Britische Komponisten ab 1860 - überschätzt - unterschätzt ?

  • In den letzten Monaten wurde in diesem Forum ja des öfteren über Werke von Britischen Komponisten geschrieben. Unter anderm kam auch das Thema zur Sprache ob die britischen Kritiker und Musikwissenschafter ihre Landsleute ein wenig überschätzten. Das gleiche gilt auch für britische Klassiklabels, die eine Unzahl von Werken britischer Komponisten eingespielt haben - während auf der anderen Seite, diese Komponisten in der deutschen Fachliteratur allenfalls in Form einer Fußnote Erwähnung finden - zumeist aber überhaupt nicht. Im Forum wurde allerdings in neuerer Zeit auf zahlreiche britische Komponisten der letzten 150 und ihre Werke hingewiesen, was sich positiv auf meine Sammlung und fatal auf mein Bankkonto ausgewirkt hat....


    Wie ist Eure persönliche Bewertung dieser Komponisten: im deutschen Sprachraum unterschätzte Komponisten der ersten Garnitur -oder dem britischen Patriotismus zuzuordnende Überbewertung von allzu Mittelmäßigem ?


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Britische Komponisten werden auf dem Kontinent vielfach noch unter-, in Großbritannien hingegen überschätzt. Ausnahme ist Benjamin Britten, den ich als erstrangigen britischen Komponisten ansehe (der erste seit Purcell), der auch weltweit die ihm gebührende Anerkennung erfährt. Alle anderen - Vaughan Williams, Walton, Holst, Bax, Elgar u.v.m. - sind besser, als es ihrem Ruf und Bekanntheitsgrad außerhalb der britischen Inseln entspricht, aber spielen nicht in der gleichen Liga wie Mahler, Strauss, Debussy, Stravinsky, Berg, Janacek...

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Hallo Taminos, hallo Alfred,


    erst heute morgen habe ich über einen solchen Thread nachgedacht, und schwupp, da erstellt Du, Alfred, diesen! Die Britischen Komponisten halte ich keineswegs für überschätzt (mal von Elgar abgesehen), sondern eher unterschätzt. Alle gut bekannten britischen Tonschöpfer ( dazu zähle ich u.a. Bax, Stanford, Moeran [zähle ich trotz seiner Irischen Herkunft dazu] , Harty, Bantock und Brian) verfügen über ein gutes Handwerk, eine hervorragende Instrumentation und größtenteils auch über einen eigenen Stil, der nicht so nah am Britischen Großmeister Elgar hängt. Melodische Einfälle, oft auf Basis traditioneller Volkslieder machen für mich diese Musik noch interessanter. Letztendlich dürften die Britischen wie auch die nordischen Komponisten an einer gewissen "Unmodernheit" leiden (welch ein Argument...), weshalb ihnen der Eintritt in die Konzertsäle nach deren Lebenszeit verwehrt wurde.


    Grüße
    Christian

  • Überschätzt-unterschätzt - eigentlich ist mir das egal, denn für mich zählt letztendlich, was ich über diese Musik denke.


    Ich reorganisiere gerade meine CD-Sammlung - ich bewahre die CDs in Plastikhüllen und Leitzarchivboxen auf - und zwar von rein alphabetisch zu Land/Region und alphabetisch. Gestern habe ich alle CDs von der britischen Insel einsortiert und bin auf zwei volle Archivboxen gekommen. Das geht los bei Alwyn, Arnell, Arnold, gehrt weiter mit Bax und Brian und endet schließlich bei Woodsworth. Also, ich bin unendlich dankbar, dass es all diese Musik gibt. Gerade heute morgen im Auto wieder die 1. Symphonie von Cyril Scott gehört. Was für eine tolle Musik.


    Welcher deutsche Komponist nach Mahler hat denn noch hörenswerte Symphonien komponiert: Hindemith, David, Krenek vielleicht, Hartmann (obwohl mehr geachtet als geliebt), Henze (für mich allerdings ein Totalausfall). Ein paar Komponisten in der DDR.


    Nein, da bin ich froh, das es all diese Musik gibt. Auch wenn sie nicht in der von Bertarido genannten Liga spielt. Denn deren Kompositionen kenne ich alle schon zu gut um damit zufrieden zu sein.

