Zenit der Polyphonie? - Die westeuropäische Musik nach Josquin

  • Josquin ist tot! Diese Nachricht dürfte sich 1521 - den Umständen entsprechend - rasch unter den Komponisten Westeuropas verbreitet haben. Dank der kompositorischen Meisterschaft, aber wohl auch Dank geschickter Selbsvermarktung und -stilisierung, war Josquin Desprez bereits zu Lebzeiten eine Ikone. So wie Ockeghem auf Busnois und Josquin auf Ockeghem, so schrieben auch zahlreiche Komponisten Trauerstücke und Nänien mit Bezug auf Josquins Ableben b.z.w. seinen nunmehrigen Nachruhm. Mit Josquin endet die Musikgeschichte bekanntlich nicht. Doch sind nur wenige Komponisten aus der Zeit zwischen Josquin und Palaestrina der breiteren Musiköffentlichkeit bekannt. Jenen, die Josquin Tod in ihren Werken beklagten und ihren Kollegen aus dieser "Vierten Generation der franko-flämischen Vokalpolyphonie" gebührt zweifellos mehr Aufmerksamkeit, als ihnen gemeinhin zukommt. Tatsächlich dürften in der europäischen Musikgeschichte eher selten so viele vorzügliche Komponisten gleichzeitig aktiv gewesen sein. Während die seit der Zeit Dunstables und Dufays entwickelten polyphonen Techniken, noch frei von tridentinischen Beschränkungen, zu einem weiteren Zenit geführt wurden, gab es neuartige harmonische Entwicklungen und bislang unbekannte Formate, die schliesslich den Weg in die Barockzeit weisen sollten. Einige der für diese Entwicklung verantwortlichen Musiker sollen hier vorgestellt werden.


  • Die umfassendste überlieferte "Totenmusik" mit Bezug auf Josquin verfasste Jean Richafort, wahrscheinlich Mitglied der Hofkapelle von Francois I., in Form seines Requiems. Besagter Bezug ergibt sich durch die (im Graduale und Offertorium teilweise gleichzeitige) Verwendung zweier canti firmi, dem von Desprez häufig verwendeten gregorianischen Thema "Circumderunt me gemitus mortis" und der Pharase "C'est douleur sans pareille" aus Josquins Chanson "Faulte d'argent". Daher wird angenommen, dass dieses Werk unmittelbar für Josquins Totenfeier bestimmt gewesen sein könnte. Ein oberflächlicher Blick auf die Noten lässt zunächst fragen, ob die schlicht anmutende Messe dem Grossmeister Josquin gerecht werden könne. Tatsächlich sind die c.f. aber so kunstvoll und diskret verarbeitet, dass sie zunächst kaum wahrnehmbar sind. Unter den frühen, notwendigerweise noch experimentellen Requiemvertonungen eröffnet Richafort einen neuen Weg. Bewegten sich die wenigen erhaltenen älteren Werke zwischen betonter Schlichtheit [Brumel], der Entfaltung dunkler Farben [de la Rue] oder einer verhältnissmässig aufgewühlten Expressivität [de Fevin], bieten Richaforts weiche, fliessend verarbeiteten Melodien von gregorianischer Themenanmutung eine tröstlich-meditative Klangschönheit. In diesem Punkt dürfte Richaforts Messe von keinem der zahlreichen späteren Werke mehr übertroffen worden sein.


    Zeitlich gesehen steht Richafort zwischen der Dritten und Vierten Generation der franko-flämischen Vokalpolyphoniker. Auch seine Herkunft ist ungewiss. Eine Quelle bezeichnet ihn als Franzosen, eine andere als Niederländer. Jenseits dieser nur mässig sinnvollen Kategorien gehört Richafort musikhistorisch gesehen durchaus in die Nähe der Nach-Josquin-Komponisten, da er gemeinsam mit anderen Musikern am französischen Hof, wie etwa Mouton, Fevin oder Divitis entscheidend an der Entwicklung der Typs der jüngeren Parodiemesse beteiligt gewesen sein dürfte, die für die Jahre zwischen Josquin und Palaestrina so bedeutsam war. Ein schönes, vermutlich frühes Beispiel ist die "Missa O genitrix gloriosa", die mit zwei Agnus Dei (a 4 und a 2) endet.


    Richaforts Motetten sind vielgestaltig. Während z.B in "Laetamini in Domino" sich die vier Stimmen so intensiv kreuzen, dass die erste Stimme schliesslich unter der vierten landet, bewegt sich in "Sufficiebat nobis paupertas" die Oberstimme wenig und bildet stattdessen eine Art Fundament für die drei übrigen. In entschiedenem Gegensatz zu diesen polyphonen Kabinettstücken stehen launige, deutlich pariserisch angehauchte Chansons wie "Tru tru trut avant". Für die allgemeine Wertschätzung des Komponisten sprechen die adaptierten canti firmi, die sich in Werken von Lupus, Divitis, Ruffo, Palaestrina sowie zweimal bei Nicolas Gombert finden.


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  • Wie Richafort verwendet auch Nicolas Gombert, seit 1525/26 Teil der Hofkapelle Kaiser Karls V., "Circumderunt me" als cantus firmus seines Werks auf Josquin ("Musae Jovis"). Folgt man den Angaben Ludwig Senfls, hätte Gombert hier seinen Lehrer betrauert. Nun müsste Josquin, hält man alle Quellenaussagen für valide, hochgerechnet mindestens hundert Schüler gehabt haben - in Gomberts Fall gewinnt diese Möglichkeit jedoch eine Art "innere" Plausibilität, denn kein Komponist der Nach-Josquin-Generation dürfte dem Meister musikalisch so nahe gekommen sein. Gemein sind diesen Komponisten die Vorliebe für ausgeglichene Gesamtproportionen und demonstrative kontrapunktische Meisterschaft. Bemerkenswert ist allerdings, dass Gombert neuartigen expressiven Ausdruck aus besagter Meisterschaft entwickelt, indem er wahre Kontrapunktikstürme entfacht, die in immer neuen Böen durch etliche seiner Werke fegen. Dabei wird die josquinsche Tonsatzstruktur teilweise aufgegeben. Stattdessen entsteht ein kontinuierlicher, dichter Klangstrom mit ausgedehnten Themen, der in einer Art horror vacui kaum Pausen oder ähnlich deutliche Zäsuren kennt. Allerdings lässt sich ein gewisses "rhetorisches" Format in der Führung der dezidiert unabhängigen Stimmen konstatieren.


