt wird, die auf Wiederholungslosigkeit angelegt ist und andererseits einer Formarchitektur, die wiederholt.

    Der Widerspruch kommt mir etwas konstruiert vor. Zwölftonmusik bedeutet ja nicht, dass jeder Ton in der gesamten Komposition nur einmal vorkommen darf.
    ;)

    Zitat

    Das sind dann zwei getrennte Ebenen, die schwerlich zusammenfinden. Diesen Widerspruch hat Schönberg selbst erkannt.

    Die Frage ist - wenn er es denn erkannt hat - ob er Recht hat. Denn in der Zwölftonmusik kommt doch ohnehin immer dieselbe Reihe - die Wiederholung ist der Zwölftontechnik immanent.
    :hello:

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  • Die Frage ist - wenn er es denn erkannt hat - ob er Recht hat. Denn in der Zwölftonmusik kommt doch ohnehin immer dieselbe Reihe - die Wiederholung ist der Zwölftontechnik immanent.


    Ja, aber die Form der Wiederholung der Reihe ist die Permutation und nicht die Reprise. Die traditionelle Reprisenform ist harmonisch begründet - Setzung, Ausweichung und Rückkehr zu einem tonalen Zentrum. Ohne eine solche harmonische Sukzession wird die Reprise zu einem Fremdkörper dem musikalischen Verlauf gegenüber. (Mit Jacques Handschin gesprochen entspricht den permutativen Verwandlungen der Reihe das >logische<, der Reprisenform das >architektonische< Hören.)


    Schöne Grüße
    Holger


  • Ja, aber die Form der Wiederholung der Reihe ist die Permutation und nicht die Reprise.

    Kannst Du verständlich machen, was der Begriff "Permutation" mit Schönbergs Komponierweise zu tun haben soll?

    Zitat

    Die traditionelle Reprisenform ist harmonisch begründet - Setzung, Ausweichung und Rückkehr zu einem tonalen Zentrum. Ohne eine solche harmonische Sukzession wird die Reprise zu einem Fremdkörper dem musikalischen Verlauf gegenüber.

    Warum soll das Wiederholen des Anfangs am Schluss ein Fremdkörper sein? Was soll das mit Tonalität oder Atonalität zu tun haben?
    :hello:

  • Kannst Du verständlich machen, was der Begriff "Permutation" mit Schönbergs Komponierweise zu tun haben soll?

    Die krebsgängige Umkehr der Reihe z.B. ist eine Permutation.


    Warum soll das Wiederholen des Anfangs am Schluss ein Fremdkörper sein? Was soll das mit Tonalität oder Atonalität zu tun haben?

    Weil es so nicht aus dem musikalischen Verlauf resultiert.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Die krebsgängige Umkehr der Reihe z.B. ist eine Permutation.

    Ja, es gibt die 4 Erscheinungsformen der Reihe, die man als Permutationen verstehen kann (was aber keine sehr erhellende Beschreibung ist). Dem gegenüber stehen dann z.B. 400 Wiederholungen dieser Erscheinungsformen in der Komposition. Vor dem Hintergrund mutet "Ja, aber die Form der Wiederholung der Reihe ist die Permutation und nicht die Reprise." leicht ... absurd ... an.

    Zitat

    Weil es so nicht aus dem musikalischen Verlauf resultiert.

    Der Verlauf "Setzung", Verarbeitung", "Wiederholung" ist derselbe. Nur die zusätzliche tonale "Arbeit" entfällt.

  • Der Verlauf "Setzung", Verarbeitung", "Wiederholung" ist derselbe. Nur die zusätzliche tonale "Arbeit" entfällt.


    Und woran erkennt man, dass die Verarbeitung den Beginn der Durchführung markiert? Themenverarbeitung findet ja in klassisch-romantischen Werken auch schon in der Exposition statt. Weiter: Woran macht man fest, dass die Wiederholung eines Themas wirklich eine Reprise einleitet, d.h. die Wiederholung der Exposition, also eines ganzen Formteils? In tonaler Musik ist klar, wie das alles funktioniert. Aber jenseits der Tonalität? Und benutzt Schönberg überhaupt noch die klassische Durchführungstechnik? Was ist mit der entwickelnden Variation? Ist die nicht eine offene und nicht geschlossene Form? Was bedeutet das für das Hören? Folge ich da nicht eher einer Variationsfolge, so daß die Formarchitektur der Reprise längst ihre Orientierungsfunktion verloren hat?


