Erdbeben und andere Probleme - Antoine Brumel

  • 1483 wird Brumel durch das Kathedralkapitel von Chartres als Offiziumssänger angestellt. Später leitet er die Knabenchöre in Laon, Genéve und Paris. Mehrmals scheint er sich deutlich über die Qualität der Sänger beklagt und, anders als etwa Bach, die Konsequenzen gezogen zu haben, denn er wechselte seine Stellung häufig und gab schliesslich auch die hochangesehene Position in der Hauptstadt auf. 1505 ging Brumel vermutlich von Zentralfrankreich an den Hof des Herzogs von Ferrara - als Nachfolger Obrechts. Die letzte sichere Nennung bezieht sich auf das Mantua des Jahres 1512.


    Brumels Werk blieb auch nach seinem Tod hochangesehen, Cretin, Gafori und H. Finck stellen ihn an die Seite von Josquin, Obrecht oder Tinctorius. Bei Heinrich Glarean folgt dem Lob allerdings eine Einschränkung: Brumel habe sich mit der Komposition der Messe "Beata Virgine" mit dem gleichnamigen Werk von Josquin messen wollen und sei hinsichtlich der Geistesschärfe gescheitert. Hier zeigt sich also ein deutlicher Wettbewerbsgedanke in puncto handwerklicher Qualität der "Themenverarbeitung". Tatsächlich dürften die Messen Josquins und in Einzelfällen auch Werke von Busnoys und Obrecht elaborierter sein.


    Doch beherrschte auch Brumel "seine Polyphonie", wie etliche geradezu demonstative Werke bezeugen. Die vierstimmige Missa "A l'ombre d'un buissonet" ist von intesiver Kanonisierung geprägt, wobei gleichzeitig eine bereits kanonische Vorlage (Josquins Chanson) parodiert wird. Da die offenbar einzige Aufnahme dieses bemerkenswerten Werkes schon seit längerem aus dem Katalog verschwunden ist, hier Kyrie, Gloria und Credo:
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    Darüber hinaus existieren Messen mit zweistimmigem Doppelkanon, ein Werk über die Töne des Hexachords sowie ein (nicht sicher zuzuschreibbares) "cuiusvis toni", wobei in dieser Variante jede Stimme einem anderen Kirchenton folgt.


    Neben der traditionellen kanonischen und cantus firmus-Technik finden sich in den späteren Werken intensive Durchimitationen. Damit wird bereits die Musik der Zeit der Nach-Josquin-Generation vorweggenommen. Auch die häufig enge Führung der deutlich gleichberechtigten Stimmen und etlich homophone Passagen antizipieren das zweite Viertel des 16. Jahrhunderts. Dabei legt Brumel konstanten Wert auf Klangschönheit.




    Besonders zukunftsweisend ist die "Missa Et ecce terraemotus", technisch gesehen nicht einmal Brumels "hochwertigstes" Werk, doch bis heute sein poplärstes. Die Messe ist in zwei jeweils nicht vollständigen Handschriften erhalten, im Exemplar aus München scheint Lassus die 33 Namen der Sänger einer Aufführung von 1570 eingetragen zu haben. Der cantus firmus basiert auf den ersten sieben Tönen des zweiten Vesper-Antiphons zum Ostersonntag. Das Antiphon thematisiert das Erdbeben, welches jenen Engel begleitete, der den Grabwächterinnen die Auferstehung verkündete [Matthäus 28,2]. Fünf der besagten sieben Töne des c.f., der alle fünf Messeteile hörbar prägt, sind identisch, wodurch sich zwangsläufig eine simple Harmonie ergibt. Dem möglichen Gefühl von Redundanz beugt Brumel vor, indem er das Werk zwölfstimmig besetzte und damit seine übliche Besetzungsstärke für Messen verdreifachte. Während der c.f. in der Regel von drei Stimmen gesungen wird, werden den übrigen kleinteilig verschachtelte polyphone Motive zugewiesen, so das sich der Klangsatz in dauender Fluktuation befindet. Auf klangmalerische Weise steht der Zuhörer auf schwankendem Boden. Eine echte Unabhängigkeit aller Stimmen ist bei dieser wohl frühesten Messe mit mehr als neun Stimmen noch nicht gegeben, sie werden meistens in drei oder vier Gruppen geführt (ähnlich wie bei den vielstimmigen Motetten Okeghems und Josquins; eine wohl sehr zeitnahe Parallelerscheinung ist Carvers Festmesse). Bei relativ dichter Stimmenführung auch zwischen diesen Gruppen entsteht ein beinahe permanenter Klangstrom, der an die Generation um Gombert erinnert, der im Agnus Dei seiner "Missa tempore paschali" unmittelbar auf Brumel rekurriert. Brumels Priorisierung von Klangwirkungen bei kleinräumlicher, konstanter Stimmenbewegung ist denn wohl ein Aspekt, der selbst einen Steve-Reich-erfahrenen Progpophörer nicht unbedingt verschrecken dürfte.

