Nachdem ich vor einigen Wochen die Neuproduktion der „Soldaten“ in München gesehen habe, die mir sehr gut gefallen hat, war ich schon sehr gespannt auf die Aufführung in Berlin, eine Ko-Produktion der Komischen Oper mit dem Opernhaus Zürich. Für die Regie zeichnet Calixto Bieito verantwortlich, für mich einer der interessantesten derzeit aktiven Opern-Regisseure. Meine entsprechend hohen Erwartungen wurden nicht enttäuscht: es ist eine höchst sehenswerte Produktion. Das Bühnenbild wird durch ein Stahlgerüst dominiert, auf dem das Orchester platziert wurde, während der Orchestergraben abgedeckt ist und als erweiterte Bühne benutzt wird. Musiker und Dirigent tragen dabei Kampfanzüge und Springerstiefel. Unter dem Gerüst hat man sich wohl ein Lager vorzustellen, aus dem das Übel seinen Ausgang nimmt. Die Figuren treten langsam aus dem Hintergrund hervor und ziehen sich nach Ende ihrer Auftritte wieder dorthin zurück. Drei große Bildschirme übertragen Bilder, die von einer Handkamera aufgenommen werden. Ich stehe diesem heutzutage im Theater nicht gerade selten anzutreffenden Stilmittel eher skeptisch gegenüber, aber Bieito ist es gelungen, die Kamera-Projektionen sinnvoll anzuwenden: Zum einen um Figuren zu verfolgen, die nicht mehr im Bühnenvordergrund stehen oder die Wirkung einzelner Szenen in Großaufnahmen zu intensivieren. Assoziationen zu den Aufnahmen geschlagener und gedemütigter Gefangener in Abu-Ghuraib sind naheliegend und sicherlich auch beabsichtigt. Die Kamera wird aber auch geschickt in die Handlung integriert, wenn etwa Desportes die Marie mit Komplimenten umwirbt und dabei schmeichlerisch mit der Kamera ihren Körper umfährt.
Während Andreas Kriegenburg in München die Degeneration von Individuen zu einer Rotte in den Mittelpunkt stellt, betont durch das aus Käfigen bestehende Bühnenbild, in dem die Soldaten bei ersten Anblick von Marie wie wilde Tiere an die Gitter springen und sich am liebsten auf sie stürzen würden, scheint mir für Bieitos Inszenierung der Satz des Feldpredigers Eisenhardt als Leitlinie gedient zu haben: „Eine Hure wird niemals eine Hure, wenn sie nicht dazu gemacht wird.“ Und so zeigt Bieito, wie Marie zur Hure gemacht wird und ausnahmslos alle daran beteiligt sind, denn unschuldige Akteure gibt es bei ihm nicht. Auch nicht Stolzius oder der Graf de la Roche, denen man noch am ehesten ein ernsthaftes Interesse an Marie unterstellen könnte. Stolzius wirkt debil, der junge Graf ist ein Muttersöhnchen, dem der Hintern versohlt wird, nachdem er seiner Mutter die Schwärmerei für Marie gestanden hat. Und auch die Gräfin ist hier keine gütige ältere Frau, die sich der jungen Marie wohlwollend annimmt und sie aus der Gosse holen will, sondern ganz im Gegenteil stößt sie sie hinein, sehr schön in Szene gesetzt dadurch, dass sie ihr Schmuck und (Ober-)Bekleidung vor der Vergewaltigungsszene abnimmt und damit das Nachfolgende vorbereitet. Bei der Vergewaltigung durch Desportes‘ Jäger wird Marie dann von ihr und mehreren der Hauptfiguren festgehalten – ein weiteres sehr starkes Bild, welches die Verantwortung aller für den Missbrauch Maries betont. Einzig der Schluss fiel dann für meinen Geschmack etwas zu theatralisch aus, wenn die „Andalusierin“ Marie mit einem Eimer Theaterblut übergießt, diese ihre Arme in die Höhe reckt und die Scheinwerfer ins Publikum leuchten – ein an dieser Stelle erwartbares und inzwischen etwas abgenutztes Mittel. Trotzdem verfehlt es seine Wirkung zusammen mit der Musik Zimmermanns und den zugespielten Tonaufnahmen nicht.
Während in München die von Barbara Hannigan gesungene Marie herausragte, besticht an der Komischen Oper, wo selten die allererste Garnitur an Sängern zur Verfügung steht, wie meist die geschlossene Leistung des gesamten Ensembles, das sich zudem voll auf Bietos Regiekonzept eingelassen hat. Gabriel Feltz dirigiert das Werk noch schroffer als Petrenko in München.
Da mit Bieito häufig Schockeffekte, nackte Darsteller und sexuelle Handlungen auf der Bühne verbunden werden (oft von denjenigen, die nie eine Inszenierung von ihm gesehen haben), ist vielleicht noch der Hinweis angebracht, dass diese Produktion ohne solche Effekte auskommt, wenn man den Einsatz von Theaterblut, das aber immer als solches dargestellt ist, nicht als schockierend empfindet. Weder Marie, noch ein anderer Darsteller sind nackt auf der Bühne, und auch die Darstellungen der Gefangenen-Folterung oder der Vergewaltigung zielen nicht auf größtmöglichen Realismus.
Die Komische Oper war an diesem Abend bis auf wenige Plätze ausverkauft, das Publikum - wie dort gewohnt - überwiegend jung und nicht-elitär.