    Schöne Grüße
    Holger

  • Es ist ja nicht so, dass in tonalen Sonatenhauptsätzen lediglich das Wiedererreichen der Grundtonart die Reprise angibt. Oft wird durch Ausdünnung des thematischen Materials am Ende der Durchführung oder durch andere Mittel dem Hörer das Erkennen des neuen folgenden Satzteils deutlich gemacht. Die meisten Hörer von heute sind nicht in der Lage, den Modulationen zu folgen, erkennen nicht, ob man gerade in der ursprünglichen Tonart ist, oder nicht; dass am Ende so ziemlich dasselbe wie am Anfang wieder kommt, erkennen dann aber schon einige.
    Die Reprise in Ernest Chaussons Sinfonie zu erkennen, ist nicht schwer, obwohl die ganze Zeit der undurchdringlichste chromatische Dschungel herrscht. Wäre sie nicht in der Tonart von zu Beginn, würde man sie auch als Reprise erkennen. Ein schönes atonales Beispiel ist Eislers 1. Klaviersonate, in der sogar der Überleitungsteil charakterlich genau den klassischen Vorbildern entspricht und irgendwie "modulierend" wirkt.
    Anders ist es bei Stücken, in denen ständig das Material entwickelt wird und man kaum deutlich abgegrenzte Formteile erkennen kann, als Laienhörer. Die Komponisten zu Bartoks Zeiten haben offenbar die formellen Überlegungen der Kollegen trotzdem sehr gut mitbekommen. Ich muss mir das oft x-mal anhören, bis ich eine Idee habe, wo der Seitensatz sein könnte. Und die Schwierigkeiten bei Bartoks 2. Quartett sind dieselben wie bei Bergs op. 3.
    Jedenfalls ist das Gros der damaligen Werke an klassischen Formen orientiert, es gibt die unterschiedlichsten Abstufungen (Kopfsätze: Schönbergs Bläserquintett offenbar ganz klassizistisch, das 3. Streichquartett nur angenähert und fortwährend "durchführend") und die Abwendung vom Form-Klassizismus kommt auf breiter Front erst bei Stockhausen und seinen Kollegen. Die älteren Komponisten haben die Formen wohl als ziemlich notwendig befunden, als Orientierungsrahmen gleichbedeutend mit den (poly-)tonalen oder zwölftönigen Strukturierungshilfsmitteln. Was wirklich in der Minderheit bleibt, ist das völlig freie Komponieren.


    Was bedeutet das für das Hören? Oft höre ich zumindest die zugrundeliegenden Formen überhaupt nicht. Ich höre aber auch nicht, wie die Reihe alles zusammenhält und ebensowenig im polytonalen Satz, welche Tonarten gerade gleichzeitig erklingen.


    Und bei Stockhausens serieller Fortschrittsmusik höre ich auch nur die "Oberfläche". Seine Vorstellung von den fasslichen "Gruppen" ist für mich auch nicht nachvollziehbar, dafür sind diese auch viel zu zerfranst und uneindeutig. Ich höre es trotzdem alles gerne.
    ;)

  • Es ist ja nicht so, dass in tonalen Sonatenhauptsätzen lediglich das Wiedererreichen der Grundtonart die Reprise angibt. Oft wird durch Ausdünnung des thematischen Materials am Ende der Durchführung oder durch andere Mittel dem Hörer das Erkennen des neuen folgenden Satzteils deutlich gemacht.


    So ist es - es spielen immer verschiedene Dinge zusammen - Harmonik, Thematik usw. Schönberg schreibt ja in einem seiner Aphorismen, daß in einem genialen Kunstwerk die "Formeln" zwar auch drin wären, aber nur "nebenher", nicht das "Um und Auf" ausmachten im Unterschied zum ungenialen. Darin drückt sich schon die gewisse Entwertung von traditionellen Formschemata aus, die zwar noch verwendet werden, aber eben nicht mehr diese Orientierungsfunktion wie bei den Klassikern haben. Auch bei Mahler finde ich es immer problematisch wenn die Musikwissenschaft krampfhaft Sonatensatzschemata herausanalysiert, die man aber eigentlich gar nicht mehr hört. In Mahlers Kompositionsprozeß haben sie sicher eine Rolle gespielt - aber im Endresultat doch jegliche "Kraft" der Formbildung verloren. Das ist letztlich ein grundlegendes Methodenproblem von Analysen - wenn die Analyse Rekonstruktionen macht (was natürlich immer irgendwie begründbar ist) aber diese letztlich kaum noch plausibel darstellen kann als die tatsächlichen Orientierungen, welche den Hörprozeß bestimmen. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Aber die Komponisten (des frühen 20. Jahrhunderts) sprechen ja selbst davon, dass sie Sonatensätze geschrieben hätten, also kann es nicht so verfehlt sein, diese auch zu suchen. Andererseits ist es auch in der Klassik nicht ideal, sich zu sehr auf die Abgrenzungen der Formteile zu konzentrieren, die ja auch erst später in der Musiktheorie so benannt wurden, und bei Haydn und Mozart eigentlich nur "Ideen" hießen. Wenn man sich Beethovens erste Klaviersonate anhört, gibt es überhaupt keinen Einschnitt an der Stelle, die man als Beginn des Seitensatzes bezeichnen wird. Hauptthema und Überleitung sind verklammert als wäre es nicht die Überleitung sondern ein Nachsatz, Überleitung und Seitensatz sind auch verklammert und die Grenze verwischt (finde ich jedenfalls), und alles knapp gehalten bis dahin. Der Hörprozess ist nicht bestimmt von "Hier kommt ein neuer Formteil in der anderen Tonart".
    Hörst Du das anders?