  • Beide Aufnahmen habe ich auch, und beide habe ich auch 50x gehört. Trotzdem kommt man da ja nie ans Ende. Der Unterschied von der Polyphonie zur Klassik ist bei mir wie der Unterschied einer Rheinreise zu einer Fahrt auf der See.
    Eine Rheinreise ist immer schön, aber eine Fahrt auf der See ist immer gleich, aber nie gleich.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Hallo docteur, zu welchem Franzosen oder Flamen sollte denn der nächste thread folgen? [Ich warte übrigens noch immer auf Gombert :P ]


    :hello:

  • Lieber Gombert, danke für diesen schönen Beitrag !


    Ich kannte Brumel nur dem Namen nach. Die von dir am Ende erwähnte Messe fand ich sofort in Youtube an. Ich finde man kann dies mit Josquin einfach gar nicht vergleichen ! Das sind (obwöhl die selbe Generation) zwei Welten. Josquin hat für mich einfach mehr Strahlkraft. Brumel jedoch baut sich eine regelrechte Klangarchitektur. Das hat mit Polyohonie nur am Rande zu tun. Es gibt manche Beispiele für solche Phänomene, wo die Polyphonie, wenn man einzelne Stimmen nicht mehr verfolgt, plötzlich zu einem fast "homponen" Gewebe wird. Über die Art und Qualität des Einsatzes polyphoner Techniken in diesen Werken kann man ohne Notenmaterial kaum sehr viel sagen. Jedoch: eine schöne Entdeckung für mich !


    @ Dr. Pingel: Dieser Vergleich ist für mich nicht gut nachvollziehbar. Was bevorzugst du nun ? Fluss oder Meer ?

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Es gibt Naturphänomene, die auf uns immer gleich wirken, obwohl sie ganz verschieden sind, das ist das Feuer und das Meer.
    In der Musik ist das für mich die Polyphone und in der Moderne die Minimal Music. Das Betrachten oder das Hören erzeugt in uns Entspannung bis hin zur Trance. Anders sind Landschaften, die etwas "erzählen", etwa der Rhein oder einer dieser neuen Wandersteige. In der Musik ist dies vor allem die Klassik, etwa die Sinfonien Beethovens. Hier gibt es Spannung und Entspannung; wir verfolgen eine Geschichte, ganz so wie es die Kinder tun, wenn man ihnen ein Märchen vorliest.
    Beides sind für den Menschen sinnvolle Erlebnisweisen. Es gibt sogar Konstrukte, in die künstlich eine Spannung eingebaut werden muss, damit der mensch aufmerksam bleibt: Autobahnen oder Highways. In Amerika gibt es Problem der "highway drowsiness", besonders wenn man mit "speed control" fährt.
    Gombert: ich habe nur diese eine CD mit dem Ensemble Alamire, mehr kann ich zu Gombert gar nicht sagen. Bachiana und du seid doch da die Experten und sollten mir einen Plattentipp für Gombert geben.

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  • Zitat

    Brumel jedoch baut sich eine regelrechte Klangarchitektur. Das hat mit Polyohonie nur am Rande zu tun. Es gibt manche Beispiele für solche Phänomene, wo die Polyphonie, wenn man einzelne Stimmen nicht mehr verfolgt, plötzlich zu einem fast "homponen" Gewebe wird.

    Liebe Bachiania, schön dass dieses Werk Dein Interesse findet. Es dürfte tatsächlich keine ähnlich frühe Renaissancemesse geben, für die sich o.g. den gesamten Verlauf des Werks betreffend behaupten liesse. Nicht unwahrscheinlich, dass Brumel eine so einfache Vorlage als explizite Herausvorderung ausgewählt hat, die v.a. im klanglichen Füllen der einfachen Harmonie besteht. Polyphonie manifestiert sich hier tatsächlich in Form kurzer Sequenzen und Phrasen. Gegen die Auffassung, dass dieses Werk mit "Polyphonie nur am Rande zu tun hat" spricht allerdings die kreative Rezeption der nachfolgenden Generation, die Brumels Messe als eine der Grundlagen für den weiteren Ausbau der polyphonen Möglichkeiten nutzte. Dazu gehört die Ausweitung der Stimmenzahl bei kleinräumlicherer polyphoner Bewegung und enger Stimmenführung - dies führt weniger zu einem verstärkten Aufkommen ausgeprägter Homophonie als vielmehr zu einer Verdichtung der Polyphonie, deren Gewebe dadurch aber undurchsichtiger wird.



    Zitat

    Über die Art und Qualität des Einsatzes polyphoner Techniken in diesen Werken kann man ohne Notenmaterial kaum sehr viel sagen.

    Leider scheint mal wieder keine aktuelle Partiturausgabe greifbar. Beste klangliche Nachvollziehbarkeit auf Tonträgern offerieren die Tallis Scholars. Bei doppelter Besetzung bieten sie höhere Transparenz und noch etwas präzisere Intonation als die einfach besetzten Huelgas, obwohl auch dies eine schöne Aufnahme ist. In der Einspielung mit Dominique Vissé wirken die Saqueboutiers de Toulouse verunklarend. Die frühe Aufnahme von David Munrow kenne ich nicht.


    Lieber docteur, blicke doch einmal in den Tudorthread. Ich wäre übrigens immer noch bereit, einige meiner zukünftigen Beiträge wenigstens thematisch mit Deiner "Renaissancereise" zu koordinieren. Der Besitz nur einer einzigen Gombert-CD ist ein unhaltbarer Zustand, dem abgeholfen werden muss ;) !


    Nicht auf CD erhältlich ist dieser Mitschnitt eines Konzert des Huelgas Ensembles:


    /H8sTnhvKx8o



    Hier in Salamanca werden die beiden Kathedralen in wenigen Minuten den Ostersonntag einläuten.
    Mit dieser Ostermesse wünsche ich allen Taminos ein schönes Fest!
    :hello:

  • [quote]
    Hier in Salamanca werden die beiden Kathedralen in wenigen Minuten den Ostersonntag einläuten.
    Mit dieser Ostermesse wünsche ich allen Taminos ein schönes Fest!
    :hello:


    DU BIST IN SALAMANCA? Und das zu Ostern?
    Ich kenne fast ganz Deutschland, fast ganz Norwegen und Schweden, fast ganz Frankreich und fast ganz Spanien, alles aus unzähligen Wohnmobiltouren. Salamanca ist die schönste Stadt, die ich kenne, und die Plaza Mayor die schönste plaza, noch vor der in Siena.
    Mit unseren threads ist es doch einfach: wir müssen sie nicht zusammenlegen, du schreibst in meinem, ich schreib in deinem. Und denk immer dran: deine und bachianas theoretischen Ausführungen sind ein Buch mit 7 Siegeln für mich.
    Wie sieht es in Salamanca mit den Spaniern aus? Victoria, Guerrero?
    Ich freu mich schon, wenn ich auf meiner Reise dorthin komme.

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  • Ach, lieber Dr. Pingel !


    Zum Thema "Buch mit sieben Siegeln": Genau dieses ist mein Wunsch: jenen, die nicht den Vorteil haben, musiktheoretisches Wissen vermittelt bekommen zu haben, zu zeigen, was ein tieferes Verständnis der Musik bewirkt und vielleicht die Sicht auf manche Stücke überhaupt ändert ! Und ich meine, das kann man auf jeden Fall auch jemandem erklären, der "nur" Intelligenz und Verständnis und keine diesbezügliche Vorgeschichte besitzt !


    Bitte, lass es mich in diesem Falle einmal versuchen ! (Und bitte verzeih, falls ich jetzt Dinge erkläre, die du bereits weißt !)


    Das Ideal der vokalen Musik des 16. Jahrhunderts war, das alle Stimmen im Chor immer mehr zu UNABHÄNGIGEN Stimmen wurden. Also jede Stimme singt ihre Melodie, die im Grunde auch OHNE die anderen Stimmen einen (gewissen) Sinn machen würde. Und TROTZDEM klingen alle Stimmen gemeinsam auch oder gerade ZUSAMMEN wunderbar. Dies nennt man POLYPHONIE.


    Der besondere "Kick" für die Komponisten bestand nun darin, den einzelnen Stimmen selbst auferlegte Beschränkungsregeln zuzuweisen, die es dann natürlich enorm erschwerten, eine Lösung zu finden, die gleichzeitig den Regeln ensprach UND einen musikalischen Sinn ergab. So wurde meistens für einen Satz (oder eine ganze Messe) eine Melodie zugrundegelegt (die man Cantus Firmus, oder abgekürzt c.f. "festen Gesang" nannte), und die in allen möglichen Gestalten auftauche, jedoch immer noch erkennbar und vorhanden war.


    Man kann sich das also so vorstellen, als wenn viele Menschen gleichzeitig aber nicht synchron ein Gedicht aufsagen und der Dichter es so gestaltet, dass es nicht nach Kauderwelsch klingt !


    Bach hat diese Technik, die zu seiner Zeit genau genommen schon fast überholt war, dann bis in die allerhöchste Kunstfertigkeit verfeinert.


    In der erwähnten Messe "Missa Et ecce terraemotus" von Brumel verwendet der Komponist zwölf Stimmen. Natürlich ist es unmöglich, zwölf völlig unanbhängige Stimmen zu erfinden und gleichzeitig klingen zu lassen. Das Höchste, was Bach gelang, waren 6 Stimmen, und dieses grenzt an ein Wunder !


    Während der c.f. in der Regel von drei Stimmen gesungen wird, werden den übrigen kleinteilig verschachtelte polyphone Motive zugewiesen, so das sich der Klangsatz in dauender Fluktuation befindet. Auf klangmalerische Weise steht der Zuhörer auf schwankendem Boden. Eine echte Unabhängigkeit aller Stimmen ist bei dieser wohl frühesten Messe mit mehr als neun Stimmen noch nicht gegeben, sie werden meistens in drei oder vier Gruppen geführt


    Also hat er die Stimmen zu Gruppen zusammengefasst. Und nun geschieht das Folgende: Diese Stimmengruppen sind zwar unabhängig gedacht und komponiert, weil aber immer abwechselnd in verschiedenen Stimmen die gleichen Tonkombinationen oft wiederholt werden, entsteht so eine Art "Klangteppich". Der Hörer kann keine einzelnen Stimmen mehr unterscheiden und alles wird zu einem "Klanggemälde".



    Es gibt manche Beispiele für solche Phänomene, wo die Polyphonie, wenn man einzelne Stimmen nicht mehr verfolgt, plötzlich zu einem fast "homponen" Gewebe wird.


    Was ich meinte war, dass es auch anderswo solche Beispiele gibt. Lies einmal meine Eintrag zur Jupitersymphonie (Beitrag 188), wo ich zeige, dass Mozart Polyphone Techniken anwendet und in den Schlusstakten FÜNF sehr unterschiedliche Themen gleichzeitig erklingen lässt (was faktisch fast unmöglich ist). Man kann beim Hören diese Themen in den einzelnen Stimmen verfolgen und beim nächsten Hören "umschalten" und nur das Gesamtgewebe: ein fröhliches klassisches Stück hören !


    Doch zurück zur Renaissance: Ich vermute, dass die Komponisten immer beides im Auge hatten: ausgefeilte Techniken anzuwenden, um die selbst gestellte Aufgabe zu erfüllen, was man als aufmerksamer Hörer durchaus erkennen und verfolgen dürfen sollte, UND gleichzeitig eine Klangwirkung zu erzielen, die Menschen packt und berührt.


