Ernesto Nazareth (1863 - 1934)
Wenig bekannt, dass Heitor Villa-Lobos einen Vorläufer hatte: Ernesto Nazareth, geboren 1863 in Rio de Janeiro. Über sein Leben gibt es wenig zu berichten, denn es verlief im Kreise der Familie in geordneten Bahnen. Seine Mutter zeigte ihm, wie man Klavier spielt, und er bildete sich als Autodidakt selbst weiter. Die Plattform seines Wirkens waren seltener die Konzertsäle der Welt, sondern die Kinos von
Rio de Janeiro. Man sagt, die Leute gingen nicht wegen des Films ins Kino, sondern sie wollten seine Improvisationen hören. Seine Stücken basieren auf Tanzrhythmen wie Tango, Walzer und Polka, sind schlicht konzipiert, und stellen keine Ansprüche an den Zuhörer. .Ähnlich wie bei Louis Moreau Gottschalk (1829-1869), der das Klavier auf die Terrasse schob und dann loskomponierte, streichelt Nazareth mit der Honigquaste die Seele und spornte die „höheren Töchter“ an, ihre Hausmusik um seinen Stil zu bereichern.
Der Franzose Darius Milhaud, Komponist der „Saudades do Brasil“, äußerte sich positiv über den Entertainer, für ihn war er die „Seele Brasiliens“. Persönlich teile ich diese Ansicht nicht, das Attribut, die „Seele Brasiliens“ zu sein, gehört einzig und allein Heitor Villa-Lobos. Ernesto Nazareth, ein Kind des Volkes, schaute trotz der zahlreichen Tangos, die er hinterließ, viel zu sehr auf die Eleganz der europäischen Salons, denn auf seine Herkunft oder seine Wurzeln. Die musikalische Entwicklung von Scott Joplin verlief ähnlich, sein Rhythmus ist aber ausgeprägter.
Zum Ende seines Lebens wurde Nazareth taub und starb im Jahre 1934 in geistiger Umnachtung, ein Schicksal, welches auch einige andere bedeutende Komponisten erleiden mussten.
Mir liegt die Einspielung von Marco Antonio de Almeida vor. Erfreulicherweise hat Nazareths Musik in der Gegenwart eine Aufwertung gefunden, denn etliche Interpreten nehmen sich des Brasilianers an. Ein Vergleich mit dem wesentlich jüngeren Villa-Lobos empfiehlt sich nicht, beide setzen die Akzente zu unterschiedlich. Der dritte im Bunde brasilianischer Komponisten wäre Francisco Ernani Braga (1868-1945), Lehrer Villa-Lobos’, ein excellenter Kenner der Brasilianischen Folklore. Der Nachwelt hat er wunderschöne Lieder hinterlassen, die Teresa Berganza interpretiert.
Engelbert