WAGNER, Richard: DAS LIEBESMAHL DER APOSTEL

  • Richard Wagner (1813-1883):


    DAS LIEBESMAHL DER APOSTEL
    Eine biblische Szene (WWV 69)
    Text vom Komponisten auf Grundlage des im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte des Lukas geschilderten Pfingstgeschehens


    Widmungsträgerin: Charlotte Emilie Weinlig, geb. Treitschke


    Uraufführung am 6. Juli 1843 in der Dresdener Frauenkirche unter der Leitung Wagners


    BESETZUNG


    Drei Männerchöre (jeweils zwei Tenöre und Bässe)
    Die Apostel (zwölf Bässe)
    Stimmen aus der Höhe (sechzehn Tenöre, zwölf erste, zwölf zweite Bässe)


    Orchesterbesetzung: Kleine Flöte, zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, vier Fagotte, ein Serpent, vier Hörner, vier Trompeten, drei Posaunen, eine Tuba, zwei Harfen, vier Pauken, sechzehn Violinen I, sechzehn Violinen II, zwölf Bratschen, 12 Violoncelli, acht Kontrabässe.


    Die Aufführungsdauer beträgt etwa dreißig Minuten.



    INHALTSANGABE


    Jesu Jünger haben sich, heimlich aus Angst vor den Juden, in Jerusalem eingefunden, um in einem gemeinsamen Mahl des in den Himmel aufgefahrenen Herrn und Heilands zu gedenken. Der Gesamtchor eröffnet das Werk mit einem Gruß:

    Gegrüßt seid, Brüder, in des Herren Namen!
    Seid gegrüßt! Im Namen des Herrn,/der uns zum Mahl in Eintracht hier vereinet,
    damit inbrünstig seiner wir gedenken,/der von uns schied, den unser Herz beweint.


    Chor I erinnert an den Grund für das Treffen: Jesus Christus, Herr und Heiland, hat sein Blut für alle, die es [nach Gerechtigkeit] hungert und dürstet, geopfert und daher soll dieses gemeinsame Mahl sie als Stärkung dienen. Chor II, es sind die Verzagten, äußert Angst vor dem Hass der Mächtigen, die ihnen das Leben schwer machen könnten. Der Widerspruch kommt von den Unverzagten, die dem dritten Chor zugewiesen sind: Es gilt Vertrauen zu fassen und angesichts der ständig wachsenden Zahl von Gläubigen eigene Festigkeit im Glauben zu gewinnen. Genau das ist für die Verzagten ein Problem, denn der Hass der Feinde wächst in dem Maße, wie die Einigkeit unter der Schar wächst. Dennoch gilt für sie der Grundsatz:

    Ein jeder trag' den Erlöser im Herzen, auf dass/Wenn auch verstreut, wir einig bleiben!
    Wahrlich, es dränget uns die Zeit mit Not!/Der Mächtgen Spähn verfolgt uns überall!


    Durch die Wiederholung des ersten Satzes von Chor I wird etwas Ruhe in die Diskussion der Jünger gebracht. Dann treten die Apostel Jesu hinzu und entbieten zunächst allen Versammelten den Friedensgruß, erschrecken dann jedoch alle mit einer bedrückenden Nachricht: Die Mächtigen haben Jesu Lehre unter Androhung der Todesstrafe verboten. Darüber sind die Jünger verzweifelt und wenden sich mit einem Gebet an den Allmächtigen, Hilfe gegen das drohende Unheil zu gewähren und schließen das Gebet mit der Bitte

    send‘ uns Unmündgen deinen heil’gen Geist!

    ab. Und es geschieht tatsächlich ein Wunder: Aus der himmlischen Höhe und unsichtbar für alle Anwesenden ertönt der Engelchor

    Seid getrost!/Ich bin euch nah/Und mein Geist ist mit euch.
    Machet euch auf! Redet freudig das Wort,/das nie in Ewigkeit vergeht!/Machet euch auf!


    Dieser Zuspruch richtet die Verzagten wieder auf. Staunend vernehmen sie das Brausen in der Luft, hören sie die aufmunternden Worte und mit tiefer Dankbarkeit für die Hilfe von oben begrüßen sie, jetzt vom Gesamtchor gesungen, den „Geist des Herrn“.


    Die Apostel rufen alle auf, alle Drohungen zu vergessen und siegesmutig in die Welt hinaus zu gehen und allen Völkern das Wort des Herrn zu verkündigen:

    Seht die unzählgen Völker dieser Erde,/die der Verkündigung des Wortes harren!
    Seht die Beherrscherin der Welt, seht Rom!
    Dort wird dem Worte Macht,/die ganze Welt gleich einem Lichtstrahl zu durchdringen!


    Genauso soll es geschehen, so wollen alle Gottes Gebot erfüllen, trotzend allen Gefahren:

    Denn ihm ist alle Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit!


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Es ist, zugegeben, anfechtbar, dieses Wagnersche Opus bei den Oratorien einzureihen; es ist vom zeitlichen Umfang her eher eine Kantate. Allerdings lässt der monströse Aufwand, den Wagner im „Liebesmahl der Apostel“ betreibt (mit dem er außergewöhnliche Effekte erzielt), doch an ein Oratorium denken. Sicher ist, dass dieses Werk in der Musik des 19. Jahrhunderts einzigartig da steht. Die Einfügung in den Oratorienführer soll allerdings auch helfen, dem interessierten Musikfreund einen schnelleren Zugriff auf dieses Werk zu ermöglichen. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich auf den von Forenmitlied Joseph II. gestarteten Thread

    http://www.tamino-klassikforum…hl+der+apostel#post448154
    hingewiesen, der auch diskographische Hinweise enthält.


    Nach Wagners Rückkehr aus Paris nach Dresden (mit der am 2. Februar 1843 erfolgten Ernennung zum Königlich Sächsischen Hofkapellmeister) akzeptierte er wegen des im Juli 1843 geplanten „Zweiten Allgemeinen Dresdner Männergesangsfestes“ das Angebot, Chefdirigent der Dresdner Liedertafel zu werden, was er in „Mein Leben“ später hämisch kommentiert hat: „Diese [Liedertafel] bestand aus einer mäßigen Anzahl junger Kaufleute und Beamter, welche zu jeder Art geselliger Unterhaltung mehr Lust hatten als zur Musik.“


    Diese Position brachte Wagner naturgemäß auch mit mit dem Leiter der Liedertafel, einem Professor Löwe, zusammen, dessen Ehrgeiz Wagner veranlasste, ihn als „Robespierre“ zu titulieren. Besagter Professor hatte die Idee, ein neues, etwa halbstündiges a-capella-Werk bei Wagner in Auftrag zu geben. Wagner unterbrach die Arbeit am „Tannhäuser“ und entschied sich, die Pfingstgeschichte als Grundlage seines Textes zu wählen. Während er an Dichtung und Musik arbeitete, kamen ihm offensichtlich Zweifel an der Wirksamkeit eines nur für tiefe Männerstimmen komponierten Stücks und er entschloss sich, doch noch Orchesterstimmen hinzuzufügen, um Eintönigkeit entgegen zu wirken. Allerdings setzt das Orchester erst nach etwa zwanzig Minuten ein, also erst mit dem Erscheinen des Heiligen Geistes zu den Worten „Welch Brausen erfüllt die Luft“.


    Die Uraufführung am 6. Juli 1843 in der Dresdner Frauenkirche war ein großer Erfolg. Die Idee von Professor Löwe war, dass alle sächsischen Männerchöre an der Aufführung teilnehmen. So kam es zu der Massenveranstaltung von 1200 männlichen Chormitgliedern und einem 100 Mann starken Orchester, das hinter den Chören saß und fast den gesamten Kirchenraum einnahm; der Engelchor sang aus der Kuppel der Kirche. Die beiden Harfen gaben (leise im Hintergrund spielend) den Chören Intonationshilfe.


    Sicherlich hätte die breite öffentliche Zustimmung manchen Komponisten veranlasst, eine Karriere als Oratorienkomponist anzustreben, doch Wagner argumentierte anders: „Mich überraschte die unverhältnismäßig geringe Wirkung, welche aus diesem unermesslichen menschlichen Körperwirrwarr an mein Ohr schlug“. Es kann von daher auch nicht wirklich überraschen, dass er sich, erstens, die Dresdner Liedertafel „wieder vom Halse schaffen“ wollte (und in Ferdinand Hiller tatsächlich einen Nachfolger fand), und, zweitens, im Lauf der Jahre immer geringschätziger von seinem Opus sprach. Gegenüber Cosima nannte Wagner das Werk ein „Ammergauspiel“. Die Zeitgenossen mochten sich aber diesem Urteil nicht anschließen, denn „Das Liebesmahl der Apostel“ erschien schon 1844 bei Breitkopf & Härtel sowohl als Partitur als auch im Klavierauszug und schaffte es ohne Mühe ins Repertoire der deutschen Männergesangvereine. Der Leipziger Musikverlag gab 1870 und nochmals 1884 Nachdrucke heraus, 1892 dann mit englischer und französischer Übersetzung, und der Londoner Musikverlag Novello veröffentlichte 1876 und 1898 das Werk im Klavierauszug. Das ist zweifellos ein Beweis für das große Interesse an Wagners Werk - im Inland wie im Ausland.


    Der Kritiker und Musikhistoriker Hermann Kretzschmar äußerte 1890, „Das Liebesmahl der Apostel“ sei eine „feste und glänzende Säule der Gattung” und der verspätete Einsatz des Orchesters galt ihm ein „wunderbarer elementarer Effect, den man zeitlebens nicht wieder vergisst“. Wer in diesem Zusammenhang an den Mönchschor aus „Tannhäuser“ denkt, wer den Gesang der Matrosen in „Tristan und Isolde“ im Ohr hat oder, thematisch näherliegend, sich an die Gralsritter in „Parsifal“ erinnert, wird Wagner zustimmen, der im Juni 1879 gegenüber Cosima, allerdings ironisch gemeint, äußerte, „Da erkennt man ganz den Komponisten von Tristan und Isolde.“



    © Manfred Rückert für den Tamino-Oratorienführer 2014
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Libretto in „Sämtliche Schriften“, 11. Band
    Wagners Briefe: Band 2, Nr. 86 (an Cäcilie Avenarius, Paris, mit der Schilderung der Entstehung, Ausarbeitung und Aufführung) und Nr. 104 (an Raymund Härtel, Leipzig, dem Wagner das Werk zum Druck anbietet)
    Wagners Briefe: Band 4, Nr. 171 (an Franz Liszt, Weimar, mit kurzen praktischen Aufführungshinweisen)
    Das Wagner-Kompendium (Hrsg, Barry Millington, Droemer Knaur, 1996)

    .


    MUSIKWANDERER