    Nicht unwahrscheinlich, dass Brumel eine so einfache Vorlage als explizite Herausvorderung ausgewählt hat, die v.a. im klanglichen Füllen der einfachen Harmonie besteht. Polyphonie manifestiert sich hier tatsächlich in Form kurzer Sequenzen und Phrasen.


    Brumels Messe versucht nicht, besondere Techniken anzuwenden, sondern konzentriert sich voll auf die Klangwirkung.


    Wie schön wäre es, solche Zusammenhänge in einem gemütlichen Gespräch an einem langen Abend zu erläutern ! (wobei ich die wohl theologisch su ausquetschen würde, dass ich zur Musik gar nicht käme ...)


    Und Gombert: mich würde interessieren, welche musikalische Vorbildung du hast ! Bist du Musiker ? Und: was in der Welt machst du in Salamanca ! Verrate uns ein paar Details (hier an recht privater Stelle...).



    Viele herzliche Ostergrüße an euch beide (und alle anderen !)


    Bachiania

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    (Sir Isaiah Berlin)

  • Liebe bachiana,
    danke für diese Erklärungen, von denen ich viele auch schon intuitiv durch intensives Singen und Hören erfasst hatte. Mein Einstieg in die Polyphonie war das Singen der Missa Papae Marcelli von Palestrina (2. Tenor). Die hat mich süchtig gemacht. Eine solche Musik ist eine große Herausforderung für jeden Sänger, weil er beides leisten muss: seine Stimme fehlerfrei zu singen (wehe, man kommt raus) und den Gesamtklang im Auge zu behalten. Verstanden hatte ich auch, dass Josquin musikalisch differenzierter ist und Brumel mehr den Klangteppich will, was beides seinen Reiz hat. Wie die Komponisten das theoretisch gemacht haben, ist interessant, aber für mich doch zu hoch. Und ich möchte das auch nicht mehr lernen! Es ist wie mit der Sekundärliteratur in der Germanistik; die hindert einen nur, mehr Primärliteratur zu lesen (nicht, das man da auch ab und zu was Schlaues liest).
    Deswegen bitte ich dich und Gombert, weiter hier zu schreiben, ich profitiere sehr davon. Auch sollten wir weiter CD-Tipps austauschen. Dazu kann ja auch mein thread "Alte Musik und Neue Vokalconsorts" dienen

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  • Lieber Dr. Pingel,


    für CD Tipps bin ich nicht der richtige Ansprechpartner. Mir scheint, hier ist Gombert der Experte ! Ich höre die meiste Musik über Youtube. Doch auch dort kann man natürlich wunderbare Dinge finden !

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  • Liebe Bachiania, lieber dr.pingel, hier eine Anmerkung zu Beitrag 9, mit dem Wunsch verbunden, für alle weitgehend verstaendlich zu bleiben


    Besonders in der Zeit nach Josquin hat man auch Werke mit mehr als vier unabhaengigen Stimmen geschrieben. Im Falle von Striggios vierzigstimmiger Motette scheinen die zehn Stimmgruppen noch weitgehend paarweise gefuehrt zu werden - ich kenne hier die Noten nicht. Tallis "Spem in alium" habe ich allerdings schon gesungen, hier gibt es Momente, in denen alle acht Cori auseinandergefaechert werden - zwar singen diese Gruppen keine jeweils wirklich eigenstaendige Themen, doch liesse sich durchaus von einer zeitweisen, partiellen Unabhaengigkeit sprechen - wenn auch nicht im Sinne der Coda des "Jupiter"finales. Problematisch ist hier z.T. die genaue Unterscheidung zwischen Homophonie und Polyphonie, es laesst sich aber mindestens eine Gleichberechtigung aller Stimmen konstatieren.


    Mit der sogenannten "Vierten Generation der Franco-Flamen" [diese Umschreibung ist im deutschssprachigen Raum wohl nicht gelaeufig?] fallen jedoch auch Kompositionen an, in denen man mMn klar von - passagenweise - bis zu sechs unabhaengig verlaufenden Stimmen sprechen kann. Natuerlich erfolgt dies nicht auf so weitraeumige und durchchoreographierte Weise wie beim "Musikalischen Opfer". Doch bei allen Unterschieden zur Bachschen Formenwelt führt beispielsweise Nicolas Gomberts extrem durchimitierender Stil mitunter zu quasi "protofugalen" Erscheinungen (nicht sechstimmigen...). Etwas spaeter schreibt etwa Palaestrina bereits Formen, die i.A. als Fugen anerkannt werden.


    Nebenbemerkung: dr.pingel hat juengst leidenschaftlich dafuer plaediert, Bach primaer als aus der Tradition der Alten Polyphoniker kommend zu betrachten. Ich folge ihm dahingehend, dass seit dem Josquinfan Luther die Klassiker noch bis in fruehe 18. Jahrhundert hinein eine Rolle in der (ja tendenziell konservativen) Ausbildung evangelischer Kirchenmusiker spielten. Motetten des 16. Jahrhunderts waren auch in Bachs Leipziger Amtszeit regelmaessiger Bestandteil der Gottesdienste. Zudem hat Bachs "kontrapunktischer Ehrgeiz" Dimensionen, die jene Masstaebe der aelteren Zeitgenossen, eines Buxtehude, Froberger und auch eines Fux sprengen - seit dem Ende des 16. Jahrhunderts war dergleichen eigentlich unbekannt.


    Da nun bereits doppelt gefragt wurde: fuer gewoehnlich gehe ich in Salamanca (und abwechselnd in Valladolid) meiner Beruftstaetigkeit nach, pendele aber gegenwaertig zwischen Deutschland und Altkastillien. Also keine Osterferien - hier war dr.pingels Wohlwollen gegenüber den oertlichen Schoenheiten troestlich. Nun, Bachianias Salzburg ist ja auch nicht gaenzlich unansehnlich... . Die Frage zu meiner musikalischen Vorerfahrung werde ich dann wohl in des Doktors Sozialisationsthread "Was singe ich gerade?" beantworten.


    Gruesse!

  • Lieber Gombert !


    Mit der sogenannten "Vierten Generation der Franco-Flamen" [diese Umschreibung ist im deutschssprachigen Raum wohl nicht gelaeufig?]


    Doch, wir nennen dies "Franko-Flämische Vokalpolyphonie"


    Problematisch ist hier z.T. die genaue Unterscheidung zwischen Homophonie und Polyphonie, es laesst sich aber mindestens eine Gleichberechtigung aller Stimmen konstatieren.


    Genau dieses ist ein hochinteressanter Punkt: Wo endet Polyphonie und wo beginnt Homophonie ? Ich meine eben, dass dies nicht zuletzt auch von der WAHRNEHMUNG des Hörers abhängt ! Wie ein Vexierbild kann hier manchmal der Klang "umschlagen" und mit einem Male als Klangteppich wahrgenommen werden, wo man zuvor noch einzelne Stimmen identifizierte.



    Gombert, da du dich in der frühen Musik so gut auskennst, frage ich dich hier noch etwas (da ich dich anders nicht erreichen kann). Wir sprechen gerade in diesem Thread hier ab Beitrag 198 über die Kyrie-Fuge des Mozart Requiems. Kennst du aus einer Zeit deutlich vor 1741 bzw. aus dem 17. Jahrhundert ein polyphones Thema oder Fugenthema, das dem Kyrie Thema aus dem Requiem ähnlich oder zumindest im Typus sehr verwandt ist? Zweiterbass fragte, ob Bach dieses Thema (siehe Fuge a-moll, WTC II) eventuell auch von anderswo übernommen haben könnte. Ich meine, dass dieser Typus eher nicht aus dem 17. Jahrhundert stammt.


    Ich freue mich auf deine Antwort !


    Viele Grüße,
    Bachiania

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  • Nachsatz (Nachfrage): Gibt es hier keinen Thread zum Komponisten Gombert ? Oder habe ich ihn nur nicht gefunden ?

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  • Der wird bald kommen - ich warte noch auf eine CD-Lieferung - und dann hoffe ich, Noten kostenfrei downloaden zu können.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Großartig! Ich freue mich darauf!


    Bachiania


    P. S. Hier habe ich auf die Schnelle ein paar gefunden: Imspl Gombert

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  • Auf die bin ich auch schon gestoßen, hast Du weitere Quellen? Wenn ja, bitte mitteilen - dafür danke.
    Viele Grüße
    zweiterbass

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  • Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
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  • Zitat

    Mit der sogenannten "Vierten Generation der Franco-Flamen" [diese Umschreibung ist im deutschssprachigen Raum wohl nicht gelaeufig?]

    Zitat

    Doch, wir nennen dies "Franko-Flämische Vokalpolyphonie"

    :D
    Gemeint war eigentlich "Fourth Generation". Ich habe jüngst die Erfahrung gemacht, dass dieser Begriff in Deutschland nicht tradiert zu sein scheint (?). Im UK werden darunter die Autoren verstanden, die ihre überlieferte Kompositionstätigkeit ungefähr in jenem Jahrzehnt begannen, in dem Josquin starb (Manchicourt, Gombert, Cipriano etc.).



    Zitat

    Gibt es hier keinen Thread zum Komponisten Gombert ?

    Zitat

    Der wird bald kommen

    Na endlich...!


    Ich werkele gerade an an einem thread über die besagte Vierte Generation, die jenseits der Wissenschaft arg vernachlässigt wird - da käme dieser Komponist also auch vor. Doch verdient er unbedingt einen eigenen thread!
    Danke für die Links, auch mir waren nicht alle Adressen bekannt. Eigentlich mag ich keine digitalen Partituren, wenn aber keine Alternative vorliegt...



    Ein umfassender Fugenthread könnte mir gar nicht entgehen ;) , ich hatte Mozart betreffend bereits eine ins späte 17. Jahrhundert verweisende Assoziation, werfe zunächst aber lieber einen Blick in die Noten. Bachianias Talent für Themenidentifizierung ist grösser; ich lag in ähnlichen Fällen schon beträchtlich daneben :pfeif: .

  • Doch, auch wir systematisieren die Franko-flämische Schule in fünf Generationen. Für die vierte, also die Generation Gomberts, wird Adrian Willaert als führender Kopf gesehen. Aber auch aus meiner Sicht ist diese Generation ein wenig vernachlässigt zwischen Josquin und Palestrina.


    Ich freue mich sehr, wenn du darüber schreibst. Vielleicht wäre überhaupt ein Thread interessant, der die Entwicklung der Mehrstimmigkeit auch aus kompositorischer Sicht entlang der Generationen darstellt. wir müssten uns hier nur absprechen damit keine Arbeit doppelte verrichtet wird.


    herzliche Grüße!

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  • Brumel Vertonung der Totenmesse ist eine der ältesten (nach Ockeghem und de la Rue), zudem das erste Requiem, welches dem römischen Ritus folgt. Dadurch stand Brumel vor der Aufgabe, auch die Sequenz zu vertonen. Das Dies irae ist alternatim gesetzt, wodurch der Komponist das Problem reduzierte, die Melodie über einen zwanzigstrophigen Text hinweg verarbeiten zu müssen. Bezeichnend für den Charakter des vierstimmigen Werks ist der einfache akkordische Satz mit wenig melodiöser Bewegung, Imitation oder Melismen. Brumel gehört also zu jenen Komponisten, welche die "hermeneutischen" Probleme dieser neuen Gattung durch demonstrative Schlichtheit zu bewältigen suchten. Bei aller historischen Bedeutung diese Stücks erscheinen andere zeitnahe französische Werke musikalisch ansprechender. Hervorzuheben ist das expressivere Stück von Antoine de Févin und das klangschöne Requiem von Jean Richafort.



















    Übrigens war Brumel auch in seinen Lamentationen eher Wegbereiter für die grossen Werke der zweiten Jahrhunderthälfte. Dennoch hörenswert:


    /zd_A0_gv0j8

  • Ich habe vorgestern Brumels Erderschütterungsmesse mal wieder gehört. Eventuell kann man sich auch an Perotin erinnert fühlen, wenn längere Tenortöne filigran überwuchert werden? Jedenfalls sind die einzelnen Teile der Messe hinreichend unterschiedlich gestaltet, dass es nicht langatmig wird.