  • Beethovens erste Klaviersonate op. 2 Nr. 1 ist ja berühmt und beliebter Gegenstand von Analysen ihres konstruktiven Verfahrens der "kontrastierenden Ableitung" wegen. Dadurch werden die Grenzen eher nicht verwischt, vielmehr durch Komplementaritäten satztechnisch begründet. Ich finde, daß man das auch so hört (selbst wenn man nicht unbedingt weiß, was die Muwis "kontrastierende Ableitung" nennen).


    Bei Mahler kann man finde ich sehr schön sehen, daß die Verwendung des Sonatensatzes in der Musik des 20. Jhd. sehr unterschiedlich ist. In der 6. Symphonie gibt es einen klassizistischen Sonatensatz, den man auch so wahrnehmen muß, sonst versteht man nicht, wie sich der Sinn der Reprisenform von innen heraus ins Gegenteil umwandelt - die Reprise zur Katastrophe umgedeutet wird. Da hat die "Form" des Sonatensatzes eine dramaturgisch wesentliche Funktion. Anders bei der 7. oder 9. - da hört man eigentlich ganz anders. In der 9. z.B. nähert sich die "Form" einem psychologischen Verlauf an (Aufbrausen, Höhepunkt, Zusammenbruch, Sammlung und nochmaliger Anlauf usw.), so daß die Sonatensatzarchitektur als Orientierungsschema doch eher marginalisiert wird. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Beethovens erste Klaviersonate op. 2 Nr. 1 ist ja berühmt und beliebter Gegenstand von Analysen ihres konstruktiven Verfahrens der "kontrastierenden Ableitung" wegen. Dadurch werden die Grenzen eher nicht verwischt, vielmehr durch Komplementaritäten satztechnisch begründet. Ich finde, daß man das auch so hört (selbst wenn man nicht unbedingt weiß, was die Muwis "kontrastierende Ableitung" nennen).

    Naja, wohl eher nicht, schließlich habe ich keine Ahnung, was "kontrastierende Ableitung" bedeutet, und ich empfinde die Grenzen als verwischt.
    :hello:


    Edit: wikipedia sagt:

    Zitat

    Hier verwendet Beethoven konsequent das später so genannte Prinzip der kontrastierenden Ableitung, bei der unterschiedliche, sogar gegensätzliche Themen aus einem gemeinsamen strukturellen Kern entwickelt werden, und damit den Unterschied zwischen Themenaufstellung und Verarbeitung überwinden.

    Das liest sich aber auch so, als ob es eher zu Verwischung führt als zu "Komplementarität".
    Die hier besprochene Verwandtschaft von Haupt- und Seitenthema habe ich aber gar nicht gemeint (siehe oben).


    Bzw. siehe hier:
    Widmung an Joseph Haydn - Beethovens Klaviersonaten op. 2 Nr 1-3

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  • Hallo,


    ich habe diesen Thread sehr aufmerksam (mehrmals) gelesen. Wenn ich nun auch den Thread „Unterschiedliche Satzfolgen und Satztypen…“ in einen Zusammenhang bringe, dann wegen des Threads „Fragen und Antworten der Gehirnforschung, was wir schon immer wissen wollten/sollten“.


    In den zwei erstgenannten Threads werden sehr einleuchtende Erklärungen, Beispiele usw. gebracht, was für mich sehr interessant und wissenswert ist.


    Holger schreibt in einem Beitrag: „…um es zu verstehen…“ (es geht um die 6. von Mahler):
    Das ist für mich der Knackpunkt/die Verbindung – in beiden Threads geht es um die „kopfige“, im Sinn von rationaler Verarbeitung von Musik, die natürlich und unwidersprochen ihre große Bedeutung/Berechtigung hat. Aber zumindest einen kleinen (versteckten) Hinweis darauf vermisse ich, dass diese Art Musikverständnis in der Reihenfolge der Verarbeitung an 2. Stelle rangiert. Dies ist absolut keine wertende Feststellung, beide Arten des Musikverständnisses – emotional und rational - bedingen am Ende einander, aber die Reihenfolge der Verarbeitung im menschlichen Gehirn ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Was in den beiden Threads (m. E. gut argumentiert) besprochen wird, hat (meine ich) nur wenig damit zu tun, wie die Musik beim Hörenden erst mal ankommt.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Holger schreibt in einem Beitrag: „…um es zu verstehen…“ (es geht um die 6. von Mahler):
    Das ist für mich der Knackpunkt/die Verbindung – in beiden Threads geht es um die „kopfige“, im Sinn von rationaler Verarbeitung von Musik, die natürlich und unwidersprochen ihre große Bedeutung/Berechtigung hat. Aber zumindest einen kleinen (versteckten) Hinweis darauf vermisse ich, dass diese Art Musikverständnis in der Reihenfolge der Verarbeitung an 2. Stelle rangiert. Dies ist absolut keine wertende Feststellung, beide Arten des Musikverständnisses – emotional und rational - bedingen am Ende einander, aber die Reihenfolge der Verarbeitung im menschlichen Gehirn ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Was in den beiden Threads (m. E. gut argumentiert) besprochen wird, hat (meine ich) nur wenig damit zu tun, wie die Musik beim Hörenden erst mal ankommt.


    Genau hier überzeugt mich die hirnphysiologische Erklärung nicht, lieber Horst. Denn sie setzt eine Hierarchie fest unabhängig vom konkreten Inhalt, den wir wahrnehmen. Faktisch ist es aber doch so, daß ich bei 7. z.B. eben nicht auf das Formschema fixiert bin im Gegensatz zur 6. Was heißt, daß es eben anders als diese hirnphysiologische Deutung eine von vornherein festgelegte Hierarchie gar nicht gibt. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Deinem Beitrag, lieber Holger, stimme ich voll zu und mache eine "kitzekleine" Ergänzung:


    Das erwartungsfreie Hören von Musik das ich meine (und von dem ich auch glaube gepostet zu haben), liegt zeitlich (im Millisekundenbereich) vor dem von Dir beschriebenen Musikhören. Beides Hören spielt sich in größtenteils unterschiedlichen Gehirnregionen ab - das Ohr hört nicht, es leitet nur Schallwellen die es erreichen in einer für das Gehirn zu verarbeitenden Form weiter - und sind somit nicht (oder nur mit rationalen Einschränkungen) vergleichbar.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Das erwartungsfreie Hören von Musik das ich meine (und von dem ich auch glaube gepostet zu haben), liegt zeitlich (im Millisekundenbereich) vor dem von Dir beschriebenen Musikhören.

    Mit dem Modell kann ich nun gar nichts anfangen - aber das gehört wohl auch in Deinen Hirn-Thread.
    ;)

  • Nein, da gehört es nicht hin (von Deiner Ausdrucksweise ganz zu schweigen)! Vielleicht findest Du, ich wünsche es Dir, (mit etwas Mühe) doch noch einen Zugang?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Du meinst ja offenbar mit dem "erwartungslosen Hören" das, was im Gehirn passiert, bevor wir etwas bewusst hören (habe nochmals in dem "Fragen der Hirnforschung"-Thread nachgesehen, worum es geht). Wie meinst Du, hängt das mit unserem Thread-Thema hier zusammen?

  • Hallo kurzstückmeister,
    es freut und ich bedanke mich, dass Du Dir nun mehr Zeit genommen hat, auf meinen Beitrag einzugehen und zu antworten.


    Es ist keine Haarspalterei, wenn ich „etwas bewusst hören“ präzisiere (es soll Missverständnisse vermeiden helfen).


    Erwartungsfreies (-loses) Hören ist selbstverständlich auch bewusstes Hören (im Gegensatz von nur „nebenbei“ erfolgtem Zuhören), „unvoreingenommenes…“ deckt auch ab, was ich meine.


    Ich habe in meinem Beitrag auch den Thread „Unterschiedliche Satzfolgen und Satztypen…“ mit diesem Thread zusammen gesehen. Dieses in beiden Threads erforderliche Hören stellt quasi eine rationale „Musik-Strukturabfrage“ dar, die zeitlich nach dem erwartungsfreien Hören liegt und von dem erwartungsfreien, unvoreingenommenen Hören nichtwillentlich (und auch nichtwissentlich) beeinflusst wird/werden kann. Aber auch das Ergebnis der „rationalen Musik-Strukturabfrage“ fließt nichtwillentlich (und auch nichtwissentlich) und beeinflussend in zukünftiges „erwartungsfreies…“ ein.


    Ich hoffe, mich verständlich machen zu können.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler