Beethoven: Klaviersonate Nr. 27 e-moll op. 90, CD-Rezensionen und Vergleiche (2014)

  • Einführungstext zur Sonate Nr. 27 e-moll op. 90 von Ludwig van Beethoven


    Diese Sonate, die fünf Jahre nach "Les Adieux" entstand (Sommer 1814) und zu der kleinen Gruppe der zweisätzigen Sonaten gehört, ist dennoch von den Sonaten Nr. 19, 20, 22 und 24 zu unterscheiden, weil sie nicht nur von der Dauer erheblich länger ist als die genannten, sondern auch, weil sie in einer Zeit entstanden ist, als Beethoven wiederum seinem Sonatenschaffen eine neue Richtung gab bzw. die musikalische Form weiterentwickelte.
    Außerdem ging er in den Satzbezeichnungen noch einen Schritt weiter als in "Les Adieux" op. 81. Standen in dieser noch deutsche und französische Satzbezeichnungen sowie die normalen italienischen temporalen Satzbezeichnungen, so verwendete Beethoven hier erstmals nur deutsche Bezeichnungen, die darüber hinaus noch recht ausufernd waren.
    Auch, wenn die Sache nicht so einfach ist wie in den normalen klassischen Sonaten, kann man hier, zumindest im ersten Satz, doch Bestandteile eines Sonatenhauptsatzes erkennen:


    Exposition: Takt 1 - 24,
    Überleitung: Takt 25 bis 44,
    Seitensatz: Takt 45 bis 66,
    Schlussgruppe: Takt 67 bis 81.

    Erstmals lässt Beethoven jedoch in diesem Satz die Wiederholung der Exposition weg, auch weil die einzelnen Teile dieses Satzes mehrfach zu deuten waren. Da die o. a. Satzteile jedoch äußerlich, durch Pausen oder Fermaten gut zu unterscheiden sind, ist der Aufbau des Satzes klar erkennbar.


    Der erste Satz steht in e-moll, ist im 3/4 -Takt und umfasst 245 Takte. Die Satzüberschrift lautet:
    Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck.
    Im Gegensatz zum op. 81 a haben hier Durchführung und Reprise durchaus mehr Raum und lediglich die Coda, die durch ein hinreißendes Diminuendo eingeleitet wird, ist sehr kurz und steht im Pianissimo.
    Der zweite Satz ist langsamer als der erste, steht in E-dur, ist im 2/4-Takt und besteht aus 290 Takten. Daher ist er auch temporal ausgedehnter.
    Er trägt die Satzüberschrift:
    Nicht zu geschwind und sehr singbar vorzutragen.
    Wegen seines überragenden thematischen Materials steht er der Musik Schuberts sehr nahe, obwohl das von Beethoven sicherlich nicht beabsichtigt war, aber Beethoven war sicherlich nach Mozart der Einzige, der eine ähnliche Fülle von wunderschönen Melodien komponiert hat wie Schubert. Zudem ist der Satz, von einigen Forti und Sforzandi abgesehen, weitgehend im Piano und Pianissimo gehalten, und er steht in E-dur.
    Beethoven hat nur zwei Sonaten in E-dur komponiert, und zwar die Nr. 9 op. 14 Nr. 1 und die erste der Schlusstrias, die Nr. 30 op. 109, dagegen mehrere in Es-dur (Nr. 4, Nr. 13, Nr. 18 und Nr. 26).
    Der zweite Satz ist das letzte Sonatenrondo, das Beethoven komponiert hat und ist von daher auch nicht so auf eine Sonatenhauptsatzform festzulegen. In ihrem Ende weist sie m. E. auf die Neunte Bruckner und die Neunte Mahler voraus, die jeweils in einem "Morendo" enden.
    Jedenfalls ist diese Sonate eine weitere Station auf Beethovens Reise durch die Welt des Klaviers, die in der Arietta endet.
    Aus Gründen, die im zweiten Satz liegen, gehört diese Sonate zu meinen Lieblingssonaten Beethovens.
    (Quellen: Siegfried Mauser, S. 119 ff., Wikipedia)
    Liebe Grüße und viel Spaß mit diesem Thread


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 27 e-moll op. 90
    Claudio Arrau, Klavier
    AD: April 1966
    Spielzeiten: 5:13 - 7:56 -- 13:09 min;


    Der erste Satz dieser Sonate steht in e-moll im Dreivierteltakt und ist mit der deutschen Satzüberschrift "Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck" versehen.
    Die Exposition dieses Satzes, der nicht mehr wie ein klassischer Sonatenhauptsatz aufgebaut ist, beginnt mit einem achttaktigen Abschnitt, der aus zwei viertaktigen Hälften besteht. In diesen beiden Hälften, die jeweils mit einem Viertel-Auftakt beginnen, steht die erste Hälfte im Forte, und die zweite, quasi als Antwort auf das Thema oder als dessen Echo, im Piano. Claudio Arrau nimmt sich Zeit, diese Passage vorzutragen. Die dynamischen Vorschriften befolgt er dabei sehr genau. und schließt organisch die zweite achttaktige Periode an, ein überaus lyrisches Legato, das den ersten Abschnitt wunderbar kontrastiert, auch in zwei Hälften gegliedert ist und im Piano beginnt und in der zweiten Hälfte im Diminuendo bis ins Pianissimo geführt. Und schließlich wiederholt sich das wundersame musikalisch-mathematische Schauspiel ein zweites Mal, denn auch der dritte Abschnitt besteht aus acht Takten, die wiederum aus zwei Hälften zusammengesetzt sind, die fast wörtlich übereinstimmen und als zusätzliche Besonderheit jeweils aus einer Hebung und einer Senkung bestehen. und in Takt 23/24 in einem Ritartando auslaufen.
    Es hat sich im Nachhinein als Glücksfall erwiesen, dass ich vor geraumer Zeit begonnen habe, meine Rezensionen alphabetisch zu ordnen. Somit beginne ich immer mit Arrau, der nicht nur immer eine Art Referenz ist, sondern es auch einem musikalischen Laien wie mir leicht macht, die musikalische Struktur und die temporale und dynamische Ausgestaltung zu erkennen und zu begreifen.
    Es folgt nun eine zwanzigtaktige Überleitung, die auch wieder raffiniert gegliedert ist, und zwar in fünf etwa gleich lange Viertakter, von denen der erste aus vier jeweils terrassenförmig ansteigenden Oktavdoppelpaaren in der rechten und linken Hand bestehen und im pp stehen. Sie werden abgelöst von zwei kräftig kontrastierenden mit einem Forte- bzw. Fortissimo-Doppelschlag beginnenden Sechzehntel-Abwärtsläufen und einem dritten, der als Kontrast zu den ersten beiden im Piano notiert ist. Die fünfte Einheit besteh aus parallelen Halben und Vierteln, die auf den letzten beiden Takten kräftig crescendieren.
    Auch diese Überleitung ist von Arrau wieder mustergültig gespielt, bis auf eine Ausnahme, aus irgend einem Grund spielt er die Achtel in Takt 31/32 und 35/36 nicht piano, sondern lauter.
    Nach dem Crescendo-Übergang beginnt in Takt 45 ein Seitensatz im Forte mit wechselnden, von Pausen unterbrochenen Intervallen in der rechten Hand und scharf gespielten begleitenden Achtelakkorden, die in Takt 51 subito ins Pianissimo übergehen, um schon im nächsten Takt kräftig zu crescendieren und im Takt 53 fortissimo gespielt zu werden, sofort gefolgt von einem Ritartando-Diminuendo.
    Der letzte Abschnitt des Seitenthemas besteht aus 12 Takten, die in der Begleitung durchgehend aus Vierer-Sechzehntel-Figuren bestehen, aber in der Melodie aus drei jeweils viertaktigen Abschnitten, deren erster aus terrassenförmig absteigenden Oktaven besteht, der zweite aus vier verschiedenen auf- und absteigenden Tönen und der dritten nur aus absteigenden Figuren.
    Nun schließt sich eine 15-taktige Schlussgruppe an, die auf engstem Raum dynamisch sehr bewegt ist und zunehmend von Pausen gegliedert wird.
    In der unter erstmaliger Auslassung einer Wiederholung der Exposition folgenden Durchführung ab Takt 82 wird das Hauptthema auf vielfältige Weise verarbeitet. Sie ist dynamisch sehr hochstehend und zeichnet sich im ersten Teil, den ich etwa bis Takt 102 ansetzen würde, u. a. von einer markanten Begleitung in den Achteln und von großen Intervallsprüngen in der Melodie gekennzeichnet. Dem folgt ein kurzer Übergang mit scharf getrennten Achteln , in der Begleitung oktaviert, bis Takt 107.
    Dann wird das lyrische zweite Thema von Takt 9 mit Auftakt aufgegriffen , hier eine Quint tiefer beginnend, zunächst in der rechten Hand beginnend und dann ab Takt 113 von der linken Hand übernommen, während die rechte eine ganz aufregenden Sechzehntelbegleitung anhebt , die ersten drei Töne des Hauptthemas sich von starken Sforzandi unterstützt, in der Oktav aufwärts bewegen.
    Dies zieht sich hin bis zu einem neuerlichen Übergang, den ich mit dem sempre diminuendo erreicht sähe, dann mit einigen Triolen in Takt 141 bis 143 unmittelbar in das Originalhauptthema übergehend. Hier schließen sich wieder wie zu Satzbeginn die Überleitung (Takt 167 mit Auftakt bis Takt 187) und der Seitensatz an, nunmehr anders notiert und variiert, und wenn es einen codaähnlichen Schluss gibt, würde ich ihn zu den Codas "der anderen Art zählen, etwa beginnend mit dem Diminuendo ab Takt 218. In dieser Betrachtung musste ich mich notgedrungen erst mal selbst "durchwurschteln", aber ich denke, dass Arrau das bis auf die nicht gespielten "Piani" (auch in der Wiederholung ganz großartig gemacht hat. ich wusste immer, wo ich in der Partitur war und konnte gut verfolgen, wenn der Verlauf anders notiert wurde.