    Senfl charakterisiert Gomberts Stil treffend: "is enim vivat pausas et illius compositio est plena cum concordantiarum tum fugarum". Die beinahe ununterbrochene Durchimitation aller Stimmen ist sicherlich das charakteristischste formale Merkmal der Musik Gomberts. Oftmals wird jede textbezogene Sinneinheit mit einem punctum imitationis versehen, der nicht nur vollständig durchimitiert, sondern auch in Gruppen geordnet wird - die Musik ist hier also auf ungewöhnlich abstrakter Ebene "Bedeutungsträger". Wenn sich etwa aus einer Kadenz eine einzelne Stimme löst, zu der sich nach und nach weitere imitierend gesellen, entsteht selbst aus heutiger Sicht jener fugenartige Eindruck, den Senfl beschreibt.


    Ältere cantus-firmus-Formen oder Kanons sind Gomberts Werk weitgehend fremd. (In bestimmten Fällen, wie etwa den Huldigungsmotetten an das "casa austria", werden allerdings doch "überholte" Formen, wie eben der soggetto-c.f. verwendet. Dies geschieht dann in einer betont retrospektiven, fast schon "postmodernen" Weise.) Bei bemerkenswerter harmonischer Progression sind unzählige Querstände charakteristisch. Größere Intervalle werden nicht selten durch gleitende Sekundenschritte ausgefüllt. Gemeinsam mit häufigen Sextvorhalten ergeben sich werkprägende Dissonanzen. In den zwanziger und dreissiger Jahren bildeten diese expressiven Werke sozusagen die Speerspitze der nachjosquinschen Avantgarde. Obwohl Gombert also bislang ungehörte und vielleicht auch unerhörte Klänge schuf, kann er gleichzeitig als konservativ gelten. Im Vergleich mit jüngeren (de Rore) oder älter gewordenen (Willaert) Zeitgenossen verschliesst er sich aufkommenden präbarocken Neuerungen. Die Chromatik von Ciprianos Madrigalen findet sich nicht in Gomberts Oevre - er scheint auch keine verfasst zu haben. Dies mag sich noch aus seiner zeitlichen Stellung ergeben, doch ist es auch bezeichnend für diesen Meister der Abstraktion, der das Motto "prima le parole" vermutlich niemals unterschrieben hätte. Auch der seit den vierziger Jahren zunehmend aufkommende Einbau homophoner Passagen zur Auflockerung der polyphonen Textur ist eine Mode, der Gombert nicht folgt. Sein gesamtes Oevre bleibt gekennzeichnet durch stark verdichtete, eng geführte Polyphonie. Die Vorliebe für Syllabik, primär klanglich bedingte Expression sowie ein dunkles Klangbild teilt Gombert mit spanischen Komponisten wie Guerrero und v.a. Morales, in deren Heimatland er sich, Karl V. begleitend, über längere Zeit hinweg aufhielt.


    Besonders bezeichnend für diese der traditionellen Polyphonie zugewandten Haltung sind Gomberts Chansons. Wahrend die "authentische" Pariser Schule auf liedhafte Schlichheit und Bildhaftigkeit setzte, verblieben die "niederländischen" Komponisten bei eher althergebrachter Vielstimmigkeit. Unter den von Tilman Susato in Antwerpen verlegten Kompositionen erscheinen besonders Gomberts Stücke motettenhaft und kontrapunktisch durchgearbeitet. Einige dieser Chansons basieren auf Werken Josquins. Die hier ausnahmsweise angewandte Kanontechnik dürfte wieder als betont retrospektiv verstanden werden. Manchen leichten und heiteren Werken ist die Unmittelbarkeit eines Janequin sicherlich angemesser als die Elaboriertheit Gomberts- zum Vergleich lädt "Le chant des oyseaux" ein [Janequins Fassung findet sich unter "Cover zu Schiessen", Beitrag 1143].


    Dass Gombert selbst in den Chansons bis zu sechs Stimmen führt, belegt letzlich, dass Motetten und Messen der Ausgangspunkt für Gomberts formales Denken war. Anders als bei der Josquin-Generation sind rund zwei Drittel der Werke dieses Komponisten mindestens fünfstimmig angelegt, die Stimmenzahl kann bis auf zwölf steigen. Sicherlich war Brumel auch einer der ersten Komponisten, der auf gänzlich überzeugende Weise sechs unabhängige Stimmen gleichzeitig über längere Strecken polyphon zu führen verstand. Ein Vergleich mit Bach ist also durchaus naheliegend. Neben den protofugalen Formen und der exzessiven Kontrapunktik erinnert auch Gomberts retrospektive Zusammenfassung eines ganzen Zeitalters an den Eisenacher. Rückblickend mag man Nicolas Gombert - unter Ausklammerung des Renaissancebegriffs - als letzten bedeutenden Komponisten des Mittelalters bezeichnen, der die tradierte Polyphonie und Harmonie an Grenzen führte, die nur mehr durch präbarocke Mittel überschritten werden konnten. Als sich Claudio Monteverdi in seiner archaisierenden Missa In illo tempore ein letztes Mal vor den Alten Meistern der Polyphonie verbeugte, wählte er nicht umsonst eine Vorlage dieses Komponisten aus.