  • Mir kommt es so vor, als hätte der "Kontinent" schon immer eine gewisse Abneigung gegen Musik aus dem Norden und von den Britischen Inseln. Man nehme nur den Fall Sibelius. Erst heute ist er auch bei uns so stark vertreten, wie es ihm gebührt. Im angloamerikanischen Raum war er bereits zu Lebzeiten ein Star und überschattete in einer repräsentativen US-Umfrage aus den 30er Jahren sogar Beethoven und Mozart, wenn ich mich recht entsinne. In Mitteleuropa dagegen wurde er fast schon negiert. Erst seit ca. 1960 änderte sich das (sehr langsam).


    Was wird denn an britischen Komponisten ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland/Österreich überhaupt regelmäßig gespielt? Holsts "Planets", Elgars "Enigma-Variationen", vielleicht ab und zu eine Symphonie von Elgar oder Vaughan Williams. In der Oper wohl ausschließlich Britten.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Es ist natürlich immer schwer, allgemeine Aussagen zu treffen. Überschätzt - von wem? Gehen wir da von einem Durchschnitts-Klassikhörer aus? Gibt es den überhaupt? Von den Verkaufszahlen oder der Häufigkeit der Aufführungen im Konzertleben?
    Zudem stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien wollte man vergleichen, ob Janacek "besser" als Holst ist, oder Debussy bedeutender als Elgar?
    Neben all diesen Ungereimtheiten komme ich für mich zu dem Ergebnis, dass britische Musik, genau wie die spanische, sehr viel mehr gehört werden sollte; dank Entdecker-Labels wie Naxos, dem Internet, Radio etc. ist dies heutzutage ja einfacher möglich denn je.
    Zumindest denke ich, dass allein schon aus kulturhistorischer Sicht eine intensive Auseinandersetzung und Kenntnis dieser Komponisten lohnend und sinnvoll ist und eine Bereicherung darstellt - unabhängig davon, ob sie jetzt zu den allergrößten Komponisten gehören, die den Lauf der Musikgeschichte entscheidend geändert haben.
    Ob rein musikhistorisch, kompositorisch oder aufführungstechnisch britische Musik über- oder unterschätzt wird, wage ich nicht zu entscheiden - dass sie aber noch weitaus präsenter und populärer sein sollte, als dies wohl der Fall ist, scheint mir ein berechtigter Wunsch zu sein.

  • Naja, bei so einem klaren Fall wie Debussy und Elgar kann man schon Kriterien nennen. Debussy ist einer der originellsten und einflussreichsten Komponisten in der gesamten Musikgeschichte. Elgar mag zwar für eine "Auferstehung" britischen Musik verantwortlich gewesen sein (denn die zwischen 1760 und 1860 interessiert ja noch weniger Hörer), aber wenn er ein Deutscher oder Österreicher gewesen wäre, würde er vermutlich etwa so bekannt sein wie Draeseke, er ist bei allem Respekt eine lokale Größe.


    Musik hatte im 19. Jhd. auch kaum je den gesellschaftlichen Stellenwert in Großbritannien wie auf dem Kontinent, soweit ich weiß. Ich weiß nicht genau, woher die Rede vom "Land ohne Musik" herstammt, aber jemand wie Tovey (ein konservativer Befürworter Elgars) geht noch in Texten aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jhds. nicht zimperlich mit seinen Landleuten, was deren vorgebliche weitgehende Ignoranz gegenüber ernster Musik betrifft, um. Man hat, etwas überzogen, seit dem 18. Jhd. italienische und deutsche Komponisten "importiert" (Händel, Haydn, Clementi, Hummel usw. bis zu Mendelssohn) und die Eigengewächse hielten sich dann recht eng an diese Vorbilder (wie zB Boyce an Händel).


    Meiner Ansicht nach werden eher eine Reihe französischer Komponisten aus der Spätromantik und dem frühen 20. Jhd. unterschätzt bzw. sind nur mit Einzelwerken vertreten. Das beginnt sogar schon bei dem oft auf zwei Werke reduzierten Cesar Franck und dem "flachen Vielschreiber" Saint-Saens, trifft aber besonders bei Chausson, Magnard, D'Indy, Chabrier, Fauré, Roussel zu. Das liegt aber sicher nicht an Elgar, sondern eher daran, dass die etwas jüngeren Debussy und Ravel so außerordentlich präsent sind.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Man hat, etwas überzogen, seit dem 18. Jhd. italienische und deutsche Komponisten "importiert" (Händel, Haydn, Clementi, Hummel usw. bis zu Mendelssohn) und die Eigengewächse hielten sich dann recht eng an diese Vorbilder (wie zB Boyce an Händel).


    Lieber Johannes,


    ich stimme Deiner Einschätzung zu, wobei der von Dir im Zitat angeführte Umstand allerdings doch auch belegt, dass zumindest in der Oberschicht die Wertschätzung der ernsten Musik schon gegeben war, sonst hätte man sich ja nicht bemüht, die besten Kräfte zu importieren - zumal diese nicht, wie z. B. Händel, der ja sogar in Westminster Abbey bestattet ist, jahrelang in einem Land gelebt hätten, wenn es dort keine Begeisterung für seine Musik gegeben hätte.
    Von daher stellt sich mir die Frage, warum trotz zumindest einer gewissen Musikbegeisterung wenigstens in manchen Gesellschaftsschichten vergleichsweise wenige bahnbrechende Neuerer von der Insel kamen?
    Aufgrund einer eher konservativen Geisteshaltung? Weniger Förderung des Musiklebens und qualifizierter Lehrer? Oder standen eher andere Musikrichtungen als die "ernste" im Blickpunkt?

  • BINGO - Es haben hier einige ganz richtig geschrieben, daß ja eigentlich (und uneigentlich auch ;) ) nicht nur britische Kompositionen der letzten 150 Jahre im deutschen Sprachraum negiert wurden - sondern ebenfalls fast alle skandinavischen, spanischen, italienischen, französichen und russischen Komponisten - von Ausnahmen mal abgesehen. Der Unterschied ist lediglich der, daß die Briten - einschlägige Klassik-Publikationen und die Veröffentlichung einiger rühriger Klassik-Labels seien mein Zeuge - die Musik ihrer Landsleute mit geradezu beispielloser Konsequenz vor dem Vergessen bewahren.
    Das war eigentlich schon "immer" so - aber allmählich scheint es Früchte zu tragen. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten, daß das Tamino-Klassikforum - und hier meine ich seine Mitglieder - so etwas wie Pionierarbeit geleistet haben - und immer noch leisten. Und natürlich auch das Label NAXOS. Von Chandos Hyperion und Toccata erwartet man ja nichts anderes, aber Naxos bietet hier quasi als "Aussenseiter" Unmengen von britischem Repertoire an - und das durchwegs in guter bis ausgezeichneter, manchmal sogar hervorragender Qualität.....


    mir freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Elgar mag zwar für eine "Auferstehung" britischen Musik verantwortlich gewesen sein (denn die zwischen 1760 und 1860 interessiert ja noch weniger Hörer), aber wenn er ein Deutscher oder Österreicher gewesen wäre, würde er vermutlich etwa so bekannt sein wie Draeseke, er ist bei allem Respekt eine lokale Größe.

    Lieber Johannes
    da gebe ich Dir völlig recht und wenn es einen Komponisten von der Insel gibt, den ich tatsächlich für überschätzt halte, ist es Elgar. Mir fallen mindestens ein Dutzend britische Komponisten ein, die ich für bedeutender halte als Elgar.


    Was hat er denn geschrieben: zwei nur teilweise gelungene Symphonien, ein schönes Cellokonzert, das aber nur deshalb so bekannt ist, weil es die auf der Insel abgöttisch verehrte du Pre so unvergleichlich eingespielt hat. Ein Violinkonzert, für dass sich allerdings bisher nur zwei Geiger wirklich interessiert haben, Menuhin und Kennedy. Eine Handvoll populärer Märsche, ein paar Oratorien, die wohl nur auf englischem Boden wirklich genießbar sind.


    Das einzig wirklich geniale Stück sind die Enigma-Variationen mit dem Nimrod-Satz, der ja dann in vielfältigen Abwandlungen in fast allen anderen Stücken wieder auftaucht.

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  • ein paar Oratorien, die wohl nur auf englischem Boden wirklich genießbar sind.



    lieber lutgra,



    da erlaube ich mir, von Deiner Meinung abzuweichen; wie toll zum Beispiel der niederländische Rundfunk dieses wunderschöne Oratorium "The Dream of Gerontius" aufgeführt hat, und das nicht auf englischem Boden, lässt sich exemplarisch an diesem Videobeispiel zeigen:



    Ich finde, dass dieses Werk schon bemerkenswert ist und eine eigene, interessante Tonsprache mit vielen schönen Momenten bietet.

  • Zitat

    Mir fallen mindestens ein Dutzend britische Komponisten ein, die ich für bedeutender halte als Elgar.

    Kann denn jemand sagen, warum Elgar diese Vormachtstellung hatte? Ich selber halte letztendlich auch nur seine Nimrod-Variationen und die vor Patriotismus sprühenden Märsche für wirklich wertvoll. Insbesondere seine wenigen Klavierwerke sind an Banalität kaum zu übertreffen.
    Da ich selber ausübender Pianist bin und mein nächstes Konzert unter dem Motto "Music from the British Islands" steht, habe ich vor einiger Zeit angefangen ein typisch britisches Programm zusammenzustellen - ein Programm, welches den besonderen Klang des Landes wiedergeben soll. Von Elgar befindet sich nur ein Werk darin, schlichtweg weil ich seine Musik größtenteils als recht unenglisch empfinde. Wie kommt es, dass Elgar, als der Britische Komponist gilt, obwohl Bantock, Bax oder Bridge eine wirkliche für das Land typische Tonsprache entwickelten?


    LG
    Christian


  • Sir William Turner Walton, OM (1902—1983)


    Für mich ist besonders Sir William Walton einer der herausragendsten britischen Komponisten der letzten 150 Jahre. Ein produktiver Komponist (vollständige Liste seiner Kompositionen). Er schrieb u. a. zwei Symphonien, "Belshazzar's Feast" (1931), das "Coronation Te Deum" (1952) sowie etliche berühmte Märsche, darunter "Crown Imperial" (für die Krönung von George VI. 1937) sowie "Orb and Sceptre" (für die Krönung von Elizabeth II. 1953). Ferner komponierte er viel Filmmusik, u. a. zu "Henry V" (1944), "Hamlet" (1948) und "Richard III" (1955). 1951 wurde er von George VI. zum Ritter geschlagen, 1968 von Elizabeth II. in den auf lediglich 24 Mitglieder beschränkten Order of Merit aufgenommen.


    Waltons Tonsprache ist nach meinem Eindruck sehr traditionell und spätromantisch angehaucht, was jedem Freund der Musik des 19. Jahrhunderts entgegenkommen dürfte. Es erinnert stellenweise ein wenig an Elgar, ohne zur Kopie herabzusinken. Er repräsentiert sehr gut den imperialen Musikstil der späten Jahre des British Empire.

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    – Luís de Camões

  • Zitat

    (Joseph II.): Man
    nehme nur den Fall Sibelius ... Im angloamerikanischen Raum war er bereits zu Lebzeiten ein Star ... In Mitteleuropa dagegen wurde er fast schon negiert. Erst seit ca. 1960 änderte sich das (sehr langsam).


    Das war ursprünglich etwas anders. Während seiner frühen und mittleren Karriere wurde Sibelius in Deutschland häufiger aufgeführt als im UK. Erst seit den zwanziger Jahren begann sich dieses Verhältnis umzudrehen. Sibelius wurde zum Vorbild vieler britischer Komponisten bei der Entwicklung einer vermeintlich nationalen, nordischen (d. i. nicht in deutscher Tradition stehenden) sinfonischen Sprache. Da Sibelius relativ einfach imitierbare Stilprinzipien vorgelegt hatte, fanden sich rasch zahlreiche, nicht selten drittklassige oder jedenfalls wenig einfallsreiche Epigonen. Nicht zuletzt dieses "Epigonentum" hat ja z.B. Adorno in seiner Sibelius-Ablehnung bestärkt, was natürlich unfair, aber im Hinblick auf die formale Analyse in sich durchaus schlüssig war. Gleichzeitig hatte die spätere Ablehnung im deutschssprachigen Raum natürlich auch etwas mit der Tatsache zu tun, dass Sibelius in seinen späteren Werke das traditionelle "deutsch- österreichische" Sonatenschema und das überkommene polyphone Denken (welches für Mahler noch relevant war) weitgehend ignorierte.


    Zitat

    (Christian Biskup): Kann denn jemand sagen, warum Elgar diese Vormachtstellung hatte?... Wie kommt es, dass Elgar, als der Britische Komponist gilt, obwohl Bantock, Bax oder Bridge eine wirkliche für das Land typische Tonsprache entwickelten?


    Gegenüber Bax oder gar Bridge war Elgar eben der Komponist, der die lange Leere in der englischen Musikgeschichte beendete. Dabei war es zunächst wohl gerade hilfreich, dass sich Elgar einer eher mitteleuropäischen Musiksprache bediente und Britannien demonstrativ wieder auf kontinentales Niveau zu heben schien. Die frühen "nationalen" Ansätze der Zeitgenossen, wie Bantock oder Wallace, galten demgegenüber wohl als relativ unvollkommen oder "volkstümelnd-primitiv" (ein ähnliches Phänomen lässt sich in der zeitgleichen amerikan. Musik beobachten). Zudem scheint sich Elgar schon recht früh erfolgreich als Inkarnation des englischen Gentleman verkauft zu haben und war in vielen Gattungen b.z.w. Genres unterwegs.

  • leigh.jpg


    Kennt jemand eigentlich Walter Leigh? Er scheint als eine große Komponistenhoffnung gegolten zu haben. Sein früher Tod im Zweiten Weltkrieg (er fiel 1942 in Libyen) hat das jäh zunichte gemacht, wenige Tage vor seinem 37. Geburtstag.


    Durch Zufall stieß ich auf seine "Agincourt Overture", die verschiedenen Angaben zufolge entweder für das Silberne Regierungsjubiläum von Georg V. 1935 oder die Krönungsfeierlichkeiten von Georg VI. 1937 komponiert wurde. Leigh greift den berühmten "Agincourt Carol" von etwa 1415 auf (ab 5:06 in der gezeigten Aufnahme). Anders als Walton, der ihn ebenfalls wenige Jahre später in "Henry V" aufgriff, lässt ihn Leigh allerdings zärtlich und dezent beginnen. Flöte und Harfe, begleitet von den Streichern, lassen eine romantische Stimmung aufkommen, ein wenig an "Scarborough Fair" erinnernd. Später stimmt das volle Orchester die Melodie an, was ziemlich Eindruck macht. Dieses Werk würde sich für die Proms geradezu anbieten.



    Es ist natürlich auch auf CD erschienen, in der offenbar einzigen erhältlichen Aufnahme des New Philharmonia Orchestra unter Nicholas Braithwaite von 1975:


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    – Luís de Camões

  • Ich stelle mal kühn die These in den Raum, daß die geringe Präsenz englischer Komponisten nicht mit deren "Qualität" (was immer man darunter verstehen mag) in unmittelbarem Zusammenhang steht, sondern daß es lediglich darum geht mit welcher Musik wir aufgewachsen sind. Die Engländer lieben ja ihre Komponisten - wie Bertarido schon schrieb. Ich glauibe, das hat weniger mit Nationalstolz zu tun, als mit einem gewissen "nationalen Unterton". Den können natürlich nur Engländer hören , als Beispiel fällt mir hier ein , wenn ich vom "wienerischen" bei gewissen Komponisten schreibe (insbesondere Schubert), dann verstehen die Deuschen gar nicht wovon die Rede ist - sie hören es einfach nicht - sind in diesem Punkte unsensibel, sie meinen, Musik sei "international" - und jedes Orchester könne sie spielen. In letzter Konsequenz ja, aber auch russische Orchester können russische Komponisten überzeugender interpretieren als "internationale". Ähnliches gilt auch für nordische Orchester. Auch die nordische Musik wird erst allmählich für uns erschlossen.


    Aber kehren wir zu den Engländern zurück. Es wurde weiter oben geschrieben, es gäbe kaum bedeutende Englische Komponisten zwischen Purcell und Britten.
    Das Wort "bedeutend" ist mir in Sachen klassischer Musik ohnedies suspekt, weil viele Komponsten "gepusht" und als "bedeutend" ettikettiert wurden, deren Musik eigentlich niemand recht hören man, was dazu führte, daß deren Anhänger, diese Komponisten als noch "bedeutender" bezeichneten, weil das Publikum sie einfach nicht verstehe, sie schrieben einfach aus Selbstverwirklung des eigenen Genies......


    Es gibt einen englischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, den ich sehr schätze: Cipriani Potter (1792-1871)
    Von seinen 10 (12 ???) Sinfonien sind 9 erhalten, Sie wurden vor und um 1989 vom Milton Keynes Chamber Orchestra unter Hilary Davan Wetton für das Label UNICORN KANCHANA.eingespielt. Das Label stellte seine Aktivitäten um 1990 ein - und somit verschwanden auch die Aufnahmen.
    Es gibt sie teilweise noch bei Youtube zu hören



    Ich werde mich in nächster Zeit den weniger bekannten Werken englischer Komponisten widmen, damit jene, die sich immer beschweren, der Instrumentalteil sei hier unterrepräsentiert, auf ihre Kosten kommen - Die Ohren sollen ihnen rauchen :hahahaha::stumm::untertauch:


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Diskographisch hat sich in den letzten Jahren erfreulicherweise einiges getan. Vermutlich wurde auf diese oder jene Erscheinung bereits andernorts hingewiesen.



    Erlaubt man auch Kompositionen, die vor 1860 entstanden sind, so müsste man noch mehr hinzufügen.




    Zudem werden vermehrt auch englische Opern des 19. Jahrhunderts eingespielt, die bisher wohl kaum jemand auf dem Schirm hatte.




    Mir scheint, die Situation auf dem Tonträgermarkt hinsichtlich britischer Komponisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat sich in den letzten zehn Jahren nochmal deutlich verbessert. Das mag wohl auch daran liegen, dass gerade britische Labels hier sehr umtriebig agieren und dahinter sind, Lücken zu schließen.

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    – Luís de Camões

  • Unterschätzt werden sie bei mir schon lange nicht mehr. Arnold Bax, Ralph Vaughan Williams, Malcolm Arnold, William Walton um nur ein paar zu nennen, alles für mich hervorragende Komponisten. Die große Vielfalt hatte alle gemein, ob für großes Orchester, Kammermusik, Vokalwerke oder Filmmusik.


    Zur Zeit ist Arnold Bax mein heimlicher Favorit, sein symphonisches Schaffen beeindruckt mich.

    Seine oft stark rythmisch, bläserbetonte Art musikalische Vorstellungen in Töne umzusetzen, gefällt mir äußerst gut. Ähnlich empfinde ich es auch bei den anderen genannten Komponisten, eine durch und durch britische Musiksprache.

    Wohl möglich, dass sie nicht an die traditionellen festlandeuropäischen Meister anknüpfen können.

    Aber nein, unterschätzt von mir nicht.


    Ein paar Empfehlungen:







    Mit englischen Opern des 19. Jahrhunderts kann ich leider gar nichts anfangen, überhaupt nicht mein Geschmack.

  • ich habe schon an mehreren Stellen auf diese schöne Box aufmerksam gemacht. Hier finden wir einige englische Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts, die zumindest mir nicht durchgehend geläufig sind (waren) und durchaus interessant zu hören sind.



    Von Britten und Bridge einmal abgesehen, sind hier Edmund Rubbra, Arnold Bax, Alan Rawsthorne, William Alwyn und Malcom Arnold zu finden, die ihre eigene Sprache (die mag empirisch sein :)) haben und des Hörens durchaus wert sind.

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  • Tolle Empfehlungen, lieber Apollon,


    denn genau diese Boxen britischer Komponisten (Beitrag 19) liegen mir vor und die hätte ich auch empfohlen.

    *** Vaughan-Williams mit Boult (EMI, natürlich in der Stereo-GA !) ist der Hammer schlechthin und sogar oh Wunder noch in den meisten Fällen den wirklich sehr guten Aufnahmen mit Handley (EMI) vorzuziehen.


    Allerdings zwei Einschränkungen:

    1. mit Tippett (die GA der Sinfonien habe ich auch) kann ich mich nach mehreren Versuchen einfach nicht anfreunden ... das Zeug ist mir zu trocken !!!

    Ich habe nur eine NAXOS CD von Tippett mit dem KK und den Ritual Dances, die mir ungleich mehr geben als die Sinfonien-Box (Chandos).


    2. Dyson kenne ich gar nicht ... das sollte ich vielleicht ändern !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Vom Aufnahmen sammelnden Klassikliebhaber werden die englischen Komponisten überschätzt, weil sich, wie Alfred schon schrieb, die Briten besonders in der Pflege ihrer nicht ganz so bedeutenden Komponisten hervortun - zumindest auf Tonträger und zumindest im konservativeren Bereich.

  • Ich meine: Wenn die Briten die Erinnerung an ihre Komponisten pflegen und dies in Aufführungen und Tonträgern kundtun, ist das zu begrüssen.

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Wenn die Briten die Erinnerung an ihre Komponisten pflegen und dies in Aufführungen und Tonträgern kundtun, ist das zu begrüssen.

    Ich finde am Beispiel meiner oben zitierten Box diese Präsenz sogar sehr wichtig. um eine eigene Beurteilung und einen Geschmack zu entwicklen. Gibt es so etwas nicht, hängt man einfach immer an dem, was gerade so en vogue ist. Da braucht es dann eine lange Zeit für einen Überblick.


    Persönlich finde ich es schade, dass wir in Deutschland das nicht so sehen wie die Briten.

  • Wenn es etwas moderner wird, wie bei den Zwölftönern Alan Bush oder Humphrey Searle, oder bei Komponisten, die vor allem weniger beliebte Besetzungen gepflegt haben wie die Liederkomponisten Ivor Gurney oder Peter Warlock, dann wird es auch bei britischen Komponisten schnell sehr übersichtlich, auch wenn sie in den großen Lexika vielleicht ähnlich geschätzt werden wie etwa Herbert Howells, dessen üppige Diskographie mich jedesmal verblüfft.


    England als Vorbild sollten wir uns nehmen etwa beim Österreicher Max Brand, von dem zwar wegen seiner Biographie auf der Flucht wenig erhalten ist, dessen Maschinist Hopkins aber zu den erfolgreichsten Opern seiner Zeit gehörte. Davon gibt es zwar eine Aufnahme, die unter dem ORF-Label zu bekommen war, aber selbst eine Wiederauflage halte ich nicht für sehr wahrscheinlich.

  • England als Vorbild sollten wir uns nehmen etwa beim Österreicher Max Brand, von dem zwar wegen seiner Biographie auf der Flucht wenig erhalten ist, dessen Maschinist Hopkins aber zu den erfolgreichsten Opern seiner Zeit gehörte. Davon gibt es zwar eine Aufnahme, die unter dem ORF-Label zu bekommen war, aber selbst eine Wiederauflage halte ich nicht für sehr wahrscheinlich.

    Ich kann sowieso nicht verstehen, warum Maschinist Hopkins (fast) überhaupt nicht gespielt wird.

    Ende der '90 Jahre hatte ich das Glück, die Oper am Stadttheater Gießen sehen zu können. Ich war tief beeindruckt und so musste eine Aufnahme her. Leider schien die Sache aussichtslos, das Internet war damals noch nicht so informativ wie heute. Naja, durch Zufall konnte ich Jahre später die Einspielung im ORF-Shop Wien ergattern.


    Ok, das hatte jetzt nichts mit unter- oder überschätzten Engländer zu tun, nur war ich überrascht, dass Max Brand eine Erwähnung fand...


  • Ah - die gibt's wieder! Ich hatte gar nicht auf jpc kontrolliert ...

    Es gab auch in den vergangenen Jahren die Bemühung, das Stück wieder in Wien aufzuführen, allerdings wurde nichts daraus.


    Bei der Frage nach der Unter- oder Überschätzung der Briten muss man ja wohl igendwie vergleichen. Ich habe mir die Komponisten geboren 1890-99 angeschaut. Wenn man Briten und Österreicher resp. Deutschen gegeneinander hält, fällt auf, dass in Österreich und Deutschland durch Schönbergs Einfluss eine starke Gruppe mehr oder weniger atonaler Komponisten zu finden ist, die natürlich keinen so guten Absatz generiert ...

  • Maschinist Hopkins habe ich damals in Gießen auch gesehen. Das war eine sehr gelungene Sache, wobei ich zugeben muss, an die Musik nach über 20 Jahren kaum noch Erinnerung zu haben.

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