Wiedererkennungswert - Ein Qualitätskriterium?

  • Wer kennt das nicht ? Man hört bisher ungehörtes Repertoire - betritt quasi musikalisches Neuland und ist eigentlich recht positiv gestimmt. Da gibt es eindrucksvolle Stellen, tolle Dynamik und gelegentlich auch eingängige Melodik.
    Am nächsten Tag könne man kein Thema des Werkes mehr nachsummen - bzw man hat keines mehr im Kopf. Nach 2-4 Woche ist das Werk aus dem Gedächtnis völlig gelöscht. Das trifft (bei mir) besonders auf Werke des 20. Jahrhunderts zu - aber auch bei dem von mir bevorzugten Komponisten des 18. Jahrhundert passiert das ?
    Wie ist das zu interpretieren ? Sind die Kompositionen zu belanglos, zu wenig markant oder eigenständig ? Oder zu komplex ? Oder liegt es einfach nur daran, daß man nicht konzentriert genug hört. Liegt es daran, dass man solche Werke in der Regel nur ein bis zwei mal hört ?


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Klar, je öfter man ein Werk hört, desto eher wird man sich an die Themen erinnern. Das gilt aber nicht für alle Werke. Heute habe ich mir wieder einmal das C-Dur Streichquintett von Mozart, KV 515, angehört. Zweifelsohne ein Meisterwerk, aber mit so matten Themen ausgestattet, dass ich jetzt nur das Finalthema vor mich hinsummen könnte. Ich denke, es gibt schon die Tendenz, dass Werke mit sehr starker Kontrapunktik (und da gehört KV 515 eindeutig dazu - ein Wunderwerk der Stimmführung) zu weniger markantem thematischen Material neigen.

  • Tatsächlich habe ich - natürlich rein subjektiv - den Eindruck, dass ich mir zu Beginn meiner Laufbahn als Klassikhörer musikalische Themen, Abläufe und Zusammenhänge wesentlich besser "merken" konnte, als dies heute der Fall ist. Dabei geht es nicht nur um die üblichen "Gassenhauer", sondern generell um mir zuvor gänzlich unbekannte Stücke. Da reichte oft das zwei- bis dreimalige hören und schon war es drin; Radio aus und ich konnte ohne große Probleme weitersummen. Heute funktioniert das irgendwie nicht mehr sonderlich gut :( Eventuell haben also Stücke, die man sozusagen noch auf der sprichwörtlichen grünen Wiese hört, eine wesentlich größere Chance sich einzuprägen. Jedoch belegen sie damit natürlich auch "Speicherplatz" und machen es somit Stücken, die man später im Leben hört, wesentlich schwerer sich in das musikalische Gedächtnis einzuschreiben. Wenn dies tatsächlich so wäre, würde dies vielleicht auch die Schwierigkeiten erklären, die viele mit der Moderne habe: Werke des späten 20ten Jahrhunderts passen oft nicht zu den Werken, die den musikalischen Speicher geprägt haben und fügen sich somit kaum intuitiv in die Hörerfahrung ein. Würde man nun sein Gehirn zu Beginn nicht mit Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner, Tschaikowski etc. trimmen, sondern Henze, Stockhausen, Nono etc. den Vorzug geben, hätte man vielleicht später eher Probleme mit den erstgenannten, nicht jedoch mit einer neuen Oper von Reimann.