  • Die Aufführung der Werke von Nicolas Gombert ist stets mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Einerseits benötigt die dichte Polyphonie mit den eng beieinander geführten Stimmen grösstmögliche Transparenz und Intonationssicherheit. Andererseits erfordert die dunkle, teilweise dissonant geprägte Expressivität einen Ausdruckswillen, der technische Sicherheiten konterkarieren kann, mitunter gar muss. Daher ist es kein Wunder, wenn keine uneingeschränkt gelungene Aufnahme zu existieren scheint, dennoch findet sich manch Empfehlenswertes.



    Das bekannteste Choralordinarium ist die "Missa Tempore paschali", die sechstimmig konzipiert ist. Im Credo steigt die Stimmenzahl auf 8, im Agnus Dei schliesslich auf 12, so viele wie in Brumels "Missa Et ecce terraemotus", aus welcher der cantus firmus entnommen ist. Diese Messe liegt m.W. in zwei brauchbaren Einspielungen vor. Odhecaton rekonstrieren musikalisch die Kaiserkrönung Karls V., wobei weitere grossangelegte Werke Gomberts erklingen, die erwähnte Motette "In illo tempore" sowie das zwölfstimmige "Regina coeli". Die Klangpracht steht bei diesem typisch italienisch klingenden Ensemble im Vordergrund, aber San Petronio in Bologna war/ist nun einmal ohnehin eine sehr hallige Kirche. Ein klein wenig durchhörbarer geht es bei Henry's 8 zu, die v.a. fünfstimmige Motetten hinzufügen. Einen guten Überblick über weitere Motetten bietet die ältere Aufnahme der britischen Gruppe, um das achstimmige Credo herum gruppiert. Die Intonationsicherheit ist hoch, absolute klangliche Homogenisierung ist aus mehr als nur akzeptablen Gründen nicht das oberste Gebot.




    Das Brabant-Ensemble widmet sich den berühmtesten kleiner besetzten Motetten. Da dies bei trockenen akustischen Verhältnissen geschieht, bietet diese Einspielung die grösste Transparenz unter allen fraglichen Aufnahmen. Während die zuvor genannten Gruppen all-male-Ensembles sind, ist der von Rice geleitete Chor gemischt besetzt. Trotz stetigem tactus werden Werke wie "Tribulatio et angustia" oder "Hortus conclusus" detailliert durchgestaltet. Wegen die notwendige Transposition geht sicherlich etwas vom ursprünglich intendierten Klang verloren. Auch wenn manches fast asketisch wirkt, die technischen Fähigkeiten des Chores und die hinsichtlich der harmonischen Gestalung überzeugende "Musica ficta" (der Chorleiter hat über den Komponisten promoviert) sprechen für sich.



    Acht Magnificat verfasste Gombert, jedes in einer anderen Kirchentonart. Bemerkenswert ist darunter "Tertii et octavi toni" - mit jedem Vers steigt die Zahl der Stimmen. Alle liegen in einer Aufnahme der Tallis Scholars vor. Hier zeigen sich allerdings die Ausdrucksgrenzen dieses makellosen Ensembles. Neben der unvermeidlichen Transposition (die Werke wurden ja nicht für eine SATB-Besetzung verfasst) setzt Peter Phillips die Regeln der "Musica ficta" auf äusserst glättende Weise um. Unter den "Grossen Namen" ist das Huelgas Ensemble daher der empfehlenswertere, Paul van Nevel sei Dank. Hier ist eine sechstimmige Messe um mehrere Motetten und Chansons bereichert. Die Probleme bei den Einspielungen von "The Sound and the Fury" sind jenen der Tallis Scholars quasi diametral entgegengesetzt. Überschneidungen in Hinsicht auf die enthaltenen Werken lassen sich bei den empfohlenen Aufnahmen übrigens nicht vermeiden.



    [Lieber dr.pingel, bei weiteren Fragen bitte melden!]

  • Dass ich hier fast meinen eigenen thread bekomme, den ich nicht selbst verfasst habe, ehrt mich sehr. Tausend Dank! Fragen werde ich erst mal nichts, denn ich sehe, dass ich mit Gombert noch mal anfangen muss. Aber das ist ja eine Last, die man gerne trägt, und ein Beispiel dafür, dass ich in meiner Musikgeschichte noch einmal zurückgeworfen werde, was mir gut gefällt.
    Die Richafort-CD der King´s Singers habe ich schon durch; ich war erstaunt, welches Niveau auch die heute unbekannten Komponisten hatten. Ich habe 2 Wochen nichts anderes gehört!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

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    Nicolas Gombert Werke wurden mehrfach parodiert, u.a. von Clemens, Morales, Porta und Lassus. Das berühmteste dieser Beispiele ist jedoch, wie erwähnt, Monteverdis Messe über die Motette "In illo tempore loquente Iesu", die in ihrer "Zweitfassung" für die Sixtinische Kapelle bestimmt war. Der Sänger Bassano beschreibt in einem Brief, mit wieviel Ehrgeiz und Energie Monteverdi die Verarbeitung der zahlreichen Gombert-Themen betrieben habe. Demonstrativ stellt der Komponist diese zehn (!) adaptierten Themen dem Werkdruck voran. Im Hinblick auf die Verarbeitung der derselben, Kombination, Umkehrung, Engführung, Vergrösserung etc. stellt sich der Italiener in die Tradition des "Vorlagengebers" und belegt hierdurch seine meisterliche Beherrschung der "prima prattica". Noch bemerkenswerter ist, dass sich diese Messe, obgleich harmonisch gesehen erkennbar nicht mehr dem 16. Jahrhundert angehörend - und wesentlich "tonaler", auch in Klangentfaltung und -Wirkung sowie Stimmführung an Gombert (jedoch weniger an das thematisierte Werk selbst) anschliesst.


    /n_5vEG-WF1M



    Weitere Beiträge über Nicolas Gombert:
    http://tamino-klassikforum.at/…ge=Thread&threadID=17192&

  • Vielen vielen Dank, Gombert für diesen ausführlichen und inhaltsreichen Thread. Erst jetzt
    kam ich dazu, ihn konzentriert zu lesen. Vieles werde ich mir in nächster Zeit in Ruhe anhören.


    Dieses interessiert mich besonders:


    Oftmals wird jede textbezogene Sinneinheit mit einem punctum imitationis versehen, der nicht nur vollständig durchimitiert, sondern auch in Gruppen geordnet wird - die Musik ist hier also auf ungewöhnlich abstrakter Ebene "Bedeutungsträger".

    Könntest du näher erklären, was hiermit gemeint ist.



    Ältere cantus-firmus-Formen oder Kanons sind Gomberts Werk weitgehend fremd

    Hier bin ich nun wirklich nicht genügend wissend, doch hat mich dieser Punkt schon länger interessiert: Dufay schreibt einen Stil, in welchem die "Varietas" höchstes Prinzip ist; nichts sollte wiederholt werden, nicht einmal rhythmische Formen. Man sehe sich einen (fast beliebigen) Abschnitt aus Dufays Werk an und wird sehen, dass er ständig andere rhythmische und melodische Modelle erfindet, teils in kurzen Abschnitten zwanzig oder mehr Formen, ohne sich zu wiederholen. Geleichzeitig jedoch schreibt auch er Kanons, die ja den Gipfelpunkt einer strengen Imitation darstellen... Ist dies kein Widerspruch ?


    Dann erscheint Ockeghem. Man möchte meinen, hier würde sich langsam ein Stil der Imitation entwickeln, doch er ist hier mit einem Male voll vorhanden ! Nicht nur dass Ockeghem in seiner Missa Prolationis die allerhöchste Kunst der Kanonform (und somit ein Bach ebenbürtiges Niveau) erreicht, auch sind bei ihm bereits die Stimmen vollständig durchimitiert.


    Ich kenne wohl zu wenig dieser Musik, jeodoch frage ich mich: Wo ist hier das – kompositionstechnische – "Missing link" ?


    Gleichzeitig sind in der vierten Generation Kanons bereits "antiquiiert". Ist ein Kanon das explizite Merkmal der ersten und zweiten Generation ? Wie hängt dies zusammen ?


    Viele Grüße, ich bin sehr gespannt auf deine Antworten !



    Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Hallo Bachiania, N.G.s Imitationstechnik liesse sich besser konkret als abstrakt erläutern. Da wir keine Noten einstellen können, mag die Einigung auf eine gemeinsame "Lektüregrundlage" hilfreich sein (praktischer wären natürlich direkte mails...).


    Es ist wohl nicht notwendig, einen echten missing link zwischen Dufay und Ockeghem zu suchen, so wie es ja auch keinen zeitlichen Gänsemarsch Dufay-Ockeghem-Josquin gibt. Schon um 1450/60 entstanden Kanonmessen, die mit ihrer teilweise aufgelockerten Verwendung des Kanon eine Vorform des durchimitierten Stils darstellen. Das m.W. früheste Beispiel dürfte Standlays Missa Ad fugam reservatam sein, gefolgt z.B. von den L'homme armé-Messen von Faugues und Mouton. Werke wie Faugues Missa Le servitur werden mitunter ja auch als bereits erster Schritt Richtung Parodiemesse gewertet.
    "Echte" Durchimitation, wenngleich noch erkennbar Kanontechniken folgend, findet sich in Motetten von Compére, Josquin und Weerbecke, verfasst um oder kurz nach 1470. Übrigens findet sich hier bereits die musikalische Nachformung von Strophen und Zeilen und textbezogene akkordische Deklamation. Erste Ansätze zur Durchimitation betreibt Josquin also bereits zu Lebzeiten Dufays, noch bevor Ockeghem seine bekannteste Kanonmesse schrieb.


    Ockgeghem selbst besuchte Dufay 1464 in Cambrai. Vier Jahre später später wurde das politische Gipfeltreffen von Louis XI. und Charles le Téméraire auch zu einem musikalischen, mit Dufay und Ockeghem jeweils an der Spitze der burgundischen b.z.w. französischen Hofkapelle (da würde eine Zeitreise lohnen, mit Antibiotika und Desinfektionsmittel im Gepäck...). An dieser Stelle deutet sich der unterschiedliche, für unsere Frage möglicherweise relevante [kultur-]politische background der Komponisten an.
    Dufay war ja zutiefst englisch beeinflusst. Seine Kontrapunktechnik basiert massgeblich auf einer enormen Verfeinerung des Faburden, dieser damals einfachsten Anwendungsanleitung zum Bau eines dreistimmigen Satzes. Dufay vermied dabei jene auf dem Kontinent unmöglich erscheinenden Parallelführungen und Dissonanzen. Zugleich steht Dufay in Beziehung zu Dunstable, Bedingh, Power, Forrest, Plummer und jenen sogar direkt am burgundischen Hof ansässigen englischen Komponisten wie Frye und Morton.
    Während Burgund traditioneller Verbündeter Englands (etwa im hundertjährigen Krieg) war, dürfte die Distanz Frankreichs, wo Ockeghem ja fast seine gesamte Karriere in "Königsnähe" verbrachte, wesentlich grösser gewesen zu sein. In England selbst legte man Wert auf weiträumige und freie melodische Erfindung mit eigenwilliger Kontrapunktik - kontintale Regeln mussten da wohl als Käfig erscheinen. Demgemäss galt Durchimitation selbst dann noch als Enschränkung, als Josquin längst das Gegenteil bewiesen hatte (siehe Tudorthread). Ich vermute, dass Dufay in ähnlichen Kategorien gedacht haben könnte. Die absolute Vermeidung von Wiederholungen in Melodik und Rhytmik mag ihm als ein Zeichen für echte Kreativität erschienen sein.
    Gleichwohl hat Dufay den Imitationsstil entschieden vorbereitet, in dem er die Kanontechniken erweitert und die m.W. ersten Vergrösserungs- und Proportionskanons schreibt. Die Missa Se la face ay pale etwa wird ja zu einem Modell für spätere (Kanon)messen. Möglicherweise hat Dufay nicht weniger Kanons verfasst als Ockeghem, dessen Oevre ja auch nicht absolut von der Kanontechnik beherscht wird, auch wenn er für Extremfälle für der prolationum oder dem 36-stimmigen Deo Gratias berühmt ist.
    Dennoch funktioniert das musikalische Denken dieser beiden Komponisten grundsätzlich anderes, damit ist auch ihre Definition musikalischer Meisterschaft verschieden. Im Rahmen von Ockeghems polyphoner Abstraktion bildet der Kanon die formal-logische Grundlage für den weiteren Ausbau der c.f.-Formen und der Vermeidung von Kadenzen, für den plastisch-melodisch denkenden Dufay handelt es sich um eine seit weit mehr als einem Jahrhundert verwendete und bereits von Machaut häufig eingesetzte, eigenständige Chiffre.



    Der Kanon wird ja gern als Abbild göttlicher Ordnung interpretiert, auch die Imitationstechnik mit mystischen Strömungen dieser Zeit assoziiert. Handfester sind allerdings musiktheoretisch-methodische Überlegungen, auch wenn diese angesichts des mangelhaften Quellenstandes partiell rekonstruiert werden müssen. Die konventionellen Kontrapunktikregeln waren anhand der Zweistimmigkeit entwickelt worden. Hinzu kam der besagte Faburden als Handreichung für den Umgang mit Dreistimmigkeit auch durch nicht professionell ausgebildete Musiker. Die tradierten Massnahmen zur Dissonanzvermeidung b.z.w. -reduzierung vermochten die seit der Dufayzeit zur Regel gewordene Vierstimmigkeit nicht mehr zu tragen. Problematisch waren etwa die bisherige Definition der Quarte als Dissonanz oder bestimmte Parallelführungsverbote. Dufay hatte das simple Faburden-Konzept in neu kreierter, weitgehender Angleichung an kontinentale Regeln in mannigfaltiger und höchst individueller Weise ausgebaut. Möglicherweise fürchteten etliche Musiktheoretiker und auch -praktiker/-lehrer, dass nicht jeder zukünftige Komponist vom Rang eines Dufay sei und und die Dufyayschen Freiheiten in ein "anything goes" umschlagen könnten. (Die erste erhaltene theoretische Abhandlung, welche die "freie" Imitationstechnik im heutigen Sinne konkret beschreibt, stammt, wenn ich nicht irre, von 1476.) Der Kanon bot sich als überkommenes und solides Modell an. Auch wenn die Imitation nach neuen Regularien rief (etwa hinsichtlich des Tausches von Motiv und Kontrapunkt zwischen Ober- und Unterstimme) und schwieriger zu erlernen war, bot sie doch grössere Sicherheit in der letztendlichen Anwendung - bei Erhalt etlicher traditioneller Grundregeln für Kontrapunktik und Harmonik sowie der Möglichkeit, die c.f.-Techniken fortzuentwickeln


    Der Kanon ist kein explizites Merkmal der 1./2. Generation der Franko-Flamen . Bekanntlich gibt es schon frühe Meisterstücke wie Dufays Motette Vasilissa ergo gaude oder Moutons erwähnte armé-Messe, die mit einem siebenstimmigen Circuluskanon endet. Aber gerade die Dritte Generation führt den Kanon zum Gipfel seiner Entwicklung, höchstens der spätere Barock hat ähnliches zu bieten. Von de la Rue dürfte es mindestens ein Dutzend Kanonmessen geben, Obrecht war ebenfalls eifrig. Es genügt aber der Hinweis auf Josquin, etwa die Agnus Dei der "armierten" Messen. Bei super voces findet sich ein (ich glaube dreistimmiger) Mensurationskanon, bei sixti toni ein simultaner Kanon in den oberen b.z.w ein crab canon (ich weiss, es heisst im Deutschen nicht Krabbenkanon sondern, äh...und "Mensurationskanon" ist vielleicht auch nicht korrekt, sorry) in den unteren Stimmen. Der genialste solitäre Quadruplekanon, den ich kenne, ist Josquins 24-st. Kanonmotette "Qui habitat", mit eigenwilligen Motiven, Dissonanzen und "swinging" Ostinato.


    Mit der Vierten Generation folgt allerdings ein auffallender Bruch. Während die 3. sich dem Ursprung der Durchimitation noch aus eigener Erfahrung bewusst ist, erscheint der 4. der Kanon - mit wenigen Ausnahmen - offenbar hoffnungslos antiquiert - eine Parallelerscheinung zur Nach-J.S.Bach Generation. In der 5. Generation ist man bereits wieder etwas offener, siehe Lassus oder Victoria (kein Wallone, aber seine Magnificat sind ein schönes Beispiel).


    Grüsse!

  • Lieber Gombert! Zunächst möchte ich dir danken für deine ausführlichen und so beeindruckend kenntnisreichen Beiträge. Ich wünschte ich hätte annähernd so viel Zeit, wie ich wollte, um mich näher mit diesen Dingen zu befassen. Und solch kompetente Erläuterungen könnenn nur einer dem entsprechenden sehr breiten Werkkenntnis entspringen!
    Ich selbst hatte bislang die polyphone Musik nur in ihren wesentlichen, berühmten Werken im Kopf (da meine musikalischen Interessensgebiete sehr breit gefächert sind). Und aus Sicht eines theoretischen - sagen wir - Basiswissens.


    Doch haben mich diese Threads zu einer näheren Beschäftigung angeregt, so dass ich mir nun diese Musik auch erhöre und (gewissermaßen) "er-denke" und zu verstehen suche. Mit großem Genuss, wie ich betonen möchte! Doch ist es meine Art, manche Stücke so oft zu hören, bis ich sie wirklich verinnerlicht und die mich interessierenden Fragen beantwortet habe. Dadurch komme ich hierbei nur langsam voran.


    Deine Beiträge, Gombert, werfen noch deutlich mehr Fragen auf, als ich meinem letzten Beitrag stellte. Ich hoffe sie hier nach und nach aufwerfen zu dürfen. Woher kennst du dich mit dieser Musik so gut aus? Bist du Musiker? Freilich wäre eine Mailadresse schön. Erzähle doch ein wenig über dich (googlen kann ich gut, nicht nur nach Noten...)


    Ich habe dieser Tage versucht, in den Werken Gomberts, ohne Noten, den Modus zu erhören. Wie, frage ich, geht dies? Es ist oft schwierig, den eigentlichen Grundton zu ermitteln. Besonders durch die zahlreichen Leittonerhöhungen, die eine Dur- oder Moll-Tonalität nahe legen, wo vielleicht keine ist. Und natürlich auch durch unser gewohntes Dur-Moll-Gehör. Oder ist dies ein unmögliches Unterfangen?


    Und was mich besonders interessiert, ich jedoch nicht die Zeit habe, es systematisch zu überprüfen (dies hat wohl auch mit den Tonarten zuntun) : wie handhaben die Polyphoniker das Problem der realen und tonalen Antwort? Oft finden die Imitationseinsätze ja auf Tonika oder Oktave oder Dominante statt, oft jedoch sogar im Sekundabstand! Zudem las ich, dass Komponisten damals oft KEINE Akzidetien setzten, da die Sänger wussten, wo diese zu singen seien. (Könnten so manche Querstände in Kadenzen in Aufnahmen von Gormberts Werken eventuell in Wahrheit gar keine sein?!?)
    Ich hoffe dies waren nicht zu viele Fragen auf die einmal.
    Vielen Dank nochmals für deine Erklärungen!


    Bachiania


    P. S. Wir sagen Mensurkanon bzw. Krebskanon.

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

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  • Hallo Gombert,


    ich beziehe mich auf Deinen Beitrag Nr. 6:


    Beim Laudants Consort höre ich ganz leichte Intonationsschwierigkeiten, während die Intonation von Polyphony einwandfrei ist.


    Mich interessiert sehr ob Du das ähnlich hörst?


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo Bachiania, danke für die Blumen, aber meine "Kompetenz" manifestiert sich u.a. darin, dass ich in obigen Beiträgen einmal Busnois statt Binchois und Brumel statt Gombert schrieb... Die Lapsus sind mir zwar später noch aufgefallen, tatsächlich steht hier aber stets weniger als die angeblich zwei Stunden Korrekturzeit zur Verfügung. Von "sehr breiter Werkkenntnis" kann auch keine Rede sein, die Werke von Ockeghem und die Motetten und Messen von Josquin sind mir noch einigermassen vertraut, aber bereits etliche Dufay-Stücke kenne ich nicht aus eigener Anschauung. Das Problem stellen jedoch nicht diese Komponisten dar, auch nicht Faugues oder Mouton. Denn bei Werken von einigen der weniger bekannten Komponisten aus dem Dunstable-Umkreis muss ich mich zwangsläufig auf Werkbeschreibungen verlassen, da diese Musik schlichtweg niemals publiziert wurde. Nur wer den Handschriften hinterherreist, könnte zu einer "sehr breiten" Kenntnis gelangen.


    Auch "meine musikalischen Interessensgebiete [sind] breit gefächert", nur fand ich das Alte-Musik-Forum besonders vernachlässigt, nachdem viele kompetente Autoren abgegangen sind - ein Verlust, den ich niemals kompensieren könnte. (Bei Bach, Telemann und Zelenka sind wir uns jedenfalls nicht uneins.) Deine Fragen sind nicht " zu viele auf einmal", rufen aber laut nach einem direkteren Korrespondenzweg. Du könntest ja auch einmal mit dem Zaunpfahl winken, wie ich auch jenseits von f......k z.B. ein Taxi für den nächsten Festspielbesuch reservieren könnte (oder so ähnlich).


    Der Modus sollte übrigens durchaus auch akustisch verifizierbar sein, nur nicht durch Leittonerhöhungen irritieren lassen! (Wie sieht es dann da mit den beiden Magnificat aus, die Du bereits gehört hast?) Die meissten harmonischen Konstrukte, die heute mit der Dur/Moll-Tonalität assoziiert wurden, sind ja älter als dieses System selbst. Wer so ganz teleologisch auf die Musik des 16. Jahrhunderts blickt, ist vielleicht durch einen "dominat seventh chord" in "nichttonaler" Musik verwirrt... . Allerdings ist die Frage nach der Erkennbarkeit der Modi und erst recht nach accidentials durchaus auch aufführungs-/einspielungsabhängig. Also müssten wir auch diesbezüglich mal detaillierter korrespondieren - ich erwarte übrigens intellektuelle Gegenleistungen, schliesslich möchte ich auch von Deinem musikalischen "Basiswissen ;) " profitieren.
    [PS: Wie der "PS"- Kanon auf Deutsch genannt wird, hätte mir eigentlich einfallen müssen, da ich mir mal eine Brücke zum Namen jenes Orgelkomponisten gebaut hatte, der in Bachs Bach schwamm...]


    Danke für den amüsanten Hinweis auf "Gomberts sechsstimmigens Ave". Bei der "Recherche" für den hiesigen Beitrag 6 bin ich ebenfalls auf You Tube darauf gestossen und habe es nach zehn Sekunden wieder abgeschaltet. Dass es sich nicht um ein Werk von Gombert oder einem seiner Zeitgenossen handelt, könnte ja kaum offenkundiger sein (von mir ist es übrigens auch nicht :P ). Bis zu Deinem Hinweis war ich der Überzeugung, es handele sich um einen Irrtum des Einstellenden. Die Existenz entsprechend etikettierter CD's und Noten ist wirklich verblüffend. An derartige Inkompetenz der Publisher (und Aufführenden) mag ich nicht glauben, andererseits ist das Stück auch für eine bewusste Irreführung nicht geeignet - selbst jemand ohne Kompositionserfahrung könnte "heuer" mit Hilfe entsprechender Software ein vergleichsweise überzeugenderes Pseudo-Renaissance-Werk schreiben.


    Hallo zweiterbass, Intonationsschwierigkeinen höre ich bei "Lugebat" auch. Auf You Tube fand ich keine technisch unanfechtbare Version, es gibt da aber z.B. noch einen interessanten lateinamerikanischen Chor. Mit "Polyphony" meinst Du vermutlich die Aufnahme des Regina coeli. Die Y.T.-description ist verwirrend, denn da singt nicht etwa die gleichnamige britische Gruppe, sondern das Ensemble Odhecaton. Die Aufnahme stammt vermutlich von der ersten in Beitrag 4 eingestellten CD, im Vergleich zum Original mit stark verminderter Klang"qualität".


    :hello:

  • Mit "Polyphony" meinst Du vermutlich die Aufnahme des Regina coeli. Die Y.T.-description ist verwirrend, denn da singt nicht etwa die gleichnamige britische Gruppe, sondern das Ensemble Odhecaton.


    Hallo Gombert,
    ja, mit etwas mehr Aufmerksamkeit hätte ich es merken können (Polyphony bezieht sich auf Gombert), denn was Du eingestellt hast, ist auch auf YouTube zu finden und dort sind die Interpretationsangaben eindeutig. Was aber der Intonationsreinheit m. E. keinen Abbruch tut. Ob das Ensemble Odhecaton bei Interpretation und einheitlichem Chorklang Polyphony erreicht, kann ich nicht nachhören.


    Polyphony hat z. B. gegenüber Elora Festival Singers für mich den einheitlicheren Chorklang, letztere die bessere Durchsichtigkeit.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Gombert !


    Der Modus sollte übrigens durchaus auch akustisch verifizierbar sein,


    Dies ist für mich nicht so leicht. Denn
    1. Muss man den Rezitationston berücksichtigen, der oft auch in der Polyphonie eine Rolle spielt.
    2. Ist es schwierig, "Hypo"-modi zu identifizieren. Und es sollte ja der erste Tonus dorisch, der zweite Hypodorisch sein.
    3. Weiß ich nicht, ob nicht oft auch auf anderen Noten als der Finalis = Tonika kadenziert wird, also kann auch dies verwirren.
    4. Weiß ich nicht, ob es eine Regel gibt, an welcher Stimme man sich hierbei orientieren muss.


    Ich glaube ich brauche Nachhilfeunterricht ! Ich habe leider nicht die Zeit, mir in Ruhe Notenmaterialien zu sichten oder die Musiktheorie gründlich zu durchdenken. (Also: ich brauche einen Schnellkursus;wird für Tonus-Erhörung an Volkshochschulen leider nicht angeboten ;) )


    Sieh dir beispielsweise dieses Video an:


    https://www.youtube.com/watch?v=Ba506Mm-LzI


    Welcher Ton ist das ?
    Und bitte lies den (sehr) interessanten letzten Kommentar durch, der zu diesem Video gegeben wurde !


    Offenbar ist dies also nicht ganz so einfach.


    Viele Grüße


    Monika

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Liebe Bachiania,
    entschuldige bitte die verspätete Antwort, ich unterlag einer dienstreisebedingten Internetabstinenz und habe auch im Augenblick noch nicht viel Zeit, da ich mich noch ein paar Tage als "Bergfex" - um Dich zu zitieren - betätigen will. Falls Du bereit wärest noch etwas länger zu warten, würde ich die Fragen aus den Beiträgen 10 und 14 gerne etwas ausführlicher in einem neuen und eigenständigen thread beantworten, zumal ich gerade sah, dass zweiterbass momentan eine Riesenarbeit mit dem Magnificat primi toni leistet. Und kurzfristig muss ich ja auch noch etwas in Deinem neuen Polyphoniethread schreiben... (PS: Den erwähnten YT-Kommentar kann ich nicht sehen).

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Lieber Gombert, sehr schön, dass du wieder da bist! Ich habe schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben...
    Zweiterbass hat eine sehr detaillierte Arbeit geleistet. Darauf antworte ich morgen, wenn ich auch das Stück in Ruhe nochmals gehört habe.


    Auf welchen Bergen kraxelst du herum? Spanien?
    Viele Grüße, wunderbar dass du und Zweiterbass sich nach längerem Schweigen am selben Tag wieder gemeldet haben!


