DISTLER, Hugo: CHORALPASSION

  • Hugo Distler (1908-1942):


    CHORALPASSION op.7
    für gemischten Chor a capella und zwei Vorsängern


    Uraufführung am 29. März 1933 durch den Bach-Chor Berlin unter der Leitung von Wolfgang Riemann


    Textzusammenstellung aus den vier Evangelien vom Komponisten


    BESETZUNG


    Evangelist - Tenor
    Eine falsche Zeugin, Sopran
    Jesus, Judas, Kaiphas, Pilatus, Schächer - Bässe
    Fünfstimmiger Chor: SSATB



    INHALTSANGABE


    Teil 1: Der Einzug.


    Mit der ersten Strophe von Sigmund von Birkens Passionschoral (der allerdings einen vorreformatorischen Hintergrund hat)


    Jesu, deine Passion/will ich jetzt bedenken;
    wollest mir vom Himmelsthron/Geist und Andacht schenken.
    In dem Bilde jetzt erschein,/Jesu, meinem Herzen,
    wie du, unser Heil zu sein,/littest alle Schmerzen.

    wird der erste Teil eingeleitet. Es ist eine zwar an Schütz gemahnende, aber sehr schlichte Komposition, in der die Melodie in die Sopranstimme gelegt wurde. Acht Variationen der Choralmelodie umrahmen die sieben Teile der Passion und bilden gleichzeitig lyrische Ruhephasen.


    Das Geschehen wird vom Evangelisten ruhig, ohne Emotionen berichtet; Jesu Einzug auf einem Esel in Jerusalem wird vom Volk, das den Messias erwartet, mit Jubel begleitet, es verstreut „Maien von den Bäumen“ und singt einen Psalm (118, 26):


    Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herren!


    Der Chor besteht zum einen aus einem stark polyphon angelegten ersten Abschnitt, zum anderen aus einem kurzen Solo-Einschub des zweiten Soprans, der wie eine begeistert sich äußernde Einzelstimme hervortritt, und dem Nachsatz


    Siehe, ein König vor Israel.

    der völlig überraschend im Dreivierteltakt, also tänzerisch, den Gesang beendet.


    Den Abschluss des kurzen ersten Teils bildet der Choralvers


    Du zeuchst als ein König ein,/wirst gar saur empfangen!
    Harte Bande warten dein,/dich damit zu fangen.
    Statt der Ehren Hohn und Spott/wird man dir, Herr, geben,
    bis du durch des Kreuzes Tod/enden wirst dein Leben.

    aus „Seele, mach dich heilig auf“ von Abraham Klesel (1636-1702), in dem bereits auf das Ende des soeben noch begeistert Bejubelten am Kreuz von Golgatha hingewiesen wird.


    Zweiter Teil: Judas und der Pharisäer Rat.


    Der Jubel ist verflogen. Der Evangelist führt die Hörer in das Tribunal gegen Jesus von Nazareth: Die Hohenpriester und Schriftgelehrten haben sich im Sanhedrin versammelt und beraten, wie sie Jesus töten können, doch keinesfalls - wie sie sich zwar chorisch, aber schnörkellos äußern - während des Pessachfestes, denn das könnte zum Aufruhr führen. Aber da ist ein gewisser Judas aus dem Kreis der Anhänger Jesu (in den, so jedenfalls der Evangelist, Satan gefahren war), dessen Hilfe man sich doch bedienen könnte und sollte: Gegen Bares ist Judas Ischarioth bereit, seinen Rabbi zu verraten und dreißig Silberlinge ist die Hilfe bestimmt Wert.


    Die letzte Strophe aus dem Passionslied „Christus, der uns selig macht“ von Michael Weiße (1488-1534), beendet diesen kurzen zweiten Teil:


    O hilf, Christe, Gottes Sohn,/durch dein bitter Leiden,
    daß wir dir stets untertan,/all Untugend meiden
    deinen Tod und sein Ursach/immerdar bedenken,
    dafür, wenn auch arm und schwach,/unsern Dank dir schenken.

    Ein Chorsatz mit wortgebundener Melodik, der in dieser Struktur an Henricus Sagittarius denken lässt, allerdings in der Tonsprache Distlers, 20. Jahrhundert.


    Dritter Teil: Das Abendmahl.


    Die Einsetzung des Heiligen Abendmahls nach dem traditionellen Osterlamm-Mahl zum Passah-(auch Pessach-)Fest ist der Inhalt dieses dritten Teils. Der Evangelist berichtet von der Zusammenkunft der Jünger mit ihrem Meister, bei der sie chorisch die Frage an Jesus richten, wo das Mahl eingenommen werden soll. Dieser Frage-Satz wird von Distler in fünfzehn Takten durch mehrere Tonarten moduliert, die eine Stimmung erzeugt, die sowohl Ratlosigkeit als auch Ungeduld verdeutlicht. Die Antwort Jesu überrascht die Jünger: Er schickt sie nämlich in die Stadt, wo sie „Einen“ antreffen werden, der das Essen zubereiten wird.


    Tatsächlich finden sie im Ort jenen Mann, der das Passamahl bereits vorbereitet hat. Als dann alle bei Tische sitzen, äußert Jesus zwar seine Freude auf diese Zusammenkunft mit traditionellem Hintergrund, doch als er den Jüngern von der ihm bevorstehenden Leidenszeit erzählt, löst das Erstaunen aus. Die trübe Stimmung schlägt in Entsetzen um, als Jesus „einen unter euch“ als den Auslöser seiner Leiden bezeichnet. Das erstaunte und aufgeregte Geraune der Runde, wer das wohl sei, endet mit Jesu klarer Ansage an Judas, dass er derjenige sein werde.


    Für die feierliche Einsetzung des Heiligen Abendmahls, die dann folgt, findet Distler einen musikalischen Ausdruck, der sich deutlich vom Vorangegangenen absetzt; Mollklänge, die keine eindeutige Bestimmung zulassen, die mal Äolisch klingen, mal an Dorisch denken lassen, erzeugen eine diffuse Stimmung:


    Nehmet! Esset! Das ist mein Leib!

    Und die Fortsetzung der Einsetzungsworte


    Trinket! Trinket alle daraus!/Das ist mein Blut des neuen Testaments,
    welches für euch vergossen wird zur/Vergebung der Sünden.
    Solches tut, so oft ihr’s trinket, zu meinem Gedächtnis!

    ist auf die gleiche Melodie, allerdings um eine Stufe höher zu singen. Das Stück klingt dann mit einem beruhigend wirkenden Dur aus. Aber es ist merkwürdig: Hier wünscht sich das menschliche Ohr eine Harmonie-Unterlegung, die jedoch nicht kommt.


    Den Beschluss des dritten Teils bildet eine Choralstrophe, die das Passionsgeschehen in Frage und Antwort kleidet; während der eine Teil der Menge erstaunt die Fragen stellt, gibt der andere Teil die drastisch-erschütternden Antworten:


    Wer folgt seiner Straßen nach? - Seht sein' harte Plagen!
    Was ist Ursach seiner Schmach? - All eu’r Missetaten!
    Warum sinket hin sein Leib? - Will für euch zerbrechen!
    Was verbleicht sein rotes Blut? - Möcht für euch fürsprechen!


    Vierter Teil: Gethsemane.


    Dieser Teil ist von Distler rein rezitativisch angelegt: Jesus befindet sich nach dem Bericht des Evangelisten am Ölberg und kämpft mit seiner Angst vor dem bitteren Geschehen, das ihn erwartet. Er bittet seine Jünger um ein Gebet, um allen Anfechtungen widerstehen zu können; dann begibt er sich abseits und betet zum himmlischen Vater, den Kelch doch von ihm zu nehmen - aber er sagt auch


    nicht mein, sondern dein Wille geschehe.

    Zurückkommend findet Jesus die Jünger schlafend vor; enttäuscht weckt er sie und fordert sie nochmals zum Beten gegen alle Anfechtungen auf.


    Natürlich kennt auch Judas Jesu Aufenthalt, ist er doch als Jünger bestens über dessen Gewohnheiten informiert. Und es wird sofort klar, dass die dreißig Silberlinge ihre Wirkung nicht verfehlt haben: Judas kommt mit Fackeln tragenden und bewaffneten „Scharen“ in den Garten Gethsemane; die Diener der Hohenpriester und Schriftgelehrten ergreifen Jesus und nehmen ihn fest, um ihn vor das Tribunal zu bringen.


    Wieder wird der Abschnitt mit einem Choralvers, dem zweiten aus Sigismund von Birkens Passionslied, beschlossen:


    Meine Augen [Seele] sehen mach,/deine Angst und Bande,
    deine Schläge, deine Schmach,/deine Kreuzesschande,
    deine Geißel, deine Dornenkron,/Speer- und Nägelwunden,
    deinen Tod, dein harte Fron:/alle für unser Sünden!

    Es handelt sich um eine besonders empfindsame Vertonung, in der die Frauen- und Männerstimmen zwei- und dreistimmig gegenübergestellt werden.


    Fünfter Teil: Kaiphas.


    Dieser Abschnitt ist zweifellos in seiner dramatischen Gestaltung durch aufgeregte Turba-Chöre, die den Erzählrythmus des Evangelisten immer wieder unterbrechen, ein Höhepunkt dieser Choralpassion.


    Jesus steht nach dem Bericht des Evangelisten vor dem Hohenpriester Kaiphas, bei dem sich auch die Schriftgelehrten und Ältesten eingefunden haben. Und sie sind sich alle einig, den Störer der öffentlichen Ordnung zu beseitigen. Zunächst bieten sie dazu zwei falsche Zeugen auf, die aus einer Rede Jesu zitieren:


    Er hat gesagt: ich kann den/Tempel Gottes abbrechen,
    und in dreien Tagen denselbigen wieder bauen!

    Die Erwartung, dass der Angeklagte sich zu dem Vorwurf äußert, geht nicht in Erfüllung - Jesus schweigt. Auch das wiederholte Nachfragen der Kleriker macht ihn nicht wankend, scheinbar prallt alles an ihm ab. Erst auf die Frage, ob er „der Christus“ sei, bekommen die Frager eine Antwort, wenn auch in einen Vorwurf gekleidet:


    Sage ich es euch, so glaubt ihr mir's nicht.

    Dann aber, auf nochmaliges Insistieren, spricht Jesus ein klares „Ja“- genau das, was die Ankläger hören wollen: Endlich, schon nicht mehr erwartet, hat der Angeklagte den Grund für das Todesurteil geliefert, das Geständnis der Gotteslästerung, und das ist in Israel ein todeswürdiges Vergehen:


    Er hat Gott gelästert!/Was bedürfen wir weiter Zeugnis!/Er ist des Todes schuldig!
    Und sie spuckten ihm ins Gesicht, schlugen mit den Fäusten auf ihn ein und riefen
    Weissage uns, Christe:/Wer ist es, der dich schlug?

    Distler findet gerade für dieses Chorstück eine packende Wirkung, weil er den Hohn der Leute mit einem tänzerischen Duktus versieht, um danach in wilde Schreie auszubrechen.


    Den Beschluß dieses fünften Teils bildet der Choralvers


    Jesus wußt von keiner Schuld,/trug er auch die Strafen;
    litt all Marter mit Geduld,/ging sein harte Straßen.
    Nahm sich unser mächtig an,/tät die Sünd uns tragen,
    als hätt er sie selber tan:/es kost’t ihm das Leben.

    der die Melodie dem Sopran überlässt, während sich die übrigen Stimmen in großer Erregung darunter mit polyphoner Kunstfertigkeit äußern.


    Sechster Teil: Pilatus.


    Die Verhandlung vor Roms Statthalter Pilatus ist der längste Teil des Werkes. Eine Vielzahl von aufgeregten Chorpassagen erzeugt eine ständig wachsende Innenspannung.


    Bevor Pilatus das Wort ergreifen kann, klagen die Juden wild durcheinander rufend


    Er hat das Volk erreget und er verbietet,/den Schoß dem Kaiser zu geben!

    Distler erzeugt die aufgeladene Stimmung durch unterschiedliche Rhythmen für die einzelnen Chorstimmen. Pilatus wird förmlich und fragt, was man dem Angeklagten denn vorwerfe. Die aufreizende Antwort zeigt die Ungeduld der Menge:


    Wäre dieser nicht ein Übeltäter,/wir hätten dir ihn nicht überantwortet!

    Aber Pilatus kann auch ungeduldig sein, denn er empfiehlt den Klägern


    So richtet ihn nach eurem Gesetz.

    Genau das aber, so schreien sie ihm entgegen, geht nicht, denn sie dürfen ja niemanden töten.


    Wohl oder Übel muss der Römer nun ein Verhör mit Jesus führen: Auf die erste Frage, ob er Gottes Sohn sei, erhält er keine Antwort. Erst auf Pilatus' erstaunte Nachfrage, warum er sich nicht verteidige, antwortet Jesus, allerdings mit einer für Pilatus sicherlich überraschenden Aussage:


    Ich bin ein König,/aber mein Reich ist nicht von dieser Welt.

    Ein merkwürdiger Mensch, mag Pilatus gedacht haben; aber er äußert dieses Erstaunen nicht, sondern geht hinaus und teilt dem ungeduldig wartenden Volk mit, dass er keine Schuld feststellen kann. Aber ein Gedanke ist ihm gekommen, der vielleicht die Situation beruhigen könnte: Pilatus bietet den Juden, alter Tradition gemäß, zum hohen Pessachfest die Freilassung eines Gefangenen an, damit rechnend, dass sie ihren „König“ frei haben wollen. Doch die Menge wählt, von den Klerikern angestachelt, laut schreiend „Barrabam“- der aber war, wie der Evangelist erklärt, ein Mörder. Pilatus wiederholt seine Feststellung, dass er kein schuldhaftes Verhalten an Jesus finden kann, bietet aber, wieder einmal in der Hoffnung auf eine Beruhigung der Situation, geißeln lassen. Und so geschieht es.


    Die Kriegsknechte, berichtet der Evangelist weiter, flochten eine Dornenkrone und setzten sie dem Gekreuzigten aufs Haupt und verhöhnten ihn:


    Sei gegrüßet, lieber Judenkönig!

    Auch für diesen Chorsatz greift Distler auf einen Tanzrhythmus zurück, der Spott und Hohn noch weiter verstärkt. Pilatus aber scheint Mitleid für diesen Mann zu empfinden, anders lässt sich jedenfalls sein Zuruf an die Menge nicht deuten:


    Sehet, welch ein Mensch!

    Und das ist nun das Zeichen für die Juden, seinen Tod am Kreuz zu fordern. Zwischen zwei Rufen „Kreuzige ihn!“ steht der gleichlautende Aufschrei des Solo-Soprans - das Geschrei der Menge zusätzlich anfeuernd.


    Pilatus fühlt sich schlecht; er will mit dem Geschehen nichts zu tun haben und weist mit den Worten „Sehet ihr zu!“ die Verantwortung weit von sich. Das Volk wird wütend und schleudert diese Erregung in einem aufwühlenden Satz, der in schnellem Tempo zu singen und von Imitationen durchsetzt ist:


    Sein Blut komme über uns/und unsre Kinder.


    Der letzte Vers aus Sigismund von Birkens Passionslied „Jesu deine Passion“ bildet den Schluss dieses sechsten Teils, in den Distler Echowirkungen einbaut:


    Lehr mich, Jesu, dass ich gern/dir das Kreuz nachtrage,
    dass ich Demut von dir lern/und Geduld in Plage,
    dass ich dir geb Lieb um Lieb,/wie du mir gegeben,
    bis auch ich, der Erden müd,/scheiden werd vom Leben.


    Der Passion letzter Teil: Golgatha.


    Der Evangelist berichtet in der gewohnt ruhigen, fast stoisch zu nennenden Art, dass man Jesus band, ihn sein Kreuz [zur „Schädelstätt, die da heißet Golgatha“] selbst tragen ließ, und ihn dort neben zwei Mördern kreuzigte. Und bei genau dieser Textstelle


    Allda kreuzigten sie ihn und mit ihm zween Mörder

    bricht der bisher so ruhig erzählende Chronist plötzlich aus der ihm zugestandenen Vortragsweise aus, weil Distler ihm hör- und fühlbaren Schmerz erzeugende Melismen in die Noten schreibt.


    Während sich einzelne Beobachter der Szene über Pilatus ärgern, weil der über das Kreuz die aus ihrer Sicht falsche Behauptung „Jesus von Nazareth, der Juden König“ schreiben ließ, versucht einer der beiden Mörder, Jesus zu demütigen und sogar anzustacheln:


    Andern hat er geholfen/und kann sich selber nicht helfen!
    Bist du Christus, so hilf dir selber und uns!

    Das finden die Umstehenden, darunter die Hohenpriester und Schriftgelehrten, wahr und ehrlich gesprochen und pflichten dem „Schächer“ bei:


    Er hat Gott vertrauet:/der erlöse ihn nun!
    So steige er nur vom Kreuz,/ist er der König von Israel!

    Vollkommen überraschend, aber von fast unheimlich-zwingender Wirkung ist die von Distler für diesen Spottchor eingesetzte Melodie des Eingangschores (Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn), wofür es nur die Erklärung gibt, dass der Komponist die Unentschlossenheit des Volkes verdeutlichen will: Da sind einerseits die Hosianna-Rufe, andererseits das Kreuzige-Geschrei, hier die Freude auf die Ankunft des Messias, dort und nur wenig später die Verhöhnung des Gekreuzigten. Die Drastik des Geschehens kann man musikalisch kaum auffälliger beschreiben.


    Jesus, der weder auf den Mörder, noch auf die Beschimpfungen der Zuschauer einging, hat aber seine Mutter und und seinen Lieblingsjünger Johannes fest im Blick: Er sagt seiner Mutter, dass von nun an Johannes ihr Sohn sei und folgerichtig Johannes Marias Sohn. Kurz vor seinem Ende ruft Jesus


    Mein Gott, mein Gott, warum, warum,/warum hast du mich verlassen?

    und dass ihn dürstet. Daraufhin geben ihm die Kriegsknecht einen mit Essig gefüllten Schwamm und nach einem erneuten Schrei „neigt er sein Haupt“ und stirbt.


    Der Schlusschoral ist ein mit mannigfaltigen Koloraturen versehener Chorsatz, von Sopran und Bass eingefasst mit Bruchstücken der Choralmelodie:


    Jesu, dir sei ewig Lob,/der du uns erlöset,/durch dein bittern Kreuzestod
    Gott uns hast versöhnet!/All dein Lieb, dein göttlich Kraft,/ließ uns nicht verderben,
    trug fürwahr ein schwere Last:/für sein Feind zu sterben!


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Hugo Distler begann die Komposition der Choralpassion kurz nach seinem Dienstantritt (1. Januar 1931) als Organist an der Jakobikirche in Lübeck; die Stelle hatte ihm übrigens sein Leipziger Orgellehrer Günter Ramin vermittelt. Seine finanzielle Situation bezeichnete er selber zwar als schwierig, nannte aber die Zusammenarbeit mit den anderen in Lübeck tätigen Kirchenmusikern und den Theologen hervorragend.