    Somit handelt es sich eventuell eher um ein neurologisches, denn ein musikalischen Problem (da gibt es doch entsprechende Threads von zweiterbass) ? - Wobei das oben gesagte vielleicht auch nur für den musikalischen Laien gilt und ein Profi sich möglicherweise gerade dadurch auszeichnet, dass dessen musikalisches Gedächtnis größer bzw. flexibler ist.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Tatsächlich habe ich - natürlich rein subjektiv - den Eindruck, dass ich mir zu Beginn meiner Laufbahn als Klassikhörer musikalische Themen, Abläufe und Zusammenhänge wesentlich besser "merken" konnte, als dies heute der Fall ist. Dabei geht es nicht nur um die üblichen "Gassenhauer", sondern generell um mir zuvor gänzlich unbekannte Stücke. Da reichte oft das zwei- bis dreimalige hören und schon war es drin; Radio aus und ich konnte ohne große Probleme weitersummen. Heute funktioniert das irgendwie nicht mehr sonderlich gut :(


    Das habe ich eher umgekehrt erlebt.
    Es stimmt zwar, dass man als Einsteiger typischerweise zuerst viele sehr eingängige und leicht wiederzuerkennende Stücke kennenlernt. Die prägen sich schnell ein. Aber das kann auch dazu führen, dass man mit Stücken, die keine eingängigen Melodien dieser Art aufweisen, überproportionale Probleme hat.
    Das zeigt sich vielleicht schon bei Brahms und Bruckner ggü. Dvorak oder Tschaikowsky. Ich habe das schon mehrfach erwähnt, aber für mich war als Einsteiger Wagners Musik (und erst recht so etwas wie "La Mer") eine Art "Klangwolke", in der ich keine Motive wiedererkennen konnte. Bruckners 4. habe ich als 17jähriger mal mit der Tannhäuser-Ouverture verwechselt... :untertauch:


    Mag ja sein, dass es inzwischen schon wieder nachlässt, aber ich behaupte mal, dass es mir ab ca. 10 Jahren Hör- (und rudimentärer Musizier- und Sing)erfahrung erheblich leichter gefallen ist, unbekannte Musik und solche mit weniger eingängigen Themen zu erfassen und recht zuverlässig wiedererkennen zu können.


    Von ein paar offensichtlichen Gassenhauern abgesehen, ist es anscheinend auch sehr subjektiv, was man leicht wiedererkennt, wobei ich schon meine, dass es sich mit der Erfahrung ändert. Man merkt das auch ein wenig daran, wie schnell man von Bearbeitungen/Instrumentationen genarrt werden kann.
    Sehr bezeichnend ist ja auch, dass viele Hörer über Epochen/Stile, die sie noch nicht gut kennen, urteilen, das "klinge alles gleich". Klar, Violinkonzerte von Vivaldi sind untereinander ähnlicher als Sinfonien von Brahms und es gibt viel weniger von letzteren, so dass man sich viel leichter die Stücke merken kann. Dennoch ist die Empfindung, alles klänge zum Verwechseln ähnlich (die ich natürlich auch kenne) sehr oft ein Zeichen dafür, dass man die entsprechende Musik einfach nicht gut genug kennt.
    Schließlich gibt es gewiss auch so etwas wie unterschiedliche Musikalität, die sich nicht nur bei der Begabung zu musizieren, sondern vermutlich auch beim schnelleren Erkennen und Merken von Musikstücken zeigt. Außerordentlich musikalische Menschen können Melodien nach einmaligem Hören nachsingen oder nachspielen.



    Zitat

    Eventuell haben also Stücke, die man sozusagen noch auf der sprichwörtlichen grünen Wiese hört, eine wesentlich größere Chance sich einzuprägen. Jedoch belegen sie damit natürlich auch "Speicherplatz" und machen es somit Stücken,

    So funktioniert das menschliche Gedächtnis, so viel ich weiß, nicht. Das ist nicht irgendwann "voll". Ungeachtet dessen ist es natürlich richtig, dass die Merkfähigkeit für manche Dinge nachlässt und man nicht mehr so schnell lernt/behält wie als Kind oder Jugendlicher.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ungeachtet dessen ist es natürlich richtig, dass die Merkfähigkeit für manche Dinge nachlässt und man nicht mehr so schnell lernt/behält wie als Kind oder Jugendlicher.


    Du willst doch nicht etwas behaupten, ich sei alt ... :cursing::baeh01::hello:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

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  • Du willst doch nicht etwas behaupten, ich sei alt ... :cursing::baeh01::hello:


    Da meines Wissens ein oder zwei Jahre älter als ich, darf ich das behaupten, denn dann bin ich ja auch alt. Wie gesagt, meine ich aber, dass ich beim Musik-Kennenlernen und Wiedererkennen nicht unter argen Alterserscheinungen leide, wenn ich auch nicht auschließen will, dass ich vor 10 Jahren mit Anfang 30 noch besser dabei gewesen bin. Ich bin mir aber sicher, dass ich heute, allein aufgrund der Erfahrung erheblich besser darin bin als mit 17 oder 20.

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  • Zitat

    Wenn dies tatsächlich so wäre, würde dies vielleicht auch die Schwierigkeiten erklären, die viele mit der Moderne habe: Werke des späten 20ten Jahrhunderts passen oft nicht zu den Werken, die den musikalischen Speicher geprägt haben und fügen sich somit kaum intuitiv in die Hörerfahrung ein.


    Dies würde ich durchaus unterstreichen - Allerdings ist es doch etwas ganz anderes.
    Hier wird IMO durchaus schlüssig erklärt warum man für andere Klangwelten nicht aufgeschlossen ist.
    Es fehlt aber die Erklärung, warum manche Musikstücke - auch solche des galanten Zeitalters - oder von Vivaldi nicht gut identifizierbar sind. Ich liebe Vivaldis Mandolinenkonzerte - Indes - ich habe nur den Beginn eines einzigen im Kopf behalten können. Ebenso ist es mir nicht möglich die von mir sehr geschätzten Haydn Klavierkonzerte beim Hören sofort zu identifizieren - Ich weiß zwar, "Haydn Klavierkonzert" - aber nicht die Nummer. Ebensowenig kann ich mehr als den Satzbeginn von einer oder zwei Stellen im Kopf behalten, was bei Mozarts Klavierkonzerten relativ gut gelingt.
    OT: Zu Merkfähigkeit im Alter sei folgendes erfreuliche gesagt: Menschen, die ihr ganze Leben geistig aktiv waren und immer GELERNT haben, die bleiben es - Gesundheit vorausgesetzt - auch im Alter. Ich habe mal als Ergebnis einer Studie gelesen, daß ein geistig aktiver 70jähriger nur 10% langsamer ist als ein 17 jähriger. Meine Mutter (im Juni wird sie 87) löst folgende skurrile Kreuzworträtsel mit links: http://derstandard.at/13886504…el-Nr-7609?_lexikaGroup=1
    Aber zurück zur Ausgangsfrage: Zeugt gute Wiedererkennbarkeit von hoher Qualität - oder umgekehrt...?


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Am leichtestens wiedererkennbar sind oft Schlager aus der Unterhaltungsmusik. Daher bin ich sehr vorsichtig, das als ein Qualitätskriterium zu werten. Obendrein meine ich, dass, sobald man weitgehend unbestrittene "Ohrwürmer" und Gassenhauer ausschließt, es sehr subjektiv und von Hörerfahrung, Musikalität und vermutlich noch ein paar weiteren Punkten abhängt, was jemand als leicht wiedererkennbar einordnet.


    Ich vermute aber, dass es ein (aber lange nicht der einzige wichtige) Punkt bei der Popularität vieler Stücke ist. Alle vier Konzerte der "Vier Jahreszeiten" sind überdurchschnittlich gut wiederkennbar, das ist sicher ein Grund für den großen Abstand zu dutzenden anderer Vivaldi-Konzerte, die sonst nicht schlechter sind. Und vermutlich ist auch "Tannhäuser" weit populärer als "Siegfried" aufgrund von Stücken wie dem Pilgerchor usw.
    Andererseits ist es natürlich "Siegfried" oder Bruckners 5. oder was auch immer auch ohne unmittelbar eingängige Melodien gelungen, sich fest im Repertoire zu verankern.