    Bachiania


    P. S. Der Kommentar IST DORT! In englischer Sprache, der letzte gegebene Kommentar. Aufmerksam lesen...

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Cipriano de Rore


    Sakralwerke


    Cipriano gilt spätestens seit Alfred Einsteins Arbeiten als einer der Wegbereiter Monteverdis. In dieser teleologischen, auf musikhistorische Progression ausgerichteten Sichtweise wird allerdings der Umstand vernachlässigt, dass Josquins Oevre insgesamt jenes eines fast klassischen Polyphonikers der "Vierten franko-flämischen Generation" ist.
    Rore nimmt wie viele seiner Landsleute den Weg nach Italien. Nach offenbar profunder Ausbildung in seinem Heimatland wird er schliesslich 1546, einigen Jahren des Italienaufenthalts folgend, maestro di capella in Ferrara.


    Ein bezeichnendes Beispiel für das Traditionsbewusstsein Ferraras sind die von Cipriano und Willaert verfassten Motetten über Savonarolas Reflexionen bezüglich des 50. Psalms "Infelix ego", welche das gleichnamige Werk des früheren "Ferraristi" Josquin zitieren, der sich bereits der Worte des aus Ferrara stammenden Reformators angenommen hatte.



    Rore verfasste mehrere Huldigungs-Solmisationsmessen für die Herzöge aus dem Haus d'Este, wobei die "Hercules secundus, dux Ferrariae quartus vivit et vivet" gleichzeitig eine Parodiemesse über Josquins Motette "Praeter rerum seriem" darstellt.


    In Josquins Vorlage wird die Polyphonie auf antiphone Weise durch einen Wechsel zwischen den drei hohen und den drei tiefen Stimmen entwickelt. Das Anfangsmotiv der tiefen Stimmen zitiert Cipriano (der auch sonst intensiv parodiert) am Beginn jeden Satzes, jedes mal etwas mehr angereichert. Im Kyrie wird es fast wörtlich kopiert, im Gloria erfolgt bereits parallel eine Inversion etc. Darüber hinaus fügt Rore einen siebente Stimme, einen Sopran, hinzu. Dann übernimmt der erste Alt den cantus firmus "Hercules secundus..." in langen Notenwerten.


    Auch Rores weitere Messen weisen eine hohe handwerkliche Qualität auf: während etwa Crequillions Parodiemesse über "Doulce memoire" dem akkordischen Stil der Vorlage verhaftet bleibt, entwickelt Ciprino in seinem Gegenstück einen komplexen polyphonen Satz, der hinsichtlich der Textverständlichkeit keine Rücksicht auf die Bestrebungen des Trienter Konzils nimmt.




    Als wohl letzter namhafter Komponist widmet sich Cipriano intensiv der klassischen Tenormottete, in denen wie bei Festa oder Willaert
    der cantus firmus ein- oder mehrmals durchgeführt wird. Wie seine Messen stehen die Motetten in der polyphonen "niederländischen“ Tradition, "Decendi in hortum meum" etwa ist eine Kanonmotette, zahlreiche andere, wie das erwähnte "Infelix ego", sind typische Parodiewerke.

  • Hallo,

    dem Beitrag Nr. 17 von Gombert habe ich, was die 7-stimmige Messe „Missa Praeter rerum seriem“ betrifft, nichts hinzuzufügen außer, dass ich die Polyphonie sehr ausgeprägt höre (7-stimmig!).


    Auf der im Beitrag als 1. vorgestellte CD gibt es aber noch weitere polyphone Werke zu hören, zu denen ich kurz poste (ohne Noten und Text zu haben).


    Mon petit cueur (chanson 8-stimmig) - auch dies ein – nicht nur aufgrund der 8-Stimmigkeit – sehr beeindruckendes Werk. Was mit aber besonders auffällt (war Rore in der Messe weniger frei in seiner Polyphonie?), dass es viele dissonante Stellen gibt, die zwar stets nur sehr kurz sind und m.E. wegen Durchgangsnoten in den jeweiligen Stimmen entstehen und sich deswegen auch immer sofort wieder auflösen (z. T. muss ich genau hinhören um die Dissonanzen zu hören/erkennen) und das chanson in einem reinen Dur-Akkord (!) endet.
    https://www.youtube.com/watch?v=t3YTF3dejwo


    Plange quasi virgo (motet 5-stimmig) – weitaus weniger Dissonanz, obwohl die Überschrift der Motette sehr trübsinnig/traurig ist. Die Motette hat ca. in der Mitte eine Fermate auf einem unaufgelösten Quintakkord, endet aber auf einem aufgelösten Dur-Quintakkord (keine Quinte wie z. B. bei den Magnificats von Gombert).


    Mia benigna fortuna (madrigal 4-stimmig) - gemessen an der Überschrift des Madrigals ein Beweis, dass dazumal Moll nicht für traurig stand.
    https://www.youtube.com/watch?v=gElZQ7Po_9Y


    Schiet‘ arbuscel (madrigal 4-stimmig) – hier kommt es zu einer deutlich hörbaren Dynamik
    https://www.youtube.com/watch?v=MqECQqElfC4


    Calami sonum ferentes (madrigal 4-stimmig) – in tiefer Stimmlage (ungewöhnlich!?) ohne Alt und Sopran – ein für mich spannungsreiche/r Dynamik/Klang.
    https://www.youtube.com/watch?v=EAkMRl0AfWw


    Se ben il duol (madrigal 5-stimmig) – in hoher Stimmlage ohne Bass mit einigem dramatischen Ausdruck.


    Dissimulare etiam sperasti (motet 5-7-stimmig) – mit teilweise vielen kleinen Pausen, in denen der fortwährende Klang der Polyphonie kurz unterbrochen wird.



    Das Huelgas-Ensemble ist ohne Makel (mir gefällt der Chorklang im Vergleich zu… etwas weniger).


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler