Die Oper mit ihren eigenen Mitteln schlagen? (Helmut Mauró in der Süddeutschen Zeitung vom 21.5.2014)

  • Unter dem Titel "Auf Satan! So schlägt man die Oper mit ihren eigenen Mitteln" rezensiert Helmut Mauró in der Süddeutschen Zeitung vom 21. Mai 2014 (S. 13) die neue Produktion von Gounods "Faust" in Amsterdam. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass er die Inszenierung von Álex Ollé, der zur Truppe La Fura dels Baus gehört, enthusiastisch lobt, obwohl ich deren Arbeiten skeptisch gegenüber stehe. Dass er die Effektheischerei der katalanische Theatergruppe als "schon mal die halbe Miete" betrachtet, führt dann bei mir zwar zu einem Kopfschütteln, aber auch das kann ich noch akzeptieren. Entsetzt hat mich aber, mit welchen Argumenten der Autor sein Lob für den Regisseur dann begründet. Es lohnt sich, den Schluss des Artikels komplett zu zitieren:


    "Die besten Sänger, die zum Teil großartige Musik und die glanzvollste Regie kann [sic!] natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Tragödie ihren moralinsauren fauligen Dauergeruch nie los wird. Regisseur Ollé kann ihn lediglich ein wenig veredeln, indem er in spanisch-katholischer Tradition düster ausmalt, was in der Seele des Faust an Ungeheurem und an Ungeheuern tobt, wie Satan nach seiner Seele greift. Aber immerhin, Faust hat ja sein Vergnügen, während die naiv Liebende, das Gretchen, mental und sozial zerstört am Boden liegt und der Hinrichtung entgegenfiebert, als wäre es das höchste Glück. Dirigent Marc Minkowsky scheint hier überraschenderweise ganz in seinem Element zu sein. Selbst dort, wo die Rotterdamer Philharmoniker ihm nicht in jeder Zuckung akkurat folgen, tobt und wütet er, suhlt sich in der romantisch-sinnlichen Katastrophenmusik, wird geradezu lüstern, wenn Gretchen, die Unberührbare, ihrem Liebesleid erliegt. Als ginge es auch in den abwegigsten harmonischen Wendungen um Schuld und Sünde, als müsste auch der letzte Tutti-Streicher sich noch an der Geschichte aufreizen. Aber genauso muss man diese Oper spielen, muss sie sexuell aufladen, wo sie sich prüde um das Eigentliche herumdrückt, muss sie gleichsam mit sich selber konfrontieren, sie mit ihren eigenen Mitteln schlagen."


    Ich habe bekanntlich nichts gegen Aktualisierungen und zeitgenössische Deutungen von Opern, und ich habe auch nichts gegen sexuelle Aufladungen. Aber wenn eine Inszenierung sich gegen das Stück richtet, weil der Regisseur die Aussage der Oper eigentlich ablehnt, dann finde ich das zumindest diskussionsbedürftig, und ganz sicher "muss" man diese und andere Opern nicht so spielen. Ein Regisseur darf und soll eine Oper deuten und interpretieren (so jedenfalls meine Meinung), darf er sie aber auch negieren oder "mit ihren eigenen Mitteln schlagen"? Ob dies die Amsterdamer Inszenierung wirklich tut, weiß ich nicht, da ich sie nicht gesehen habe, darauf kommt es mir auch gar nicht an. Mich entsetzt nur die Haltung dieses Kritikers, nicht nur gegenüber "Faust", sondern gegenüber der Oper schlechthin, wie seine Schlussbemerkung zeigt: "Alle alten Opernschinken müssen so gespielt werden. In Amsterdam ist das wie selten gut geglückt, und wunderbar ansehnlich dazu".


    Wessen Grundhaltung gegenüber Opern darin besteht, sie zunächst einmal als "alte Schinken" anzusehen, die durch eine das Werk auf den Kopf stellende Inszenierung geläutert werden müssen, der hat meiner Meinung nach als Opern-Kritiker den Beruf verfehlt. Und das sage ich trotz meiner grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber dem Regietheater. Oder habe ich das alles falsch verstanden? Dann bitte ich um Aufklärung.


    P.S. Gerne hätte ich den Artikel verlinkt, aber ich habe keine Online-Version gefunden.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ich zitiere mal aus einem anderen Artikel des Herrn Mauro:


    "Bei Bieito gibt es normalerweise immer eine Szene, in der die Atmung aussetzt, in der man einen echten kleinen Schock abbekommt. Meist ist es die aus aller stumpfen Gewohnheit und kulturellen Verbrämung herausgeschälte nackte bluttriefende Gewalt, die schockiert und einen Teil des Publikums gleich so verschreckt, dass es aus der Theaterwelt herausgerissen ist und Regisseur und Intendanz mit dem zum Totschlag-Reizwort hochgejazzten "Regietheater" persönlich haftbar macht für die Theaterwirkung.

    Diese Gefahr bestand diesmal nicht, das Regieteam bekam neben Nagano die entschiedensten Bravo-Salven, kein einziges Buh war darunter. Das sollte Bieito zu denken geben." (Helmut Mauro, SZ, 14.2.2013).


    Das muss man ja wohl nicht weiter kommentieren.

  • "Die besten Sänger, die zum Teil großartige Musik und die glanzvollste Regie kann [sic!] natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Tragödie ihren moralinsauren fauligen Dauergeruch nie los wird."


    "Dirigent Marc Minkowsky scheint hier überraschenderweise ganz in seinem Element zu sein. Selbst dort, wo die Rotterdamer Philharmoniker ihm nicht in jeder Zuckung akkurat folgen, tobt und wütet er, suhlt sich in der romantisch-sinnlichen Katastrophenmusik, wird geradezu lüstern, wenn Gretchen, die Unberührbare, ihrem Liebesleid erliegt."


    Diese zwei Zitate aus der Faust-Besprechung von Herrn Mauró möchte ich wiederholen, weil sie eines deutlich machen, was ich seit einiger Zeit an Kritiken beobachte: Sie wollen noch einmal eines drauf setzen, ihre eigene Inszenierung sein als reichte das, was sie beschreiben und werten sollten nicht aus. Deshalb lese ich fast gar keine Kritiken mehr.


    Und mit Verlaub, wie will einer hören in einem Opernhaus, dass der Dirigent "lüstern" dirigiert und sich in Musik "suhlt"? So etwas habe ich mein Lebtag nicht gelesen. Das geht auch bildlich gesprochen nicht. Das ist so billig wie völlig daneben, effekthascherisch und über die Maßen eitel. Wenn hier einer die Oper schlägt, dann Mauró mit seiner Kritik. :(


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Danke, lieber Bertarido Beim Lesen der von Dir eingestellten Auschnitte aus dieser Kritik empinde ich, dass sich dieser Rezensent in seinen eigenen Wortschöpfungen sonnt und in Worttiraden suhlt. Ein Kritiker, der im Schreiben seine narzißtischen Neigungen auslebt, frönt der Bespiegelung seines Ego. Er hat seine Aufgabe mißverstanden und verfehlt, weil er nicht für seine Leser, sondern aus eigensüchtigen Motiven heraus formuliert. Man müsste allerdings die Aufführung gesehen haben, um wirklich ein Urteil fällen zu können.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Zitat

    Operus: Danke, lieber Bertarido Beim Lesen der von Dir eingestellten Auschnitte aus dieser Kritik empinde ich, dass sich dieser Rezensent in seinen eigenen Wortschöpfungen sonnt und in Worttiraden suhlt. Ein Kritiker, der im Schreiben seine narzißtischen Neigungen auslebt, frönt der Bespiegelung seines Ego.


    Mein lieber Hans!


    Leider liest man immer wieder solche Kritiken, in der Regisseure indirekt aufgefordert werden etwas Neues zu bringen, ob es dem Publikum gefällt oder nicht. Und der "althergebrachten Katastrophenmusik" könnte man auch noch etwas "Poppiges" zusetzen. Nein danke! Ich freue mich daher schon auf die AIDS-Gala am 15. 6. in Bonn. Da kann kein Regisseur hineinpfuschen!



    Herzlichst
    Wolfgang

    W.S.

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