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  • Zitat

    Am nächsten Tag könne man kein Thema des Werkes mehr nachsummen - bzw man hat keines mehr im Kopf. Nach 2-4 Woche ist das Werk aus dem Gedächtnis völlig gelöscht.

    Auch wenn "memorable" Themen den Wiedererkennungswert am effektivsten steigern, funktioniert das musikalische Gedächnis doch nicht allein auf diese Weise. Ebenso lassen sich Formenverläufe b.z.w. Stimmführungen auf abtrakte Weise memorieren, nicht so, dass man sie Niederschreiben könnte, aber für eine Wiedererkennung durchaus ausreichend. Problematisch wird es nur, wenn sowohl melodiöse als auch formale Substanz fehlt (spontan denke ich da z.B. an einige Werke von Bruch).


    Subjektiv empfinde ich einen Mangel ein eingängiger Melodik mitunter auch als positiv. Ich würde niemals durchs Radioprogramm "zappen", die Gefahr, zufällig wahrgenommenes Popgedudel mittelfristig nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen, ist einfach zu gross. Auch manches besonders eingängige Werk aus Klassik oder Romantik meide ich mittlerweile systematisch. Werke mit "starker Kontrapunktik" (F.M.) können dagegen richtig erholsam sein. Schon daher sind z.B. polyphone Vokalmusik des 16. Jahrhunderts (die laut Felix Meritis keine Melodie enthielten [??]), Streichquartette von Brahms oder mikropolyphones von Ligeti ein wichtiges Gegengewicht zu "melodieseligen" Werken. Besonders eklatant empfinde ich dies beim Musizieren - zumindestens auf Tasteninstrumenten brauche ich regelmässig "stimmführungslastige" Werke als Ausgleich. Im Gedächtnis frei umherschwirrende Bachfugen stören mich nicht...

  • Schon daher sind z.B. polyphone Vokalmusik des 16. Jahrhunderts (die laut Felix Meritis keine Melodie enthielten [??]), Streichquartette von Brahms oder mikropolyphones von Ligeti ein wichtiges Gegengewicht zu "melodieseligen" Werken.


    Da wären wir wieder bei der Diskussion, was denn eigentlich eine Melodie sei. Dieser gehe ich zunächst aus dem Wege ;) . Melodien (Themen als geschlossene Periode), wenn gut erfunden, haben natürlich einen hohen Wiedererkennungswert. Davon unabhängig gibt es aber auch markante Themen, die höchst memorabel sind aber keine Melodien im eigentlichen Sinne darstellen. Das Inzipit des Brahmsschen c-Moll SQ, bspw., ist sicherlich keine Melodie aber trotzdem höchst memorabel. Bei der Renaissancemusik denke ich schon, dass die Fremdheit des thematischen Materials den Zugang zunächst sehr erschwert. Das ist allerdings unabhängig davon, ob eine Melodie im eigentlichen Sinne vorliegt oder nicht. In der elisabethanischen und spätniederländischen Instrumentalmusik gibt es ja zahllose Variationswerke auf damals populäre Lieder. In meinen Ohren sind die aber sehr oft nicht wirklich einprägsam. Das von Sweelinck variierte "Marslied" stellt da für mich fast eine Ausnahme dar. Trotzdem schätze ich die Instrumentalmusik dieser Zeit über alle Massen (schweizer Tastatur!), allerdings wegen anderer Charakterstika.

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  • Das liegt bei der Renaissancemusik teils auch daran, wie das Material verwendet wird. Bei den Virginalisten um 1600 sind das oft Figuralvariationen wie später im Barock, also etwas relativ vertrautes, auch wenn von der Melodie nicht viel übrigbleibt, ist meist ein Harmonieschema oder so zu erkennen.

    Aber ich habe eine CD, auf der das Lied "l'homme armé" zuerst einstimmig oder sehr einfach gesetzt, wie es damals eben als populäres Lied auftrat, zusammen mit der entsprechenden Messe von Josquin? drauf ist. Ich habe es zwar schon lange nicht mehr versucht, aber ich habe die Melodie in der Messe nicht wiedergefunden. Die ist irgendwo versteckt, das hört man nur, wenn einen jemand direkt darauf stößt.


    Wie schon gesagt wurde, erkennt man Musik natürlich nicht nur an faßlichen und gesanglichen Melodien, sondern auch an "klanglichen Atmosphären", die in ganz unterschiedlicher Weise zustande kommen können.

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  • Hallo,


    das Gedächtnis funktioniert außerordentlich komplex und zudem bei jedem Individuum etwas anders. Wichtig ist der Gegensatz von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, wobei ständig zwischen beiden Ebenen "umgeräumt" wird. So belästigen "Ohrwürmer" durch ihre Omnipräsenz im Kurzzeitgedächtnis nur eine gewisse Zeit und werden dann in tiefere Bewußtseinsebenen abgeschoben, sodaß sie zwar wiedererkannt werden können, aber nicht mehr eigenständig sich "vordrängen".
    Die globale Gedächtnisleistung ist erstaunlich groß, eine ganz andere Frage ist jedoch, wie präsent Gedächtnisinhalte sind, bzw. wie ich sie dann, wenn sie gebraucht werden, mobilisieren kann: bekanntes Beispiel--- ein Name "liegt auf der Zunge", aussprechen kann man ihn aber in diesem Augenblick nicht.
    Akuter Stress kann das Gefühl einer völligen "Gedächtnisleere" erzeugen, andererseits aber auch zugleich erstaunliche Gedächtnisleistungen induzieren - ein Phänomen, das Schauspieler und Musiker, die unter Lampenfieber leiden, alle kennen.
    Interessant wird es dann, wenn Erinnerungen mit bestimmten Sinneneindrücken gemeinsam abgespeichert werden. Da das Rhinencephalon der entwicklungsgeschichtlich älteste Stammhirnbestandteil ist, können Riecheindrücke oder auch Geschmackseindrücke (die auch z.T. über das Rhinencephalon verarbeitet werden) Erinnerungen hervorrufen; Beispiel Prousts Recherche!!!
    Zusammenfassend kann man also m.E. sagen, daß bei Betrachtung dieser komplizierten neurophysilogischen Zusammenhänge eine direkte Korrelation mit dem "Wiedererkennen" einer Melodie oder eines Musikstücks und der musikwissenschaftlich, musikhistorisch und auch durch den persönlichen Erfahrungshorizont definierten "Qualität" nicht besteht.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Ich meine nicht, dass man die Quälität eines Werkes an dem Wiedererkennungswert messen sollte.
    Wiedererkennung führt oft zur Übersättigung.
    Wer ein Werk mit einprägsamer Melodie hört, summt diese vielleicht noch bis zum nächsten Tag mit, hört dasselbe Werk noch ein-, zwei Mal hintereinander in 2 Wochen und dann erst einmal längere Zeit nicht mehr. Was ich kenne, langweilt mich.
    Für mich sind die Werke interessanter, die ich neu entdecke und möglichst keinen großen Wiedererkennungswert haben. Umso häufiger werde ich sie mir -in kürzeren Abständen- anhören.

    Hat das 1. Klavierkonzert (1933) von Schostakowitsch einen hohen Wiedererkennungswert?
    Bei genauer Betrachtung hört man Beethoven, Haydn, Tschaikowvky, Mahler, Poulenc, Ravel, Rachmaninoff u.a. heraus, wenn man die Werke der vorgenannten Komponisten kennt. Schostakowitsch hat sie zu einer musikalischen Collage verarbeitet.
    Anfang und Schluss des Klavierkonzertes nimmt Bezug auf Beethoven, es fängt mit der Apassionata an und endet mit der Wut über den verlorenen Groschen.

    mfG
    Michael

  • Um einen ganz anderen Aspekt der Wiedererkennung anzusprechen: Bei einem Sänger ist es ein ganz entscheidendes Qualitätsmerkmal, dass man seine Stimme sofort erkennt. Sänger, wie Josef Metternich, Rudolf Schock, Gottlob Frick, Fritz Wunderlich, Hermann Prey, Anneliese Rothenberger, Erika Köth, Caterina Ligendza, Ortud Wenkel usw. erkannte und erkennt am ersten Ton. Durch wesentlich einheitlichere Ausbildung, züchten von mediengerechten Stimmcharakteren und den Wunsch der Regisseure austauschbare Stimmen zu haben, ist dieses Eigenprofil, ja Markenzeichen der Sänger weitgehend verloren gegangen. Sie klingen fast alle gleich schön - und gleich einheitlich. Für mich ein Grund, weshalb die großen Alten immer noch so dominant in Erinnerung geblieben sind.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Lieber Operus,


    Wenn man Deinen Ausdruck, dass "fast alle gleich schön" klngen durch "gleich persönlichkeitsarm" ersetzt, bin ich ganz auf Deiner Seite!


    Lieben Gruss!

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  • Zu Beitrag 13 - @ Schneewittchen - Was habe ich davon, wenn ich eine Sinfonie oder ein Klavierkonzert (etc etc) höre und es beim nächsten Mal Hören nicht wiedererkenne?? Der Lerneffekt ist nicht eingetreten. Ähnlich wie wenn jemand ein Buch liest, aber den Inhalt nicht weitergeben kann, weil er ihn sich nicht gemerkt oder er ihn überhaupt nicht verstanden hat....
    Es macht aus meiner Sicht wenig Sinn, neues zu lernen, wenn das alte nicht im Kopf ist.
    Mozarts Klavierkonzert Nr 27 hat beispielsweise einen hohen Wiedererkennungswert - Aber natürlich langweilt es mich NICHT.... ;)


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    der Sinn des 1. Klavierkonzertes von Schostakowitsch (um bei diesem Beispiel zu bleiben), liegt vordergründig nicht in einem Lerneffekt, denn dieser ist vom Komponisten nicht beabsichtigt worden. Nach Angaben von Schostakowitsch selbst, hat er das Klavierkonzert als leichte Unterhaltungsmusik komponiert. Das Konzert soll also der Unterhaltung des Hörers dienen, er muß sich nichts einprägen und nichts weitergeben.
    Trotzdem sind gerade bei diesem Werk auch Deine Worte "Es macht aus meiner Sicht wenig Sinn, neues zu lernen, wenn das alte nicht im Kopf ist" zutreffend. Denn erst, wenn man die "alten Werke" der Komponisten Beethoven, Haydn, Tschaikowsky u.a. kennt, die nun im neuen Werk von Schostakowitsch "maskiert" zu hören sind, kann man auch neues lernen und erkennen, was Schostakowitsch daraus gemacht hat. Das Neue begreift man nicht, wenn man das Alte nicht kennt.
    Umgekehrt macht es für denjenigen Sinn, der die alten Werke kennt, sich auch den neuen Werken zuzuwenden. Das haben die Komponisten des Neoklassizismus Anfang des 20. Jahrhunderts getan. Sie haben Werke (bzw. Teile davon) früherer Jahrhunderte ins 20. Jahrhundert transformiert. Oder für ein altes Instrument, das Cembalo, Musik des 20. Jahrhunderts komponiert. Auch die Sinfonia Concertante wurde im 20. Jahrhundert wiederbelebt.
    So hat nun auch Max Richter die Vier Jahreszeiten von Vivaldi ins 21. Jahrhundert "recomposed". Natürlich weiß ich, wie Du über dieses Werk Richters denkst und ich hoffe, das Du es Dir zumindest einmal angehört hast, ehe Du Dein Urteil darüber abgegeben hast. Jedenfalls ist der Wiedererkennungswert dieser neuen Komposition beachtlich, ebenso der Verkaufserfolg der CDs, was für ein Werk des 21. Jahrhunderts nicht selbstverständlich ist. Würde man den hohen Wiedererkennungswert eines Werkes als Qualitätskriterium ansehen, müsste man Richters "Vier Jahreszeiten" als qualitativ hochwertig einstufen.

    mfG
    Michael

  • Ich möchte meine Art zu "lernen" mal darstellen an einem Musikwerk, das mit am schwersten zu begreifen ist, der "Sache Makropulos" von Janacek. Ich war 16, als ich das Stück in Düsseldorf zum ersten Mal hörte; da begreift man gar nichts.
    Dann fing ich mit der Jenufa an, und nach 50 x wusste ich, wie Janacek klingt. Dann kamen, sehr langwierig, die Katja und das "Füchslein", was viel schneller ging, weil es doch sehr melodienreich ist. An der "Sache Makropulos" habe ich mir fast die Zähne ausgebissen. Der Schluss ist absolut grandios, einer der besten Schlüsse, die die Musikgeschichte in der Oper kennt, das wusste Janacek übrigens selber. Der erste Akt ist relativ karg geschrieben, eine Literaturoper oder ein Konversationsstück; da muss man den Text verfolgen. Nach einiger Zeit merkt man, wie viele musikalische Schätze in diese Musik eingebaut ist. Allerdings ist mir der zweite Akt bis heute nicht recht vertraut.
    Ein anderes Beispiel ist die Motette "sicut lilium" von Palestrina. Am Anfang klingt alles gleich, bald aber merkt man, wie sich die Themen in den einzelnen Stimmen entwickeln. Nach etwa 10x habe ich gehört, wie Palestrina einen aufregenden Höhepunkt eingebaut hat, der einem berühmten "Aufschwung" in einer Mahler-Sinfonie durchaus gleich kommt.
    Betonen möchte ich noch einmal, dass für mich Musik, die ich sofort verstehe und mitsingen kann, nicht lange hält. Das sagt natürlich mehr über mich als über die Musik aus.
    Übrigens staune ich immer wieder darüber, um wie vieles besser mein Musikgedächtnis ist als mein Literaturgedächtnis. Einer meiner Lieblingsromane ist der "Stechlin" von Fontane, den ich bestimmt schon 5x gelesen habe; trotzdem weiß ich im Moment so gut wie nichts darüber. Dagegen kann ich ziemlich viele Opern mitsingen, und zwar alle Stimmen (und nicht nur Janaceke).

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich stehe jetzt auch nicht so auf die Ohrwürmer, die nerven bald. Das korreliert auch gut damit, dass ich fast nur klassische Musik höre und kaum Pop-Musik.

  • Zitat

    Nach Angaben von Schostakowitsch selbst, hat er das Klavierkonzert als leichte Unterhaltungsmusik komponiert. Das Konzert soll also der Unterhaltung des Hörers dienen, er muß sich nichts einprägen und nichts weitergeben.


    Das ist für mich nur in groben Zügen nachvollziehbar. Denn selbst wenn ich einen Schlager höre, so setzt er sich irgendwann in fest und ich kann ihn noch Jahrzehnte später wieder aus dem Gedächtnis abrufen.


    Das gilt natürlich auf im Bereich der klassischen Musik:
    Man stelle sich vor, jemand spielte einem das Thema "komml ieber Mai und mache" aus Mozarts Klavierkonzert Nr 27 vor - und man würde es nicht erkennen !!!!


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Es gibt Leute, die sind einfach nicht besonders musikalisch (vor ein paar Monaten kursierte mal ein Artikel über Menschen, die "taub" für Musik sind). Aber auch sonst hängt das von verschiedenen Dingen ab, von der Hörerfahrung und Musikalität usw. Klar, diese Mozart-Melodie erkennt fast jeder sehr leicht. Jedes Hörrätsel belegt allerdings, wie unsicher man wird, wenn einem ein Zusammenhang fehlt, selbst bei eigentlich leicht zu erkennenden Melodien/Ausschnitten. So war ich im Winter nach wenigen Sekunden sicher, dass der letzte Ausschnitt aus einem Schubert-Quartett stammte. Aber ich musste wirklich nachhören, um ganz sicher zu gehen, dass es der Quartettsatz (meine Vermutung) war, nicht doch etwas anderes.


    Selbst bei Musik, die ich meine, recht gut zu kennen: Wenn mir jemand die ersten 30 Sekunden eines beliebigen Menuetts aus den letzten 20 Haydn-Sinfonien vorspielen würde, würde ich vermutlich nicht alle sicher erkennen. Komplett mit Trio schon eher, aber auch da kann sich mal täuschen.

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  • Immer wenn ich einen neune "leichten" Sommerthread starten wilol, dann existiert er bereits. Immerhin bin ich im Gegensatz zu früheren Jahren, klug genug, vererst nachzuschauen.
    Sehr oft - wie auch im Falle dieses Threads (in dem wir uns hier befinden) wurde das Thema nicht wirklich "abgearbeitet"
    Wenn weiter oben jemand schrieb, "Ohrwürmer" würden ihn nach kurzer Zeit nerven, so is das bei mir überhaupt nicht der Fall. ich schätze einprägsame, leicht nachzusummende Themen von bestrickender Einfachkeit. Diese Ambivalenz zwischen dem Postukat der Einfachheit under der Bewunderung komplexer Klangstrukturen ziht sich quer durch die Musikgeschichte der letzten paar Jahrhunderte.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    da möchte ich meinen Senf auch noch gerne dazugeben. Ich glaube, dass es so etwas wie "Eingängigkeit" objektiv nicht gibt, oder zumindest, dass es sehr subjektiv ist, welche Melodien man sich direkt merken kann und welche nicht. Dabei denke ich, dass es da auch wieder Unterscheide gibt, ob man die Melodie lediglich wiedererkennen kann, oder ob man sie gar singend oder summend wiedergeben kann. Beides ist m. E. nicht wirklich ein Beweis dafür, ob das Musikstück von hoher Qualität ist oder nicht.
    Allenfalls zeigt sich hier der Grad der Intensität, mit der man sich mit dem Musikstück auseinandersetzt. Mir geht es beispielsweise bei Vivaldi und Haydn wie Dir, ich erkenne, dass es sich um die besagten Komponisten handelt, könnte jedoch nicht die genaue Bezeichungen nennen; dies würde sicherlich anders sein, wenn ich sie noch öfters hören oder sogar spielen müsste.
    Fazit: die Wiedererkennbarkeit sagt m. E. nichts über die Qulität eines Stückes aus, sondern hebt lediglich auf eine sehr spezielle Fähigkeit der Memorisierung und Reproduktion ab, die abhängig ist von Talent und dem der Arbeit, die man investiert, um diese Gabe entsprechend auszubauen. Über die Qulität der Musik oder die Musikalität des Musikhörers wird dadurch aber nichts ausgesagt.

  • ich schätze einprägsame, leicht nachzusummende Themen von bestrickender Einfachkeit. Diese Ambivalenz zwischen dem Postukat der Einfachheit under der Bewunderung komplexer Klangstrukturen ziht sich quer durch die Musikgeschichte der letzten paar Jahrhunderte.

    Das stimmt schon so. Allerdings höre ich die Ohrwürmer dann doch lieber nur alle 10 Jahre einmal, vor allem die, die ich als Kind mir eingepaukt habe. Ein Ohrwurm hat selbstverständlich eine besondere Qualität, die man auch würdigen sollte. Das gilt dann insbesondere auch für Popmusik, etwa von ABBA.