    Der zweite Satz: "Nicht zu geschwind und sehr singbar vorzutragen", in E-dur im Zweivierteltakt ist der eigentliche Grund dafür, warum diese Sonate zu meinen Lieblingssonaten zählt. Er wird von Arrau grandios vorgetragen, der auch hier wieder das richtig Tempogefühl hat. Es gibt auch Pianisten von Weltrang, die diesen Satz m. E. zu schnell spielen, z. B. der von mir so sehr verehrte Swjatoslaw Richter.
    Der erste Abschnitt dieses letzten Rondos in Beethovens Sonatenschaffen geht bis Takt 24. Schon hier ist hörbar und sichtbar, dass die Begleitung fast durchgehend aus Vierer-Sechzehntel-Figuren besteht.
    In Takt 25 mit Auftakt wird das Thema original wiederholt, aber nur bis Takt 28 auf der Eins, dann wird es variiert und reicht auch mal bis zum Forte (Takt 31), und mit Einsatz der Sforzandi ab Takt 33 wechseln sich kurzzeitig Piani und Forti ab, behalten aber schön ihre Bindung durch die Begleitung.
    Es schließt sich fortan eine musikalische Figur des Themas an die andere an , meist im Piano, mit moderaten Hebungen und Senkungen, wie in Takt 41/42, 43/44, 49/50, dann breiter werdend von Takt bis 55, und immer wird es höchst ausdrucksvoll umflossen von den wunderbaren Sechzehnteln der Begleitung.
    Einen neuen Abschnitt könnte man ab Takt 60 sehen, wo das Dolce in der rechten Hand mit den halben und den Vierteln das Tempo zu verlangsamen scheint das Geschehen einen Moment innehält, eine wunderbare Überleitung zur Wiederholung des Hauptthemas ab Takt 69 auf der Zwei. Und ein drittes Mal erklingt es ab Takt 93. In einem Crescendo ab Takt 104 wird jedoch ein Zwischensatz eröffnet, in den dynamisch mehr Bewegung aufkommt und es auch nach c-moll geht, wiederum eine "Verlangsamung" eingebettet ist wie im Dolce ab Takt 60. Man könnte diesem Zwischensatz, der bis Takt 139 reicht, auch Durchführungscharakter zusprechen, in dem es öfter zwischen Forte und Pianissimo hin und her geht und ab Takt 130 eine grandiose Fortestelle sich terrassenförmig hochschraubt und dann drei moderate Sforzandi-Piani schon das Ende ankündigen.
    Ab Takt 140 könnte man die Reprise ansetzen, die dann ab Takt 170 die Sequenz zeitigt, die wir schon aus Takt 31 ff. kennen mit den abwechselnden Forti und Piani , wie am Anfang nur 10 Takte, dann folgt wieder die Verarbeitung des Hauptthemas, wie ab Takt 41. Diese Sequenz ist wieder genau 20 Takte lang und mündet ab Takt 200 in die gleiche Stelle wie in Takt 60, also auch hier wie schon wie im Falle der Forte-Piano-Stellen in einem Abstand von 140 Takten. Faszinierend, wie das musikalische Gebäude dem mathematischen Gerüst entspricht. Nicht umsonst wurde Beethoven ja in dieser Hinsicht auch als Architekt bezeichnet, der die kühnsten musikalischen Gebäude errichtete. Nun schließen sich dieser Stelle weitere Modulationen an, wie das wunderbare Crescendo ab Takt 218, das nach einigen Forti und Sforzandi im Diminuendo schön zurück geht, bis in Takt 230
    die Coda erreicht ist, in der die Melodie in die linke Hand übergeht und in Takt 245 zurück wechselt.
    Diese Coda ist für mich sicher der erstrebenswerte Endpunkt dieses großartigen Satzes, in der Vielfalt ihrer melodischen Einfälle, der dynamischen Bewegung und des frappierenden Schlusses: ab Takt 281 ritartando aus dem Pianissimo, dann ab Takt 286 accelerando-crescendo und wieder p- dann pp- fast ein morendo-Schluss wie in Mahlers und Bruckners Neunter.


    Gleich zu Anfang eine referenzwürdige Einspielung von Claudio Arrau!!


    Liebe Grüße
    :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:
    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    diese Deine Eröffnung des Threads mit op. 90 freut mich besonders! Zu manchen Sonaten hat man ja eine ganz besondere, persönliche Beziehung. Op. 90 gehört für mich eindeutig zu dieser Kategorie. Eine nicht geringe Rolle spielt dabei das letzte Konzert von Emil Gilels in Düsseldorf, wo er den wunderbaren zweiten Satz wirklich himmlisch spielte! Das bleibt einfach unvergessen. Ich werde meine Gedanken zu dieser Sonate noch mitteilen - aber meine Beiträge etwas später starten, wenn ich die nötige Muße habe! :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger


  • Beethoven, Sonate Nr. 27 e-moll op. 90
    Claudio Arrau, Klavier
    AD: Juni 1989
    Spielzeiten: 5:38 - 8:28 -- 16:06 min.;

    Claudio Arrau, der diese Aufnahme im Alter von 86 Jahren machte, trägt diese Exposition mit etwas moderaterem Tempo und dafür mit sehr viel Ausdruck vor, was besonders im zweiten Achttakter-Abschnitt, 9 bis 16, der lyrischen "Antwort" auf die ersten acht, durchaus dramatischen Takte vor. Er zeigt, dass er, im wahrsten Sinne des Wortes, die "dynamische Klaviatur" immer noch meisterhaft beherrscht. Nach dem kräftigen Forte in Takt 4 langt er hier in Takt 16 bei einem pp/ppp an. Auch im dritten Achttakter kommt es ihm weniger auf Tempo und Rasanz als auf Empfindung und Ausdruck an.
    In der Überleitung fällt mir auf, dass er die beiden mit "p" markierten Stellen Takt 31/32 und 35/36 nun doch nahezu p spielt. Nach dem neuerlichen Crescendo 43/44 spielt er den Seitensatz dynamisch hochstehend, wobei besonders die Takte 51-52-53-54: pp-cresc.-ff-dim/rit sehr eindrucksvoll geraten und die anschließende "in tempo"-Sequenz mit exquisiten Sechzehnteln begleitet wird. Sehr schön ist auch die Schlussgruppe mit den jeweils fünf Forte-Oktaven im Bass in Takt 67 und 70 und grandios das nachfolgenden Diminuendo ab Takt 76 auf der Drei musiziert, das zum durchführungsartigen Teil ab Takt 82 überleitet.
    Auch diesen Abschnitt entwickelt er wunderbar aus dem sehr luzide musizierten pp über ein kräftiges Crescendo und der Sforzandokette über die Synkopen-Achtel, alles wieder achttaktige-Abschnitte, die wieder zu dem lyrischen, schon aus Takt 8ff. bekannten Abschnitt führen, hier in Takt 108., und diese geniale Variierung dieser Melodie lässt Arrau wunderbar fließen. Sehr schön wird auch deutlich, wie die ersten drei Töne dieses Themas, nun nach moll changiert, unter den perlenden Sechzehnteln langsam nach oben steigen und diese Bewegung bis zum reprisenartigen Abschnitt ab Takt 144 mit Auftakt. Ich vergaß, so glaube ich, zu erwähnen, dass alle diese Schnittstellen einschließlich "the very beginning" einen Viertel-Auftakt haben.
    Der Reprisenabschnitt umfasst dann aus dem Anfang die Exposition, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe, die er ebenso souverän und dynamisch ausgewogen spielt wie in der ersten Hälfte und an die sich, wie ich es schon im ersten Beitrag erwähnte, diese geniale Coda der "anderen Art" anschließt, von Arrau kongenial gespielt.


    In dieser 23 Jahre nach der ersten von 1966 entstandenen Stereo-Aufnahme nimmt Arrau das Tempo nochmals moderater. Das temporale Binnenverhältnis der beiden Sätze bleibt aber erhalten. Auch den äußerlich mathematisch blockhaften Aufbau des Satzes, den Beethoven zu einem genial geschlossenen Ganzen komponiert hat, spielt Arrau eben so geschlossen, so natürlich und mit einem genialen Klang. So kommen auch die jeweiligen Oktavierungen des Themas ganz natürlich daher, von der Sechzehntelbegleitung auf das Schönste verbunden. Nach der neuerlichen Vorstellung des Hauptthemas bindet er auch die durch das Crescendo eingeleitet Sforzando-Piani-Passage überaus geschickt durch Verminderung der dynamischen Spitze in das lyrische Gesamtgeschehen mit ein. Danach trägt er die sich ständig etwas ändernden musikalischen Figuren über weiträumige Legatobögen in luzide hohen Oktaven weiter fort, alles in einem ständigen Fluss haltend, der ab Takt 45 in beiden Händen in der höheren Oktave fließt und erst mit Erreichen der Dolce-Stelle ab Takt 60 wieder getrennt werden.
    In Takt 70 mit Auftakt wird das Originalthema wiederholt, wiederum durch die Sechzehntelbegleitung schön angebunden, damit der musikalische Fluss nicht unterbrochen wird. Auch die Crescendi werden ganz natürlich mit eingebunden, sie verändern den Fluss nur etwas, sie unterbrechen ihn nicht, auch nicht in dieser seltsamen Moll-Episode, , wo er am Ende in den drei Sforzandotakten 136 bis 138 das Tempo etwas herausnimmt, und wieder greift die Sechzehntel-Begleit-Klammer, die in Takt 140 den Reprisenteil anschließt, in dem auch wieder der Sforzando-Piano-Abschnitt dem Fluss nur eine vorübergehend neue Richtung gibt, die aber bald wieder die alte ist und Arrau in der hohen Oktave ein Höchstmaß an lyrischem Ausdruck erreicht. Wie tief muss dieser alte Mann in Beethovens Seele blicken können! Diese ganzen Passagen dürften kaum zu toppen ein, wunderbar auch die Passage ab Takt 221, wo die Melodie zum Übergang zur Coda zeitversetzt taktweise von der linken in die rechte Hand wechselt- genial!
    Ebenso genial, dass im ersten Teil der Coda die Melodie von der rechten in die linke Hand wechselt. Auch die tiefe Stimme kann schön singen!! und dann singt es weiter aufs Schönste bis zu jenem jenseitigen Verhauchen.


    Ich finde, diese Aufnahme hat noch mehr Tiefe und Arrau bietet mit seiner in mehr als einem Dreivierteljahrhundert gewachsenen Klavierkunst dem geneigten Hörer noch tiefere Einblicke in die unendlichen Wunder Beethovenscher Klavierkunst.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

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  • Lieber Holger,


    ich habe deinen Beitrag erst jetzt gelesen, nachdem ich meinen geschrieben hatte, denn ich hatte die ganze Zeit den Thread geöffnet. Lass dir nur alle Zeit, die du brauchst, denn wir sind nach meiner Berchnung gut in der Zeit, da ich für Les Adieux mehr Zeit veranschlagt hatte.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Ich tendiere eher zu der Ansicht im ersten Posting, dass es sich bei dem Kopfsatz durchaus um einen Sonatensatz handelt (natürlich nicht schematisch, das trifft bei Beethoven selten zu). Recht ungewöhnlich ist das 2. Thema in der Molldominante (gibt es aber vorher auch schon vereinzelt, wenn ich recht erinnere zB in op.31,2 und in einigen Finalsätzen (op.57).
    Ohne Zweifel weist das Stück einen ungewöhnlichen "romantischen" Ton auf und die Ähnlichkeit des Rondos mit Stücken von Schubert ist unüberhörbar. Das kann aber unmöglich ein Einfluss des damals 17jährigen Schubert, der noch gar nichts veröffentlicht hatte, auf Beethoven sein. Vielmehr scheint es, dass Beethoven in dieser Zeit eine Handvoll eher lyrischer Werke komponiert hat und vielleicht einen Weg hätte einschlagen können, der der sich herausbildenden Romantik, wie sie von Schubert vertreten wird, ähnlicher gewesen wäre, als der, den er dann mit den späten Werken tatsächlich genommen hat. Es gibt auch in den beiden Trios op.70/2 und op.97 einige erstaunlich "schubertisch" klingende Passagen, aber das mag auch daran liegen, dass Schubert sich bei seinen Trios an diesen Werken orientiert hat. Oder die letzte Violinsonate und "An die ferne Geliebte", bekanntlich ein wesentlicher Einfluss auf Schumann 25 Jahre später.


    Andererseits ist der Kopfsatz in seiner Konzentration und lakonischen Ruppigkeit sehr "beethovensch", der Kontrast der beiden Sätze so stark, dass man sich wundern könnte, warum nicht schon hier jemand gefragt hat, ob die Sonate überhaupt vollständig sei ;)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Johannes Roehl: Ich tendiere eher zu der Ansicht im ersten Posting, dass es sich bei dem Kopfsatz durchaus um einen Sonatensatz handelt...

    Das habe ich, wie ich meine, auch gar nicht anders behauptet, lieber Johannes. Ich habe lediglich die Begriffe, wie in Posting Nr. 1 geannt, von Siegfried Mauser (Beethovens Klaviersonaten, S. 122) übernommen, der die ersten 81 Takte wie gesagt in Exposition-Überleitung-Seitensatz-Schlussgruppe unterteilt, die man sicherlich mit etwas Phantasie insgesamt als Exposition ansehen könnte, zumal auch m. E. die Takte 75 -81 (diminuendo) als neuerliche Überleitung betrachten könnte, die früher zur Wiederholung der Exposition führte. Neu ist hier nur, dass Beethoven erstmals die Exposition weglässt.
    Den Part ab Takt 82 habe ich demzufolge als durchführungsartigen Teil betrachtet und diesen bis Takt 142 angesetzt. Bei meiner zweiten Arrau-Betrachtung wurde mir dann klar, dass ab Takt 142 die Reprise einsetzt, in der alle vier o. a. Teile "Exposition-Überleitung-Seitensatz-Schlussgruppe" fast komplett bis auf die etzten Takte wiederholt werden, und wegen der musikalischen Geschlossenheit habe ich die letzten Takte ab dem Diminuendo Takt 218 als Coda bezeichnet, aber eine der anderen Art, wie sie ja in ähnlicher Form auch schon in der einen oder anderen hier besprochenen Sonate vorgekommen ist.



    Zitat

    Johannes Roehl: Andererseits ist der Kopfsatz in seiner Konzentration und lakonischen Ruppigkeit sehr "beethovensch", der Kontrast der beiden Sätzen so stark, dass man sich wundern könnte, warum nicht schon hier jemand gefragt hat, ob die Sonate überhaupt vollständig sei ;)

    Was das "Beethovensche" dieses Satzes betrifft, gebe ich dir einerseits Recht, lieber Johannes, andererseits habe ich aber durch die intensive Arbeit mit den bisherigen Sonaten, aber auch im Umgang mit Beethovens Musik allgemein, vor allem den Symphonien und Konzerten, die Erfahrung gemacht, dass auch die Vielzahl der lyrischen Passagen, nicht nur in den langsamen Sätzen, als typisch "beethovensch" zu bezeichnen ist.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Beethoven, Sonate Nr. 27 e-moll op. 90
    Vladimir Ashkenazy, Klavier
    AD: 1978
    Spielzeiten: 5:46 - 7:46 -- 13:32 min.;


    Vladimir Ashkenazy gestaltet die kurze Exposition (in der Exposition) höchst eindrucksvoll und dynamisch sehr kontrastreich. Die beiden Fortetakte in den beiden Vierergruppen nimmt er schwer und dynamisch hochstehend, die beiden "Antworttakte" sehr leicht und pianissimo, ebenso großartig nach der zweiten pp-Stelle (Takt 7 bis 8 mit Auftakt) die lyrische Sequenz Takt 9-16, wo er die Hebungen eher nur andeutet- großartig!
    Noch etwas klarer als Arrau (geht das überhaupt?) scheint er mir die jeweils beiden Achtelakkorde in der Überleitung nach den jeweiligen Sechzehntel-Tonleitern gegenüber dem pp der aufsteigenden Doppeloktaven (Takt 24 mit Auftakt bis Takt 28 auf der Eins) abzusetzen. Das Crescendo in Takt 43/44 führt er kräftig aus und die ersten Takte des Seitensatzes desgleichen. Hier wird auch wieder deutlich, wie sorgfältig Ashkenazy auch die Begleitung behandelt. In den Takten 51 bis 54 legt Ashkenazy weniger Wert auf den dramatischen Anstieg und dass ff als auf das Ritartando und Diminuendo. In der Schlussgruppe spielt er nach den beiden sfp-Figuren mit den voraufgehenden Forte-Oktaven ein hinreißendes Diminuendo, das in die drei Anfangstakte des Durchführungsteils überleitet. Diesen spielt er erst wunderbar im pp, crescendiert dann stetig bis zum f und spielt die Sforzandi dynamisch sehr hoch stehend bis zum subito piano im Takt 100, das er dann ab Takt 104 mit den synkopischen Achteln wieder kurz crescendiert, dann zurückführt, bis im pp wieder das lyrische Thema aus Takt 9 bis 16 erreicht wird, das nun in den folgenden Takten kunstvoll durchgeführt wird und dessen langen Anstieg auf den ersten drei Tönen des Themas er atemberaubend spielt. Das Zusammenspiel der luziden Sechzehntel mit den themenführenden Bässen gefällt mir besonders, und er spielt auch den Übergang zur Reprise ganz ausgezeichnet.
    Die dynamische Behandlung der Partitur und seine temporale Auffassung zeigen, dass er jede Einzelheit der Partitur wichtig nimmt und durch sein natürliches Spiel und den warmen, jedoch transparenten Klang ungeahnte Wirkungen erzielt, z. B. in einer, wie ich finde Schlüsselstelle, dem Diminuendo Takt 156-159, an die sich "in tempo" die sehr intime Stelle anschließt, die wir schon aus Takt 17ff. kennen. Die folgende Überleitung, den Seitensatz und die Schlussgruppe, die ich nunmehr als Teile einer übergeordneten Exposition ansehe und die in der Reprise leicht abgewandelt sind, spielt er dynamisch sehr bewegt. Und dann diese Coda (ab Takt 218), die mit Übergang mehrfach unterschiedlich notiert ist, dass sich aber zu einem organischen Ganzen zusammenfügt- der erste Pianissimo-Schluss!!


    Ashkenazy wählt im zweiten Satz ein geringfügig schnelleres Tempo als Arrau, spielt aber gleichfalls mit höchstem Ausdruck, klanglicher Schönheit und Transparenz. Durch die stetig voranschreitenden Sechzehntel in der Begleitung bleibt das Ganze immer im Fluss, in dem sich die schönsten, sich stetig ändernden musikalischen Figuren bilden.. Auch die leichte dynamische Erhöhung ab Takt 28 spielt sich weiter im lyrischen Bereich ab, und die dynamische Spitze setzt Ashkenazy hier sehr moderat. Durch sorgfältige temporale Disposition gelingt es Ashkenazy in der Dolce-Phrase in Takt 60, kurz vor der Wiederholung des Hauptthemas, auch hier eine Verlangsamung des Tempos zumindest zu suggerieren. Nach der dann folgenden Wiederholung des Hauptthemas, die eigentlich fast die Züge einer Wiederholung der Exposition hat, folgt ab Takt 93, der Teil, den man mit etwas Phantasie auch als Durchführung bezeichnen kann, in dem Ashkenazy dann auch tatsächlich die höchsten dynamischen Spitzen setzt. Nach den drei Sforzando-piano-Takten, die auch Ashkenazy etwas retardiert, setzt dann wieder das von Ashkenazy ebenfalls so ganz entspannt spannend gespielt Hauptthema in der Reprise ein, deren Fluss er durch moderate Dynamik in den Sforzandotakten nur kurzfristig eine andere Richtung verleiht, bevor der beseligende Gesang in den hohen Oktaven fortgesetzt wird. In Takt 200 ist dann wieder die verlangsamende Bewegung erreicht, in der es dynamisch noch einmal etwas bewegter wird, aber nicht allzu sehr, von Ashkenazy immer in einer übersichtlichen dynamischen Gesamtkuppel gesehen, und nach dem letzten Sforzando in Takt 224 leitet er dann in einem schönen Sechzehntel-Diminuendo in beiden Händen zur immerhin 70 Takte langen Coda über, in der das Thema erstmals vom Bass vorgetragen wird. Diese Coda ist auch von Ashkenazy vorgetragener beglückender Gesang- der zweite Pianissimo-Schluss!!


    Eine ebenfalls ganz großartige Aufnahme!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Das habe ich, wie ich meine, auch gar nicht anders behauptet, lieber Johannes. Ich habe lediglich die Begriffe, wie in Posting Nr. 1 geannt, von Siegfried Mauser (Beethovens Klaviersonaten, S. 122) übernommen, der die ersten 81 Takte wie gesagt in Exposition-Überleitung-Seitensatz-Schlussgruppe unterteilt, die man sicherlich mit etwas Phantasie insgesamt als Exposition ansehen könnte, zumal auch m. E. die Takte 75 -81 (diminuendo) als neuerliche Überleitung betrachten könnte, die früher zur Wiederholung der Exposition führte. Neu ist hier nur, dass Beethoven erstmals die Exposition weglässt.


    Ich stimme Dir zu dem, was Du im ersten Posting schreibst, vollständig zu.
    Aber dann klingt es im zweiten Posting doch so, als ob das kein richtiger Sonatensatz wäre. Ich sehe eigentlich nicht, was für diese Einschränkung spricht. Es ist ein Sonatenhauptsatz mit den Abschnitten, die Du oben gegeben hast und mit sehr deutlichem, gar nicht verschleiertem Repriseneinsatz (Auftakt zu T 144) Die Wdh. der Exposition fehlt übrigens bereits in op.57 (und op.54, wenn dieser Kopfsatz ein Sonatensatz ist, worüber ich mir nicht ganz sicher bin). Als 2. Thema würde ich hauptsächlich den Abschnitt T 55-66 sehen, das davor mag man mitzählen, aber melodisch griffig ist es für mich nicht und ich sehe es eher als eine Überleitung.


    Dieser erste Satz ist eine seltsame Mischung aus Strenge und Leidenschaft, dabei insgesamt recht knapp gehalten und sehr konzentriert. (Ein bißchen verwandt mit einer lyrischen Phrase unmittelbar nach einem herausplatzenden, eher rhythmisch bestimmten Hauptmotiv sind die Kopfsätze von op.10/1 und dem Quartett op.95)
    Mir schwebt hier eine spontane und leidenschaftliche, kontrastreiche Lesart vor. Ich habe zunächst mal Arrau 1960er, Gilels/DG und Gulda/Amadeo angehört.
    Arrau ist mir im Kopfsatz nicht kontrastreich genug. Den Artikulationsgegensatz zwischen den von Beethoven als Achtel + Pause (wie ganz am Anfang) und Viertel notierten Noten finde ich nicht deutlich genug, ebenso hätte ich gerne die sforzati schärfer, die "Abstürze" wie in T 29f usw. wilder und auch die gehämmerten Achtel im Seitensatz (T 53f). Teils dürfte das auch an der Aufnahme, die einen eher weichen, ein wenig verschwommenen Klang liefert, liegen.


    Gilels ist auch nicht besonders spontan, aber die Kontraste sind deutlicher (Tempo etwa gleich, Spieldauer etwas länger, aber das ist bei den vielen Fermaten und ritardandi schlecht zu vergleichen). Vielleicht auch aufgrund der direkteren Aufnahme alles erheblich schärfer und klarer. Den zweiten Satz nehmen beide ziemlich langsam (knapp bzw. über 8 min.) und hier gefällt mir Arrau auch recht gut. Insgesamt muss ich aber gestehen, dass mir das Rondo ein wenig zu sehr in Richtung "himmlische Längen" tendiert :untertauch:


    Gulda ist in beiden Sätzen erheblich schneller, besonders der zweite dürfte vielen gehetzt vorkommen (knapp 6 min.). Im Kopfsatz finde ich das Grundtempo gut (sehr deutlich auch der Artikulationsgegensatz am Anfang), aber Gulda tendiert ein bißchen sehr zum Motorischen, was einige Kontraste und Details wieder zu verschleifen droht. Das Rondo ist hier eher spielerisch als idyllisch, zwar durchaus nicht undifferenziert, aber sogar mir aber ein bißchen zu schnell runtergezockt. Insgesamt ziemlich cool, nicht sehr romantisch-poetisch.


    Von diesen dreien gefällt mir wohl Gilels insgesamt am besten.


    Als nächstes werde ich Richter und Gelber vornehmen.

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    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Johannes Roehl: Aber dann klingt es im zweiten Posting doch so, als ob das kein richtiger Sonatensatz wäre.

    Vielleicht meinst du diese Stelle, lieber Johannes:

    Zitat

    William B.A.: Die Exposition dieses Satzes, der nicht mehr wie ein klassischer Sonatenhauptsatz aufgebaut ist...

    Zunächst einmal meinte ich damit, dass die Wiederholung der Exposition fehlte, habe aber auch schon in dieser ersten Arrau-Rezension erkannt, dass dieser Satz eine Durchführung und eine Coda hat :D . Gegen Ende des Abschnitts über den Kopfsatz habe ich dann mit diesen Worten beschrieben, was als Reprise gemeint ist:

    Zitat

    William B.A.: Dies zieht sich hin bis zu einem neuerlichen Übergang, den ich mit dem sempre diminuendo erreicht sähe, dann mit einigen Triolen in Takt 141 bis 143 unmittelbar in das Originalthema übergehend. Hier schließen sich wieder wie zu Satzbeginn die Überleitung (Takt 167 mit Auftakt bis Takt 187 und der Seitensatz an, nunmehr anders notiert und variiert)....

    Erst in der zweiten Arrau-Rezension (Posting Nr. 4) fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen, dass das Ganze, einschließlich der von Mauser so genannten Schlussgruppe, natürlich die Reprise ist :hail:



    Zitat

    Johannes Roehl: Die Wiederholung der Exposition fehlt übrigens bereits in op. 57 (und op. 54, wenn dieser Kopfsatz ein Sonatensatz ist, worüber ich mir nicht ganz sicher bin).

    Ich habe in der Tat unreflektiert die Ausführung von Siegfried Mauser übernommen. Natürlich hast du Recht mit opp. 57 und 54. Und was op. 54, Kopfsatz: Sonatensatz ja oder nein, betrifft, gibt dir wiederum Siegfried Mauser Recht (S. 103):

    Zitat

    Siegried Mauser: Der stilisierte Tanzcharakter des quasi-Menuetts in regelmäßigen, klar gegliederten und abgegrenzten Bewegungsschüben, die jeweils von tiefen in hohe Lagen wandern, stellt bis dahin die vielleicht sonatenhauptsatz-entfernteste Gestaltung eines Kopfsatzes überhaupt dar.


    Zum Schluss möchte ich dir danken für die "konzentrierten" Kurzrezensionen von Arrau 1966, Gilels und Gulda. Wenn ich lese, was du über Gulda schreibst, sehe ich schon, dass mir seine Lesart des zweiten Satzes wohl nicht so zusagen wird, denn ich habe es lieber mit den "himmlischen Längen".


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
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  • Beethoven, Sonate Nr. 27 e-moll op. 90
    Wilhelm Backhaus, Klavier
    AD: April 1969
    Spielzeiten:5:02-7:30 -- 12:32 min;


    Diese Sonate gehört mit den Sonaten Nr. 3, 13, 16, 22 und 24 in die Gruppe, die Wilhelm Backhaus zuletzt, nur ein Vierteljahr vor seinem Tod, aufgenommen hat.
    Er beginnt die Exposition m. E. in der entspannten Haltung der tiefen Einsicht eines langen Musikerlebens, ohne noch die letzten dynamischen Höhen zu erklimmen. Er ist auch der erste in dieser Rezensionsreihe, der das p in Takt 31/32 und 35/36 in der richtigen Lautstärke spielt und somit zum Takt 32 auf der Zwei einen großen Kontrast erzielt, ohne das ff ganz auszureizen. Auch das Crescendo in Takt 34/35 gelingt ihm sehr gut, und den anschließenden Seitensatz der Exposition spielt er mit hochstehender Dynamik, auch den rhythmisch gegen den Strich gebürsteten "in tempo" teil Takt 55 bis 66 und der sich anschließenden Schlussgruppe. Faszinierend, wie klar und ausdrucksvoll er diese Passage spielt, vor allem in den pp- und Diminuendo-Teilen.
    Auch die synkopisierte Durchführung mit der Sforzandokette in Takt 93 bis 97 spielt er bravourös, desgleiche die Überleitung in den Achteln Takt 103 bis 107, die zum zweiten Teil der Durchführung kommt, in dem das lyrische Thema aus Takt 9ff durchgeführt wird. Schön lässt er die Sechzehntel laufen und spielt im Bass die ersten drei Töne in der dynamischen und tonalen Aufwärtsbewegung sehr klar mit einem faszinierenden Schluss, der über das sempre diminuendo und dem Sich anschließenden Crescendo ab Takt 141 zur Reprise in Takt 144 mit Auftakt führt. Hier spielt Backhaus zusätzlich zum Crescendo ein Accelerando, das mir ganz gut gefällt.
    Die Reprise spielt er mit dem ganzen Ausdruck, zu dem er fähig ist und mit noch erstaunlicher Technik, temporal und dynamisch sehr sorgfältig und auch die kurze Coda lässt kaum etwas zu wünschen übrig.


    Im zweiten Satz setzt Wilhelm Backhaus sein Spiel auf hohem Ausdrucksniveau fort. Er wählt hier ein Tempo ähnlich wie Ashkenazy. Überhaupt fällt es mir schwer zu glauben, wenn ich das bisher Gehörte mit dem vergleiche, was ich in der gleichzeitig aufgenommenen Sonate Nr. 13 gehört habe. Wie können zwei Aufnahmen nur so unterschiedlich gelungen sein?
    Nach der zweimaligen Vorstellung des Hauptthemas fügen sich auch die Sforzandi ab Takt 33 schön in den musikalischen Fluss ein, und er spürt auch den Wendungen der Dynamik immer aufmerksam nach. In der Dolce-Stelle ab Takt 60 lässt er das Tempo etwas mehr nach als ich es bei Ashkenazy gehört habe. beides gefällt mir.
    Nach der neuerlichen Wiederholung des Hauptthemas folgt dann der durchführungsähnliche Tel, den Backhaus auch dynamisch sehr abwechslungsreich spielt, die Hebungen und Senkungen weiter beachtend, auch an der Stelle ab Takt 118, die in Takt 60 noch dolce notiert war, nun aber modifiziert und dynamisch bewegt ist. In der Überleitung zur Reprise spielt er die Sforzandi sehr deutlich, nimmt aber jeweils schön subito piano zurück.
    Auch die Reprise fließt wunderbar lyrisch dahin, auch bei ihm der Fluss durch die Sforzandi nicht unterbrochen, sondern nur umgelenkt. Sehr schön spielt er die Legatobögen und ab Takt 200 die zweite Verlangsamung, die wieder in lyrische Legatobögen führt, hier pp in Achteln, die sich dann in Eschzehntel wandeln und zur Coda führen.
    In der schwenkt das Hauptthema organisch zwischen tiefer und hoher Oktave hin und her und fließt das musikalische Geschehen in ruhigen, dynamisch nicht mehr sehr unterschiedlichen Wellen dem Ende zu. Das spielt Backhaus wirklich grandios bis zu dem beinahe jenseitigen Ende. Bravo!!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

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    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Zitat von Johannes Roehl

    Als 2. Thema würde ich hauptsächlich den Abschnitt T 55-66 sehen, das davor mag man mitzählen, aber melodisch griffig ist es für mich nicht und ich sehe es eher als eine Überleitung.

    Die Frage, wo das zweite Thema einsetzt, ist in der Tat nicht so ganz leicht zu klären, weil die melodischen Elemente des Satzes so wunderbar transformiert werden. Riemann läßt es in Takt 45 beginnen. Ich sehe es aber wie Du, daß sich nämlich in Takt 55 der Charakter ändert. Fischer führt als Argumente dafür das ritardando und das folgende "a tempo" an, was mir immer überzeugend schien.



    Zitat von Johannes Roehl

    Dieser erste Satz ist eine seltsame Mischung aus Strenge und Leidenschaft, dabei insgesamt recht knapp gehalten und sehr konzentriert. ... Mir schwebt hier eine spontane und leidenschaftliche, kontrastreiche Lesart vor.

    Das ist sicher eine Möglichkeit, aber führt man sich die ständigen Transformationen der Melodien bzw. Melodieteile vor Augen (um Fischer zu folgen), dann erhielte imO auch eine Lesart, die den beständigen musikalischen Fluß ins Zentrum stellt, die Kontraste zugunsten der unaufhörlichen Transformation, zurückstellt, ihre Berechtigung.


    Mit besten Grüßen
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • @Willi: Vielen Dank für die Aufklärung, mir war wirklich nicht klar, wie der scheinbare Widerspruch zustande kam.


    Ich habe jetzt noch ein paar weitere gehört, bin aber zu faul, längeres dazu zu schreiben. Trotz eingeschränkter Klangtechnik jedenfalls sehr empfehlenswert: Richter 1965 (Praga, ich weiß nicht, ob das dieselbe ist wie in der Brilliant-Box (angeblich auch 1965, aber ein anderes Datum, worauf man sich bei Brilliant jedoch nicht verlassen kann), die Olympia/Melodiya. Aufnahme aus Salzburg ca. 1970 ist eine andere). Klang etwas dünn, aber sehr kontrastreich und dramatisch gespielt im Kopfsatz. Das Rondo spielt Richter sehr zügig (ca. 6:40), nicht als ungestörtes Idyll, was mich hier aber auch überzeugt.
    Gilels live (in der Brilliant-Box) ist im Kopfsatz deutlich dramatischer und etwas zügiger als die Studio-Aufnahme (dagegen weniger Unterschiede im Rondo). Diese beiden sind wohl unter den bisher gehörten meine Favoriten (beruht meistens auf dem Kopfsatz, ich habe zwar immer die komplette Sonate gehört, aber mit dem Rondo müsste ich mich nochmal gesondert befassen).


    Nüchterner, aber sehr klar, transparent und strukturiert ist Charles Rosens Studioaufnahme (Sony, mit den 5 letzten Sonaten). Hat mich eher positiv überrascht, auch wenn ich mir etwas mehr Feuer im Kopfsatz vorstellen könnte.


    Noch eine Assoziation beim Kopfsatz, besonders das Ende, stellt sich bei mir ein: die Coriolan-Ouverture. Zwar "zerfällt" in der Sonate das Thema nicht am Ende, aber das von Fermaten unterbrochene pp Auftauchen des Hauptthema lässt mich auch an Resignation und Verzweiflung denken. Der Kopfsatz ist schon eines der düstersten Stücke Beethovens.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Das ist sicher eine Möglichkeit, aber führt man sich die ständigen Transformationen der Melodien bzw. Melodieteile vor Augen (um Fischer zu folgen), dann erhielte imO auch eine Lesart, die den beständigen musikalischen Fluß ins Zentrum stellt, die Kontraste zugunsten der unaufhörlichen Transformation, zurückstellt, ihre Berechtigung.


    Wenn man nur mal die erste Seite ansieht: zweimal ritardando mit Fermate, dann die "abstürzenden Skalen in T 29f, 33f, 37f, Dynamikwechsel, sforzati usw. Alles innerhalb gut einer Minute oder so. Das ist für mich ein ziemlich häufig stockender, dann wieder reißender Fluß ;)

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  • Hallo Willi,


    Mein Glückwunsch, wie präzise, differenziert und treffend Du die große Kunst der Interpretation dieser Sonate durch WILHELM BACKHAUS beschreibst! Ich habe dem nichts hinzuzufügen. BACKHAUS war einfach ein begnadeter BEETHOVEN-Interpret, der sich auch über Technik gar keine Gedanken machen mußte. Die war einfach da, so daß er sich voll und ganz in das jeweilige Werk vertiefen, und das zum Ausdruck bringen konnte, was in ihm erklang, wenn er sich eine Komposition von BEETHOVEN vornahm. Wie könnte man sich sein Spiel noch ausdrucksvoller, vollendeter, authentischer, auch nur vorstellen?!. Auch seine Interpretation der Sonate Nr. 14 ist für mich kaum zu übertreffen.


    Viele Grüße
    wok

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  • Lieber wok,


    ich nehme an, du meinst Die Moneschein-Sonaten-Aufnahme von 1958, denn die zehn Jahre später in Salzburg entstandene Live-Aufnahme fand ich nicht so geglückt, was um so erstaunlicher ist, da er doch im gleichen Konzert eine "Les Adieux" fast vom anderen Stern gespielt hat.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hallo Willi,


    Ja, ich meine die Mondschein-Sonaten-Aufnahme von 1958. Die Aufnahme wurde meines Wissens auch mit dem Grand Prix du Disque der Académie Charles Gros ausgezeichnet.


    Viele Grüße
    wok


  • Beethoven, Sonate Nr. 27 e-moll op. 90
    Daniel Barenboim, Klavier
    AD: 1970
    Spielzeiten: 6:07-8:21 -- 14:28 min.;


    Daniel Barenboim baut innerhalb der ersten 8 Takte schon ordentliche Kontraste auf zwischen dem Forte-Thema und der Piano-Korrespondenz, deren letzter Ton e'' in Takt 8 auf der Eins in den auch dynamisch gleichen Ton als ersten des lyrischen Gegenspielers der ersten 8 Takte überleitet, die er, schon fast im pp befindlich, nochmals decrescendiert und ab Takt 15 auch retardiert- sehr eindrucks- und ausdrucksvoll. Auch im dritten Achttakter, den er auch wieder getragen spielt mit moderater dynamischer Bewegung, aber mit einer hervorragenden tonalen Klarheit und Natürlichkeit, spielt er wieder ein fesselndes Ritartando. Überhaupt konnte ich bei nahezu allen der letzten Hörbeispiele erfreut feststellen, dass sich die Pianisten vorbildlich um die richtige Behandlung der Dynamik kümmerten. Auch die Überleitung spielt er dynamisch hochstehend, auch das p zwischen den Sechzehntelläufen spielt er rustikal. Über das Crescendo ab Takt 43 geht es in den dynamisch sehr bewegten Seitensatz über, mit der vorbildlichen Steigerung über das pp in Takt 51, Crescendo in Takt 52, ff in Takt 53 und rit./dimin. in Takt 54, dann im "in tempo"-Teil mit den faszinierenden Sechzehntel-Begleitfiguren zur Schlussgruppe, die er ab Takt78 nach dem Diminuendo bi in die Durchführung hinein sicherlich im ppp spielt- faszinierend, wie deutlich das dank seines spannungsreichen Spiels bleibt.
    Auch die Durchführung , die auf diesem niedrigen Level beginnt, führt er kontinuierlich in kleinen Schritten zu einer großartigen Steigerung in Takt 92 mit kräftigen folgenden Sforzandi, aber ab Takt 100 ist er wieder subito im p(pp), und hat in den Takten 103 bis 107 wieder eine schöne dynamische Bewegung in den synkopierenden Achteln in der rechten und linken Hand. Wie abgeklärt spielt Barenboim das schon mit 28 Jahren. Er spielt, wenn ich das richtig erinnere, als Einziger diesen Zyklus komplett mit unter dreißig Jahren und liefert dabei (bis jetzt) m. E. jedes Mal eine Spitzenleistung ab.
    Wie Recht hatte doch Artur Rubinstein, als er den jungen Barenboim kennenlernte, dieser ihm vorspielte und er bemerkte, wenn Barenboim in die USA käme, dann brauchte er, Rubinstein, dort nicht mehr aufzutreten. Recht hatte Rubinstein in Bezug auf die künstlerische Potenz, die er in Barenboim erkannte. Gottseidank konnte er aber weiterhin in den USA auftreten.
    Im zweiten Teil, in dem das lyrische Seitenthema in verschiedenen Formen auftritt, führt Barenboim die Steigerung auf dem absteigenden Dreiklang des lyrischen Themas zu imponierender Größe b is zum Fortissimo und durch ein frappierendes nachfolgendes Diminuendo zur Reprise.
    In der Reprise führt er die einzelnen Teile Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe (siehe S. Mauser , S. 122) wieder dynamisch sehr bewegt aus. Statt einer weiteren Durchführung folgt natürlich dann m. E. ab Takt 218 ein Coda im Diminuendo- und Ritartando-Gewand, die dank Barenboims überragenden gestalterischen Fähigkeiten auch im pp/ppp-Bereich zu einem absoluten Satzhöhepunkt werden.


    Der zweite Satz ist für die temporalen Vorstellungen Barenboims, der ja schon als junger Pianist (siehe diese Gesamtaufnahme, die er im Alter zwischen 25 und 28 Jahren aufnahm) kein Schnellspieler à la Gulda war, sondern bedachtsam an seine Aufgabe ging und der hohen Wert auf Ausdruck und das temporale Binnenverhältnis der Sätze sowie deren adäquate dynamische Wiedergabe legte, wie geschaffen. Er gehört zu der kleineren Gruppe von Pianisten, die diesen Satz in über 8 Minuten spielen, wie Brendel, Gilels und der ältere Arrau. Er gehört aber wie dies auch zu denjenigen, die in der Lage sind, ein langsames Tempo auf hohem Ausdrucks- und Spannungsniveau durchzuhalten.
    Dieser Satz geht ja ohne Pause durch. Ist mal in der Melodie eine Pause, spielt die Begleitung durch, und umgekehrt. Und diesen Fluss gestaltet auch Barenboim auf faszinierende Weise. Wenn man wie er die Partitur in den Mittelpunkt seines Tuns stellt, ergibt sich ein herrlicher musikalischer Fluss von beinahe jenseitiger Schönheit. Hier wird das Harnoncourt-Wort abgewandelt, das da heißt: "Musik muss nicht schön sein, sie muss wahrhaftig sein". Wenn diese Musik wahrhaftig ist, dann ist sie zum Niederknien schön.
    Als Beleg für diese überirdische Schönheit möchte ich nach dem ersten forte-piano-Wechsel Takt 33 bis 40 die nachfolgende Passage Takt 41 bis 55 anführen. Da kann man geradezu in Verzückung geraten. Das alles kann seine Wirkung nur entfalten bei richtigem Tempo, und das kann nicht schnell sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das bei Swjatoslaw Richter leiden mag und erst recht nicht bei Friedrich Gulda.
    Manche Pianisten wollen zeigen, wie gut sie spielen können, indem sie ein Stück so schnell wie nur irgend möglich spielen. Emil Gilels ist von dieser jugendlichen Unsitte später Gottseidank wieder abgewichen. Barenboim hat diese Unsitte gar nicht erst angenommen. Auch das Nebenthema ab Takt 224 gehört zu diesen Belegstellen oder die drei sfp-Takte ab Takt 136 mit Übergang zur seidenweich wieder einsetzende Reprise oder die Takte 181ff.
    Auch der Codabeginn ab Takt 230, wo das Thema im Bass auftaucht, ist vom Allerfeinsten. Und dann ist doch ein Pause, da, die ich zuerst übersehen habe, Takt 265 auf der Eins.
    Die letzte Stelle von überragender Schönheit, von Barenboim überragend gespielt, ist der Schluss, die letzten 10 Takte, ein Ritartando über mehrere Takte, gefolgt von einem kurzen Accelerando und einem Verhauchen im pp/ppp. (Wilhelm Furtwängler: Es gibt nur ein Tempo, und das ist das Richtige).
    Eine erneut herausragende Interpretation Barenboims!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

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    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Zitat Johannes Roehl

    Zitat

    Wenn man nur mal die erste Seite ansieht: zweimal ritardando mit Fermate, dann die "abstürzenden Skalen in T 29f, 33f, 37f, Dynamikwechsel, sforzati usw. Alles innerhalb gut einer Minute oder so. Das ist für mich ein ziemlich häufig stockender, dann wieder reißender Fluß ;)


    Lieber Johannes Roehl, die ritardandi mit Fermaten sind aber das Einzige, was Fluß entgegensteht, Dynamikwechsel und Sforzati sind doch keine wirklichen Argumente gegen den Fluß der Musik :): natürlich kann man die sf extra betonen und den Fluß unterbrechen, aber man kann sie über sorgfältige Phrasierungen ebenso ganz sanglich einbetten. So würde ich auch Arraus Ansatz verstehen, den Willi uns so wunderbar beschrieben hat.


    Mit herzlichem Gruß
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
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  • Ich habe gerade die Gilels-Aufnahme aus Moskau gehört - seine Zeugnisse sind ja nun wahrlich großes Beethoven-Spiel, aber das ist wahrlich gigantisch! Er trifft einfach genau die Überschrift des Kopfsatzes - vereint Lebhaftigkeit, Empfindsamkeit und Ausdruck. Den wunderschönen liedhaften zweiten Satz habe ich aus Düsseldorf anders in Erinnerung - "entrückter". Allerdings ist die Düsseldorfer Tonhalle auch ein sehr großer Saal, da wirken dann die lyrischen Passagen vielleicht besonders.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Vor allem hat die Tonhalle, wie du ja bestens weißt, lieber Holger, eine aufgrund ihrer kreisrunden Bauweise frappierende Akustik. Ich habe mal vor Jahren innerhalb einer Sasion, aufgeteilt in zwei Hälften zu je drei kurz aufeinanderfolgenden Terminen, Beethvoens gesamte Streichquartette erlebt, dargeboten vom Juilliard String Quartet, und da saß ich genau in der Mitte von Reihe 5. Diese Platz, ich glaube es war Nr. 15, hat die Eigenschaft, sich genau im Mittelpunkt der Halle zu befinden, Ich konnte das feststellen, als ich mal zur Hallendecke blickte und feststellte, dass sich mein Platz genau senkrecht über der zentralen Lichtkuppel befand. Selbstredend war die Akustik dort überwältigend, und gerade auch lyrische Passagen kommen in dieser kühnen Hallenkonstruktion wundersam ins Schweben.
    Eine ähnliche Form hat ja auch die Kölner Philharmonie, zumidnest was den Grundriss des Konzertsaales betrifft. Da bilden etwa die ersten 15 Reihen zusammen mit Podium und Chorempore auch einen Kreis. Auch in Köln ist die Akustik hervorragend.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Beethoven, Sonate Nr. 27 e-moll op. 90
    Alfred Brendel, Klavier
    AD: März 1962
    Spielzeiten: 5:25 - 7:37 -- 13:02 min.;


    Alfred Brendel beginnt das Hauptthema der Exposition mit mäßigen Forteakkorden, kontrastiert aber dennoch, wie ich finde, genügend, indem die Piano-Antwort etwa p/pp ist. Ich glaube, ich habe es schon einmal gesagt, dass ihm auch als Einunddreißigjähriger der lyrische Ausdruck nicht fremd war.
    Wenn man "das Verhältnis der beiden Sätze zueinander nach dem eines männlichen und weiblichen Prinzips" (Mauser, S. 122) bestimmen möchte, dann träte das Männliche in dieser Einspielung Brendels nicht als kraftstrotzender Hüne auf. Auch seine Hebungen und Senkungen sind moderat.
    In der Überleitung legt er aber dann doch in den beiden f- bzw. ff-Akkorden merklich zu. Auch der Seitensatz kommt mit ordentlicher dynamischer Bewegung daher, sehr schön seine Takte 51 bis 54 mit dem kontinuierlichen Crescendo in Takt 52, dem kräftigen Takt 53 und dem schönen Ritartando-Diminuendo in Takt 54, der "in tempo"-Sequenz mit der eigentümlichen Rhythmik und der sfp-Dynamik der Schlussgruppe, die dann im pp den Übergang zur Durchführung vorbereitet. Das spielt Brendel ganz großartig, zwischen pp und ppp, aber glasklar, wie man überhaupt das natürliche Klangbild loben muss. Dadurch ist auch das Crescendo ab Takt 88 und die anschließende Sforzandokette mit den Synkopen sehr transparent.
    Auch die nächste Sequenz mit dem lyrischen Seitenthema und dessen lang anhaltende Steigerung spielt Brendel vom pp bis zum f wunderbar luzide und fließend, ein weiterer Beleg seiner lyrischen Fähigkeiten.
    In der Reprise scheint mir Brendel den dynamischen Kontrast durch Ausdehnung nach oben und unten noch zu vergrößern. Die beiden p-Akkorde im Überleitungsteil spielt er vorschriftsmäßig im Piano, und die nachfolgende Sequenz spielt er dynamisch sehr bewegt, aber wieder sorgfältig abgestuft, , was vor allem in der herausragend gespielten Coda deutlich wird.


    Im zweiten Satz stimmt Alfred Brendel einen wundersamen, in der oberen Oktave luziden und in der unteren Oktave warmen, zwar dunklen aber dennoch klaren Gesang an, wobei er durchaus ordentlich crescendiert, aber es bleibt alles lyrischer Gesang. Die dynamischen Hebungen und Senkungen verleihen dem musikalischen Fluss leichte Wogen. Die Dolce-Stelle mit den Triolen in der Begletung setzt zart ein, dann crescendiert er organisch und tupft den Spitzenton in Takt 69 auf der Eins zart dahin, bevor das Hauptthema wieder einsetzt. Die schon ab Takt 101 veränderte Stimmung deutet auf den durchführungsartigen Teil hin, den Brendel mit den notwendigen dynamischen Kontrasten ausstattet, z. B. vom Forte in Takt 112 auf der Eins innerhalb eines Taktes zum pp. Wunderschön gestaltet er auch den Übergang zum Reprisenteil, den man ab Takt 140 ansetzen kann. Die vier voraufgehenden Takte sind schon sehr eindrucksvoll musiziert.
    Auch in der Reprise singt und klingt es aus vollem Herzen und fließt es auch in der Sforzando-Passage weiter ganz natürlich dahin. Besonders eindrucksvoll ist der wundervolle Legatobogen ab Takt 181. Das ist hohe Pianokunst. Auch gegen Ende der Reprise, als nochmal das langsame Seitenthema auftaucht und dynamische Bewegung ins Spiel bringt, leitet jedoch das Diminuendo ab Takt 224 wieder zu tiefer Ruhe über, die zum wunderbaren Beginn der Coda überleitet.
    In ihr trägt Brendel zunächst mit natürlichem, warmem Klang das Hauptthema im Bass vor, wechselt dann in die hohe Oktav, und wieder geht es zurück. Diese Passage, in der das Thema in herrlichstem Klang mehrmals die Oktave wechselt und Beethoven jeweils die genau passende Begleitung dazu geschrieben hat, ist sicherlich ein Höhepunkt dieses Satzes, hier von Brendel kongenial dargeboten.
    Und weiter geht es in einem originellen Crescendo aus Sechzehnteln und Sechzehntelpausen hin zur einzigen Pause im ganzen Satz, in Takt 265 auf der Eins. Diese Stelle betont Brendel noch besonders- sehr schön!
    Dann kommt nach den Dolce-Achteln ein letztes Mal das Thema zum Vorschein und leitet zu dem höchst originellen, faszinierenden pp-Schluss über.
    Auch wenn Brendel in diesem zweiten Satz fast eine Minute schneller ist als in seiner 13 Jahre später entstandenen zweiten Aufnahme, fällt das hier überhaupt nicht ins Gewicht, da Brendel schon in seinen jungen Jahren quasi in sich ruht und hier eine überaus reife Leistung erbracht hat.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup: :thumbsup:

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  • Vor allem hat die Tonhalle, wie du ja bestens weißt, lieber Holger, eine aufgrund ihrer kreisrunden Bauweise frappierende Akustik.


    Lieber Willi,


    diese Rundbauten haben natürlich auch ihre Probleme. Ich erinnere mich besonders an ein Arrau-Konzert, wo ich oben auf dem Rang saß und fast jeden Ton im Diskant doppelt hörte - Schallreflexion. Das Problem haben sie später in den Griff zu bekommen versucht mit in die Kuppel eingehängten Plexiglasscheiben. Dann war es deutlich besser, aber immer noch nicht weg. Heute ist ja der komplette Innenausbau neu gemacht!


    Deine schöne Brendel-Besprechung habe ich gerade gelesen - selber soeben Buchbinder gehört (erst die Sturm-Sonate und dann op. 90). Das alles ist natürlich sehr luzide, aber auch ziemlich "trocken". Besonders der liedhafte 2. Satz erschient doch sehr "mit dem Kopf" gespielt. Singbar vorgetragen kann man das nennen, aber eben nicht sehr singbar, wie Beethoven es eigentlich möchte. Zweifellos ist das sehr gut gespielt und intellektuell hoch kompetent - aber auch völlig unauratisch ohne "Schmelz" - so ähnlich wie in der Sturmsonate, die ihm an sich auch liegt, wo aber die eindrucksvollen mystischen Stellen völlig unmystisch klingen. Ein sehr "deutscher" Beethoven - wenig romantisch-empfindsam. Ich bin mal gespannt auf Deine Eindrücke! :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger

  • Das wird ja im Falle von op. 90 bald sein, lieber Holger, da ich ja nur noch Brendel II und III vorher zu besprechen habe.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 27 e-moll op. 90
    Alfred Brendel, Klavier
    AD: Mai 1975
    Spielzeiten: 5:49 - 8:15 -- 14:04 min.;


    Alfred Brendel wählt in seiner zweiten Einspielung ein langsameres Tempo als in der ersten, im Kopfsatz gut 20 Sekunden langsamer, im zweiten Satz 40 Sekunden. Sein Spiel ist zwar bedachtsam, aber, wie ich finde sehr ausdrucksvoll und auch dynamisch sehr aufmerksam. Auch die Aufwärtsgänge in der Überleitung und die Abwärtstonleitern mit den Sextolen und Quintolen sind sehr akzentuiert musiziert.
    Der Seitensatz kommt mit rhythmisierten Achtelfiguren im ersten Teil und einer schönen Steigerung in Takt 51 bis 54 daher. Und durch das moderatere Tempo am Anfang gelingt im " in tempo"-Teil ein schöner temporaler Kontrast. Die Schlussgruppe klingt aufwühlend durch die strammen f-Aufwärts-Oktaven und die Subitofortepiani, bestrickend auch das anschließende Diminuendo.
    Die Durchführung ist ebenfalls exzellent musikziert, zunächst im ausdrucksstarken pp, dann eine sehr schöne Steigerung, die Sforzando-Kette und die Synkopen im p und pp.
    Auch der zweite Teil der Durchführung mit dem lyrischen Thema aus Takt 8ff. und seinen Veränderungen sowie die große Steigerung ist exzellent, ebenso wie die sempre diminuendo-crescendo-Überleitung zu Reprise.
    Bei alledem ist Brendels Vortrag sehr natürlich und transparent, sehr ausgewogen auch zwischen Melodie und Begleitung.
    Die dynamisch noch etwas höher stehende Reprise spielt er auch dynamisch sehr aufmerksam, mit geringfügigen Variationen wie z. B. gegenüber Takt 51 bis 54 dem Fortfall des Fortissimo-Taktes zu Gunsten eines längere Crescendos, wobei die letzten beiden Takt dieses Abschnitts und der erste "a Tempo"-Takt nach oben oktaviert sind.
    Die Coda ist schlichtweg grandios und zeigt, wie eigentlich der ganze Satz, dass er das Tempo etwas langsamer gefasst hat zu Gunsten einer hohen Emotion und eines starken Ausdrucks.


    Der erste Teil des zweiten Satzes zeigt, welch ein lieblicher Gesang entstehen kann, wenn man hier auch Ruhe walten lässt. Brendel macht das großartig. Die Sforzando-Takte scheinen mir hier noch ein wenig mehr in den musikalischen Fluss eingebunden, und die Legato-Passage ab Takt 41 bis 55 ist sicherlich als ein Glanzpunkt dieser Aufnahme anzusehen, der durch die pp-Sechzehntelläufe und die anschließende Dolcestelle noch verlängert wird. Auch die Wiederholung des sanglichen Themas gestaltet Brendel genauso ausdrucksvoll, ebenso die nochmalige kurze Wiederholung und die dann durch Modulation nach moll zur Überleitung zum Durchführungsteil gewandelten Steigerung in Takt 101 bis 104, in dem er die dynamische Bewegung schön steigert und in dem das thematische Material sehr bewegt verarbeitet wird bis hin zu den drei originellen Sforzandotakten 136 bis 138.
    In der Reprise wird dann der spannend/entspannte musikalische Fluss im natürlichen, warmen Klang wieder aufgenommen. Auch hier scheinen mir die Sforzando-Takte zwischendurch wieder sehr anmutig, und die folgende Passage in der hohen Oktave geradezu atemberaubend. Die Musik fließt anmutig weiter und Brendel spürt aufmerksam den sich ständig etwas ändernden musikalischen Figuren nach, die dann in Takt 230 zu Beginn der Coda in diesem beschaulichen pastoralen Panorama das Thema zwischen tiefer und hoher Oktave natürlich fließend wechseln und hinüberführen zu dem atemberaubenden Schluss der Coda, auch von Brendel atemberaubend vorgetragen.


    Die zweite großartige Einspielung von Brendel, etwas geruhsamer als die Erste!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • ... selber soeben Buchbinder gehört (erst die Sturm-Sonate und dann op. 90). Das alles ist natürlich sehr luzide, aber auch ziemlich "trocken".


    Welcher Buchbinder? Teldec oder RCA? Mit dem Buchbinder 80er-Jahre kann ich generell nicht viel anfangen, aber die neue Aufnahme mit 10:32(!) für den zweiten Satz von Op.90 kann man eigentlich nicht wirklich als "trocken" bezeichnen.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Welcher Buchbinder? Teldec oder RCA? Mit dem Buchbinder 80er-Jahre kann ich generell nicht viel anfangen, aber die neue Aufnahme mit 10:32(!) für den zweiten Satz von Op.90 kann man eigentlich nicht wirklich als "trocken" bezeichnen.


    Dann nenne es "nüchtern" :) - ich meine die RCA-Aufnahme. Sehr singbar vorgetragen ist das jedenfalls nicht. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger


  • Beethoven, Sonate Nr. 27 e-moll op. 90
    Alfred Brendel, Klavier
    AD: März 1995
    Spielzeiten: 5:46 - 8:03 -- 13:49 min.;


    Alfred Brendel ist temporal in dieser Aufnahme ganz dicht bei der 20 Jahre zuvor entstandenen. Dynamisch setzt er, wie ich finde, hoch genug an. Wie immer, ist sein Spiel von Anfang des Hauptsatzes an von klarem, transparenten Klang. Die Hebungen und Senkungen kommen, teilweise moderat.
    Auch die Überleitung steht im rechten dynamischen Verhältnis zwischen pp und ff. Den dramatischen Seitensatz spielt er in Takt 46 bis 50 mit den nötigen Stockungen in der rechten Hand, einer sehr schönen Steigerung und Senkung in Takt 51 bis 54 und einem gespenstisch eilenden Ausdruck im "in tempo"-Teil von Takt bis 66 zur Schlussgruppe mit den kräftig aufwärts strebenden Forte-Oktaven und den gegen den Fluss strebenden sfp-Figuren, mit einem sehr schön ausgeführten Diminuendo zur Durchführung hin.
    Diese beginnt er aus einem atemberaubenden pp/ppp heraus und entwickelt daraus ein grandioses Crescendo, das dann nach den hämmernden Achtelintervallen in der Begleitung subito piano in die synkopierenden Achtel übergeht, die er dann durch eine kurze Dehnung an das lyrische Antwortthema aus dem Beginn des Hauptsatzes (Takt 8 auf der Drei) anbindet. Diesen Abschnitt mit der Variierung des Themas und der langen Steigerung auf den ersten drei Tönen gestaltet er grandios mit wunderbar fließenden Sechzehnteln und geht nach dem piu forte in ein wunderbares sempre diminuendo und ein kurzes Crescendo in die Reprise über.
    Hier wie auch schon bei früheren Besprechungen habe ich den Eindruck, dass er das Hauptthema dynamisch etwas höher stehend spielt, den Kontrast sozusagen vergrößert, das lyrische Antwortthema nun wieder in seiner Originaltonart in bestrickendem Ausdruck und einem faszinierenden Diminuendo von p nach pp/ppp entwickelnd, in gleichem ruhigen Vorwärtsschreiten die erste "in tempo"-Passage ab Takt 159 und nach dem Ritartando die zweite "in tempo"-Passage ab Takt 167 folgen lassend, die den Seitensatz und die Überleitung und Schlussgruppe aus der Exposition wiederholt, auch hier, wie ich finde, dynamisch etwas gesteigert und dann in die großartige Coda übergehend, die, wie ich schon verschiedentlich bemerkte, den Satz nicht rauschend, sondern langsam und leise abschließt- großartig gespielt!


    Auch diese letzte Aufnahme Brendels von dem op. 90 ist ein warmer, klarer und in den Höhen lichter Gesang von großer Reinheit, der zeigt, welch ein großer Melodiker Beethoven auch war und welch eine begnadete Stimme des Komponisten Brendel ist. Die Frage nach dem Tempo stellt sich gar nicht, weil ich einfach das Gefühl habe, dass dies das richtige -Tempo ist: ein klarer, fast ebener Bach, der ruhig und gleichmäßig dahin fließt, woran auch die Dolce-Stelle ab Takt 60 mit den Triolen in der Begleitung und dem kurzen dynamischen Anstieg nicht groß etwas ändert.
    Auch hier im durchführungsartigen Teil ab Takt 105 mit der Steigerung zum Forte hält Brendel den gleichen Fluss bei, zumal in Takt 113 schon wieder die Verlangsamung folgt, welche die vorübergehende Beschleunigung wieder beendet. Noch einige weitere Änderungen des Fließrhythmus mit dynamischen Steigerung integriert Brendel wunderbar in das Ganze und führt uns über die drei sfp-Takte zur Reprise, in der ein weiteres Mal das wunderbare Hauptthema mit seinen Variationen erklingt, von Brendel ein weiteres Mal kongenial wiedergegeben mit all seinen Veränderungen und ätherischem Gesang in den hohen Oktaven sowie den wohlklingenden Sechzehnteln in der Begleitung.
    Betörend auch der langsame Übergang zur Coda, den er nach einigen Sforzandi und Fortetakten wunderbar in Diminuendo ab Takt 224 und zum Schluss retardierend zurückführt.
    Die Coda ist einfach grandios gespielt und gehört m. E. zum Besten, was ich bisher in diesem Satz gehört habe. Hier passt einfach alles!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Alfred Brendel ist temporal in dieser Aufnahme ganz dicht bei der 20 Jahre zuvor entstandenen. Dynamisch setzt er, wie ich finde, hoch genug an. Wie immer, ist sein Spiel von Anfang des Hauptsatzes an von klarem, transparenten Klang. Die Hebungen und Senkungen kommen, teilweise moderat.


    Lieber Willi,


    ich habe mir gerade in einer Arbeitspause die Vox-Aufnahme zu Gemüte geführt. :) Bei Brendel kommt man ins Grübeln. Op. 90 ist Beethoven auf der Schwelle zu Schubert - aber eben doch (noch) nicht Schubert. Brendel neigt dazu meine ich, diese Schwelle zu überschreiten. Ich finde, dass er den Beethoven im romantischen Sinne etwas "homogenisiert". So wirkt schon der erste Satz zu Beginn so, als stände hier die Überschrift des 2. drüber: sehr singbar vorzutragen. Er spielt dort melodische Bögen heraus, die von Beethoven bezeichnend gar nicht notiert sind. Die "Lebhaftigkeit" wird so doch deutlich zurückgenommen. Natürlich ist das alles andere als eindimensional. Aufregend z.B. das Pianissimo Takt 24, ein betörendes mistrioso wird das bei Brendel. Da er das alles weniger schroff als sanglich nimmt, wird dann die Durchführung zum dynamischen Zentrum, weil hier die Kontraste auf kleinem Raum aufeinandertreffen.


    Über dem 2. Satz steht Nicht so geschwind und sehr singbar vorgetragen. Da finde ich überschreitet Brendel die Grenze hin zu Schubert ein wenig zu sehr. Bei ihm liegt die Betonung auf geschwind - nur nicht allzu sehr. Wie bei Schubert fließt die Melodie im flüssigen Tempo weiter und weiter - schafft ein durchlaufendes Kontinuum. Das Spezifische von Beethoven, die architektonischen Kontraste, bleiben da doch ein wenig "unterbelichtet". Die Rondo-Charaktere ahnt man mehr als man sie hört - Kontinuität statt Diskontinuität des Wechsels. Das gefällt mir eindeutig bei Emil Gilels besser, wo man doch das "Klassische" spürt, das formale Kontrastdenken. Beethoven ist eben doch noch nicht ganz Schubert. Durch die "Romantisierung" wirkt der Satz bei Brendel ein wenig zu gleichförmig für meinen Geschmack. Natürlich ist das hoch kultiviert gespielt und Brendel hat immer wieder seine starken Momente - etwa die emphatische Aufregung ganz am Schluß. Das ist ohne Frage eine Interpretation auf allerhöchstem Niveau, deren Ansatz aber für meinen Geschmack sehr diskussionswürdig ist. Gibt es nicht Parallelen von op. 90 und op. 111? Ein dynamisch-energischer Kopfsatz kontrastiert mit einem melodischen, zur Entrückung neigenden 2. Satz. Bei Brendel spürt man diesen schroffen Gegensatz eigentlich kaum noch - auch hier verschwindet die Differenz zugunsten eines romantischen Kontinuums. Noch einmal: Ist Beethoven wirklich schon Schubert? Der erste Satz ist im Grunde doch ein "Kampf", da ist ein Subjekt, das sehr aufgewühlt noch nicht zu sich selbst gefunden hat. Im 2. Satz dagegen kommt die melodische Verfestigung - die Subjektivität hat ihre Ruhe und Mitte gefunden. Bezeichnend laufen die entstehenden dynamischen Bewegungen im 2. Satz von op. 90 immer wieder in das schöne Liedthema aus - im ersten Satz dagegen ist es genau umgekehrt. Da ist zwar auch Melodik drin, aber deren Fundament wird ständig "untergraben", die Musik stürzt ins Bodenlose ab. Ganz anders bei Schubert: Da hat die Melodik diese Dimension der "schlechten Unendlichkeit" einer Wanderung nach einem unerreichbaren Ziel - während sie bei Beethoven ihr Ziel stets findet. Über diesen Gegensatz gibt Brendels Interpretation dann doch zu wenig Aufschluß für mein Empfinden. Die Ambivalenz einer stürmenden und drängenden Klassizität mit romantischen Zügen kommt nicht so recht zum Ausdruck. Aber solche Fragen zu diskutieren, das ist ja der eigentliche Sinn eines solchen Interpretationsvergleichs! :) :hello:


    Herzliche Grüße
    Holger

  • Zitat

    Dr. Holger Kaletha: Da er das alles weniger schroff als sanglich nimmt, wird dann die Durchführung zum dynamischen Zentrum, weil hier die Kontraste auf kleinem Raum aufeinandertreffen.

    Ich finde, lieber Holger, dass das dynamische Zentrum im Kopfsatz, auch bei Brendel, wie es mir gerade bei seiner letzten Aufnahme auch wieder auffiel, aus mehreren Teilen besteht, beginnend schon in der Überleitung in Takt 28 bis 34, , dann am Ende der Überleitung ab Takt 43 in den Seitensatz hinein mit den famosen Takten 51-pp-52-cresc.-53-ff-54-dim., schließlich in der Schlussgruppe am Ende der Exposition , beginnend in Takt 67.Vielleicht spielt Gilels das noch eindringlicher, aber ich finde, dass Brendel, gerade in seiner letzten Aufnahme, vielleicht dynamisch am überzeugendsten ist.



    Zitat

    Dr. Holger Kaletha: So wirkt schon der erste Satz zu Beginn so, als stände hier die Überschrift des 2. drüber: sehr singbar vorzutragen...

    Nach meiner Ansicht sind im ersten Satz eine Reihe von lyrischen Teilen enthalten, schon alleine im p der Takte 3 und 4, 7 und 8 und das ganze "Antwortthema Takt 9 bis 16, und das ist klar, dass Brendel solche Stellen aussingt. Vielleicht wären die Kontraste noch größer gewesen, wenn er die jeweiligen zwei Fortetakte noch stärker genommen hätte. Und ich finde, dass man den dritten Abschnitt Takt 16 bis 24 auf der Eins, durchaus auch zur lyrischen Fraktion dazurechnen kann, die ja auch größtenteils legato notiert sind. Sogar der dritte Abwärtsgang in der Überleitung, Takt 37 bis 40 ist legato notiert, ebenso wie die "in tempo"-Passage und die Schlussgruppe. Dagegen ist in der Durchführung der Non-legato-Anteil deutlich höher. Und in der Reprise verhält es sich so ähnlich wie in der Exposition.



    Zitat

    Dr. Holger Kaletha: Noch einmal: Ist Beethoven wirklich schon Schubert?

    Natürlich ist er es nicht. Als Beethoven diese Sonate in Druck gab, war Schubert 18. Eher hätte es sich umgekehrt verhalten können, obwohl jedoch Schubert eine ganz eigenständige Persönlichkeit war, die sich, um künstlerisch überleben zu können, sich von den Beethovenschen Vorbildern lösen musste und dies auch tat, wie ich finde.. Dass er dies mit einer ganz anderen musikalischen Persönlichkeit tat als Beethoven, zeigt auch ein Vergleich, den Alfred Brendel gebrauchte und den ich hier auch schon mal zitiert habe. Er sagte, während Schubert ein "Nachtwandler" sei, sei Beethoven ein "Architekt". Dies entspricht in etwa auch dem Vergleich, den du triffst:



    Zitat

    Dr. Holger Kaletha: Ganz anders bei Schubert: Da hat die Melodik diese Dimension der "schlechten Unendlichkeit" einer Wanderung nach einem unerreichbaren Ziel, während sie bei Beethoven ihr Ziel stets findet.

    Ich freue mich jetzt schon auf die Besprechung der beiden Aufnahmen Gilels (1974 Studio und 1980 Live), einmal auf den Vergleich untereinander und dann auch auf den Vergleich mit Brendel.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
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