    Nach Distlers eigenen Worten wurde er durch die traditionell am Karfreitag in Lübeck zur Aufführung kommende Matthäus-Passion von Heinrich Schütz zu seinem Werk angeregt:


    In lebendigstem Bewußtsein wird mir der packende Eindruck bleiben, den das erstmalige Miterleben der hier in Lübeck bereits seit einigen Jahren alljährlich am Karfreitag zur Aufführung gelangenden Matthäuspassion von Heinrich Schütz ausübte.
    Gleichwohl ist sein op.7 nicht bloße Kopie eines alten Meisterwerkes in neuem Gewand: So ist sie nicht an die Form der im Choralton gesungenen Passion gebunden; außerdem wählt Distler den Text aus einer so genannte Evangelienharmonie (einer Zusammenstellung aus allen vier Evangelien) und baut zusätzlich noch eine aus sieben Variationen bestehende Choralpartita ein, die, vom Komponisten ausdrücklich befürwortet, auch eigenständig aufgeführt werden kann.


    Im Nachwort zu seinem op.7 schreibt Distler, dass ihm die Einbindung des evangelischen Kirchenliedes als ein „bestimmendes Formelement“ wichtig gewesen sei:


    Der Gedanke einer Darstellung der Passionsgeschichte in zeitgemäßer Gewandung, doch im Geiste der alten, durch Schütz zu herrlicher Vollendung geführten A-acpella-Passion, die in der Verwendung der Mittel sich zugunsten einer volkhaften, allgemeinverständlichen, lapidaren, ebenso primitiven wie eindringlichen Sprache befleißigt: Dieser Gedanke war es, der die Entstehung der vorliegenden A-capella-Passion veranlasste. Der dramatisch geladenen Darstellung des Passionsgeschehens in ihrer unerbittlichen Sachlichkeit und grausigen Kürze stellte ich als notwendig-ergänzenden Ausgleich den Choral gegenüber, und zwar in der Form der Variation. Die in sieben Teilen dargestellte Historie wird eingerahmt von den acht Choralvariationen über den Passionschoral „Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken“. Der erzählende Text ist aus allen vier Evangelien ausgewählt: Möglichst plastische, eindringliche Gestaltung bewog zu dieser Darstellung.
    Diese Choralpassion stellte Distler sofort in die vordere Reihe der evangelischen Kirchenmusiker, die sich seit den zwanziger Jahren bemühten, vom monumentalen Oratorienstil der Vergangenheit Abstand zu gewinnen. Es ging den Vertretern dieser Richtung, der sich Distler ausdrücklich anschloss, um liturgische Kirchenmusik, um eine „neue Sakralkunst“.


    Exemplarisch ist das Urteil, das Fred Hamels damals in der „deutschen Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichte, und das in dem Satz gipfelte


    Dieses Werk ist nicht nur als schöpferische Inspiration eines Fünfundzwanzigjährigen etwas Außerordentliches, sondern es besitzt schlechthin eine zeitsymptomatische Bedeutung.
    Es gibt zum Komponisten wie zu seinen Werken in diesem Forum bereits einen Thread, der den interessierten Musikfreunden empfohlen wird - zumal dort auch CD-Hinweise gegeben werden:
    Hugo Distler – Neuerer der evangelischen Kirchenmusik



    © Manfred Rückert für den Tamino-Oratorienführer 2014
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Partitur Bärenreiter-Verlag
    H. J. Moser: Die evangelische Kirchenmusik in Deutschland. Verlag Merseburger, 1954

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    MUSIKWANDERER

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  • Außer der im Distler-Thread erwähnten Aufnahme mit dem Niederländischen Kammerchor unter Uwe Gronostay hat jpc die folgenden Einspielungen im Angebot:



    Das Label ebs präsentiert die Choralpassion mit dem Hugo-Distler-Chor Berlin und den Solisten Andre Cardino und Johannes Richter unter der Leitung von Klaus Fischer-Dieskau.

    Thorofon hat sich für seine Produktion des Kammerchors der Universität Dortmund unter Willi Gundlach versichert; als Solisten werden Wilfried Jochens, Tenor (als Evangelist), Peter Kooy, Bariton (als Jesus) und Gerrit Miehlke, Bass (als Pilatus) eingesetzt.

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    MUSIKWANDERER

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