Otto Gerdes — Gefeierter Produzent, verkannter Dirigent

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    Otto Gerdes (geboren am 20. Januar 1920 in Köln, gestorben am 15. Juni 1989) war ein ein deutscher Dirigent und Musikproduzent.


    Nach einem Musikstudium in Köln gründete Gerdes 1946 ein Tanzorchester ebenda, das Kölner Rundfunk-Tanzorchester. Dieses wurde allerdings bereits im Herbst 1947 vom NWDR aufgelöst.


    Gerdes übernahm in der Folgezeit beim Südwestfunk die Dirigentenstelle des Unterhaltungsorchesters.


    Es folgten Dirigate auch bei anderen Orchestern, nun allerdings im Bereich der E-Musik. Er war daneben als Produzent und künstlerischer Leiter in den Opernhäusern von Berlin und München tätig.


    1956 ging Gerdes als Produzent zur Deutschen Grammophon Gesellschaft und avancierte 1963 zum künstlerischen Direktor. 1966 wurde ihm als Produzenten der Grammy Award für den "Wozzeck" unter Böhm verliehen. Angeblich wurde er aus den Diensten der DG entlassen, nachdem er Herbert von Karajan jovial als "Herr Kollege" begrüßt hatte.


    Gerdes' bis heute berühmteste Aufnahme ist der "Tannhäuser" aus dem Jahre 1968/69 mit Windgassen, Fischer-Dieskau, Adam und Nilsson. Daneben existieren Aufnahmen des "Meistersinger"-Vorspiels, der relativ unbekannten Symphonie in C-Dur von Wagner sowie der 4. Symphonie von Brahms.


    Später spielte er mit den Rundfunk-Sinfonieorchestern Berlin und Leipzig für das DDR-Label Eterna ein und war für die tschechische Supraphon tätig.


    Im Juni 1989 starb Gerdes im Alter von 69 Jahren. Sein berühmter Widersacher Karajan überlebte ihn um einen Monat.


    2001 erhielt er postum den Ehrenorden der freien Musiker-Loge Baden-Baden für sein Lebenswerk.



    Vor der Aufnahme war ich irgendwann gewarnt worden. Kürzlich habe ich mir mein eigenes Bild gemacht und muss den Verriss doch scharf zurückweisen. Die Sängerbesetzung ist erstklassig. Wolfgang Windgassen legt einen spektakulären Tannhäuser hin, Dietrich Fischer-Dieskau ist der vielleicht beste Wolfram, Theo Adam ein nobler Landgraf und Birgit Nilsson überzeugt als sensationelle Venus. Abstriche muss man machen bei ihrer Darstellung der Elisabeth; sie ist halt nicht das unschuldige Ding, aber egal. Wirklich überrascht war ich vom Dirigat von Otto Gerdes, das sich m. E. keineswegs verstecken muss. Er lässt der Musik Zeit zum Atmen. Die Aufnahme erschien nach ihrer LP-Veröffentlichung lange nicht auf CD, offensichtlich erst 2002. Vielleicht war der Gegensatz zwischen Gerdes und Karajan dergestalt, dass letzterer sogar die Zurückhaltung der Aufnahme erreichte? Eine besonders gute Presse hatte sie ja offensichtlich nicht. Sollte die Anekdote stimmen, die zur Entlassung von Gerdes führte, zeichnet das wieder ein bezeichnendes Bild Karajans. Womöglich neidete er ihm, dass die DG nicht ihn selbst mit der Einspielung betraute.


    "Bei dieser Aufnahme soll Fischer-Dieskau gesagt haben, er habe vieles neu entdeckt, was er an dieser Oper bisher noch nicht erkannt habe." (Kenneth S. Whitton, DFD Mastersinger, London 1981)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Herzlichen Dank für diesen Beitrag zum von mir hochgeschätzten Dirigenten und Produzenten Otto Gerdes. Viel ist es ja nicht, was es heutzutage an Aufnahmen mit ihm noch gibt (als Dirigent), deshalb sollten diese CDs nicht unerwähnt bleiben:


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    Verdi - Othello
    Großer Querschnitt in deutscher Sprache
    Aufnahme: 1967, Studio
    Dirigent: Otto Gerdes
    Bayerisches Staatsorchester München
    Chor der Bayerischen Staatsoper München


    Cassio: Friedrich Lenz
    Desdemona: Teresa Stratas
    Emilia: Monika Piper
    Iago: Dietrich Fischer-Dieskau
    Lodovico: Valentin Dickhaut
    Montano: Hans Bruno Ernst
    Otello: Wolfgang Windgassen
    Roderigo: Friedrich Lenz


    ++++++++++++++


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    Peter Tschaikowski - Eugen Onegin
    Großer Querschnitt in deutscher Sprache
    Aufnahme: 1966, Studio
    Dirigent: Otto Gerdes
    Bayerisches Staatsorchester München
    Chor der Bayerischen Staatsoper München


    Eugen Onegin: Dietrich Fischer-Dieskau
    Fürst Gremin: Martti Talvela
    Lensky: Fritz Wunderlich
    Olga: Brigitte Fassbaender
    Tatyana: Evelyn Lear


    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Vor der Aufnahme war ich irgendwann gewarnt worden. Kürzlich habe ich mir mein eigenes Bild gemacht und muss den Verriss doch scharf zurückweisen. Die Sängerbesetzung ist erstklassig. Wolfgang Windgassen legt einen spektakulären Tannhäuser hin, Dietrich Fischer-Dieskau ist der vielleicht beste Wolfram, Theo Adam ein nobler Landgraf und Birgit Nilsson überzeugt als sensationelle Venus. Abstriche muss man machen bei ihrer Darstellung der Elisabeth; sie ist halt nicht das unschuldige Ding, aber egal. Wirklich überrascht war ich vom Dirigat von Otto Gerdes, das sich m. E. keineswegs verstecken muss. Er lässt der Musik Zeit zum Atmen.


    Lieber Joseph II., mir ist es ähnlich ergangen, ich wurde auch gewarnt. Ob ich nun nur deshalb die Aufnahme nicht der Rede wert fand, weiß ich nicht mehr. Es sollte mich wundern, weil ich mir meine Urteile selbst zu erarbeiten pflege. Zumindest hast Du mich ermuntert, mir die Einspielung, die seit Jahren im Regal steht, erneut vorzunehmen. Meine erste Begegnung damit fand vor lange Zeit bizarrerweise in Moskau statt. Die Russen hatten sie als LP veröffentlicht, was mich wunderte. Nach meiner Erinnerung konnte Fischer-Dieskau seine enorme Leistung in der Konwitschny-Einspielung, die neun Jahre vorher entstand, nicht ganz wiederholen. Adam kam mir zu gestelzt vor. Windgassen überzeugte mich in den in den Livemitschnitten mehr. Die ehr verkaufsfördernde Idee, Venus und Elisabeth mit einer Sängerin - in diesem Fall Birgit Nilsson - zu besetzten, empfand ich als Irrtum. Sie war plötzlich weder das das eine, noch das andere. Einzig Horst E. Laubenthal als Walther ist mir in beglückender Erinnerung geblieben. Das wir in dieser Produktion die Dresdener Fassung hören, gibt es auch den wunderbaren "Bronnen, den uns Wolfram nannte". Ich bin gespannt, was bei meinem erneuten Hören herauskommt.


    Auf jeden fall freue ich mich sehr, dass an Gerdes erinnert wurde. :)


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich möchte zu den Gerdes-Aufnahmen mit Rundfunk-Orchestern in der DDR anmerken, dass diese vor seiner Tätigkeit für die Deutsche Grammophon (ca. 1953/54) entstanden sind, als Gerdes für kurze Zeit der "Gründungs-Produzent" der ersten heute noch bekannten Eterna-Aufnahmen war. Eine bedeutende Produktion dieser Zeit von Gerdes war die Eroica mit der Sächsischen Staatskapelle mit Konwitschny vom 03./04.11.1954, die als erste Eterna 12" LP 820 001 veröffentlicht wurde. Hier das Cover der zweiten LP-Ausgabe von 1959, die von Edel für die noch verfügbare CD-Ausgabe reproduziert wurde:



    Gerdes wurde kurz danach 1955 (?) von der Deutschen Grammophon abgeworben und verließ die DDR. Mit ihm wechselte auch der Tonmeister Werner Wolf, der in der Übergangszeit zur Stereofonie viele Fricsay-Aufnahmen und (West-)Berliner Aufnahmen der DGG der 60er betreut hat. Jedoch hat nach meiner Kenntnis - wie Gerdes - auch Wolf nur überschaubare Zeit für die Grammophon gearbeitet.

  • Oh, da kennt sich jemand ja richtig gut aus. :)


    Schön, dass du neu dabei bist, ich freue mich auf viele weitere interessante Beiträge von dir. :hello:


    (Und mit deiner in deinem Einstandsbeitrag geäußerten Thielemann-Bewunderung rennst du mir mir offene Türen ein :rolleyes: - wenn auch nicht bei allen hier... :untertauch: )

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Ottavio,


    schön, dass wir mit dDr einen offensichtlich kenntnisreichen Mitstreiter in der Opernfraktion bekommen haben. Herzlich willkommen. Ich freue mich auf viele Beiträge von Dir und lebhafte Diskussionen.


    Herzlichst
    Operus :hello:

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Wie kam Gerdes denn von Kölner Tanzorchester 1947 auf einmal 1953 in die DDR? Klar, das war vor dem Mauerbau, aber es dürfte doch eher ungewöhnlich gewesen sein, dass sich ein Rheinländer dort verdingt hätte, oder?

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Wechsel von West nach Ost waren damals noch nicht sehr ungewöhnlich. Ende der 1940er Jahre wechselte Franz Konwitschny von Hannover nach Leipzig, in den 1950er Jahren wechselte Arthur Apelt, GMD in Wiesbaden, als Kapellmeister an die wiedereröffnete Deutsche Staatsoper Berlin.
    Die spätere in Stein gemeißelte Festschreibung, dass es im Westen besser sein MUSS als im Osten, gab es so damals noch nicht...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • In der Tat. Wechsel zwischen den Welten waren damals möglich, wenngleich verpönt und politisch bisweilen sanktioniert. Neben einem Platz auf der schwarzen Liste mancher Kozert-/Opernhäuser führte der Groll gegenüber in die SBZ/DDR gewechselten Künstlern wie Konwitschny zu Possen wie dieser:


    Der Spiegel berichtete nach einem Gastspiel Konwitschnys in Hannover am 28.11.1951 (Quelle: Spiegel Online-Archiv):


    "Franz Konwitschny, 50, ehemaliger Generalmusikdirektor der hannoverschen Oper, der seit 1949 das Leipziger Gewandhausorchester dirigiert, suchte nach einem Gastkonzert in Hannover seinen Opel vergebens. Die Erklärung gaben Umstehende: Die Finanzvollstreckungsbehörde hatte den Wagen gepfändet, weil Professor Konwitschny noch nachträglich errechnete Steuerschulden hatte. Er war kurz vor dem Konzert von Finanzbeamten aufgefordert worden, die Summe von seinem Honorar zu zahlen. Das war ihm als Devisenausländer nicht möglich. Der Wagen wurde am nächsten Tag wieder freiverhandelt."

    Die Entscheidung für die DDR bedeutete nicht selten das Aus für die Karriere in der BRD. Kurioserweise war die innerdeutsche Verschränkung der Musikwelt zum Teil ausgeprägter als beispielsweise europäische Gastspiele (Gastspiele in Covent Garden etc.). Otmar Suitner hat die westliche Ablehnung aus der BRD auch deutlich zu spüren bekommen.


    Heinz Bongartz ist nach meiner Kenntnis auch erst 1947 als Chef der Dresdner Philharmonie in die DDR gekommen. Horst Stein ist im "Schlepptau" von Erich Kleiber als Staatskapellmeister an die Lindenoper gewechselt und hat es dort immerhin bis 1947 ausgehalten. Keilberth hat in einer für ihn schwierigen Zeit einen Neuanfang in Dresden gewagt und mit der Staatskapelle unter widrigsten Bedingungen denkwürdige Opern- und Konzertereignisse mit den damals noch hervorragenden Dresdner Ensemble gestaltet.


    Lovro von Matacic war von 1956-58 zumindest formal Chef der Dresdner Staatskapelle, hat jedoch in diesem Amt wenig - insbesondere mediale - Spuren hinterlassen. In diesen Jahren sich intensivierender Eterna-Aufnahmen kam es erstaunlicherweise zu keiner einzigen Plattenaufnahme mit der Staatskapelle, obwohl der Vertrag mit EMI damals sicherlich nicht exklusiv war bzw. auch Koproduktionen ermöglicht hätte.


    Der heute fast vergessene Operndirigent Paul Schmitz (Strauss-Schüler), den die Nazis auf die Gottbegnadeten-Liste hoben, ist nach Aufbauarbeit in Leipzig als GMD nach Karlsruhe (?) gewechselt, wo er bis zur Rente wirkte. Erst nach dem er sich vergewisserte, seine (West-)Rente mit einem neuerlichen Wechsel nicht zu verlieren, ging er für seinen überaus aktiven Ruhestand in die DDR zurück, wo er als Gast in Dresden und vor allem wieder an "seiner" Oper in Leipzig wirkte und mit SängerInnen wie Anna Tomowa-Sintow eine weitere Sängergeneration auf große Aufgaben vorbereitete.


    Ein überaus spannendes Feld, zu dem ich hoffentlich noch einiges beitragen kann...

  • Mir ist natürlich ein Fehler unterlaufen: Stein blieb bis 1961 (nicht 1947) an der Lindenoper und hat in den Eterna-Gründerjahren für dieses Label auch Orchesterwerke mit den RSO Berlin und Leipzig sowie einige Opernaufnahmen (teilweise Electrola, teilweise DGG) in Ost- und West-Berlin produziert, die z. T. noch verfügbar sind. Auch Meinhard von Zallinger (wie Bongartz, Abendroth und die DDR-Rundfunkgröße Helmut Koch NSDAP-Mitglied) hat sich in politisch höchst angespannter Zeit für die DDR entschieden und dort im August 1953 als Felsensteins GMD der Komischen Oper angetreten. Die Liste ließe sich in der Tat noch wesentlich verlängern. Auch viele westliche Solisten (Helene Boschi, Paul Tortelier, Gerhard Puchelt, Malcolm Frager, Yehudi Menuhin) kamen gerne als Gast -aber nur als Gast- gerne in die DDR bzw. zu den dortigen z.T. angeschlagenen (Spitzen-)Orchestern.

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Wie kam Gerdes denn von Kölner Tanzorchester 1947 auf einmal 1953 in die DDR? Klar, das war vor dem Mauerbau, aber es dürfte doch eher ungewöhnlich gewesen sein, dass sich ein Rheinländer dort verdingt hätte, oder?


    Ich habe doch böserweise den Gerdes-Thread ganz schön ausufern lassen und werde demnächst für die angrenzenden Themen -insbesondere Eterna- einen eigenen Beitrag eröffnen.


    Über seinen Wechsel kann ich derzeit nur spekulieren, da ich noch keine entsprechenden Archiv-Unterlagen gefunden habe. Ich vermute, dass ihm kurz vor oder nach der Verstaatlichung des vor sich hin kriselnden Lied-der-Zeit-Labels das Angebot des Chefproduzenten unterbreitet wurde. Unwahrscheinlicher ist, dass er in Berlin oder Leipzig zuvor Produzent beim DDR-Rundfunk war, da der damals verantwortliche Abteilungsleiter des Rundfunks -der heute hundertjährige Cembalist, Intendant und Kulturpolitiker- Hans Pischner nichts entsprechendes berichtete. Auch Steffen Lieberwirths Darstellung zur Geschichte des Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchesters enthält keinen entsprechenden Hinweis auf eine Tätigkeit Gerdes beim Rundfunk. Es war durchaus üblich, dass Eterna in der Anfangszeit mit Klangkörpern des Rundfunks in den Funkhaus-Studios aufnehmen durfte. Gerdes dürfte jedoch spätestens Frühjahr 1955 die DDR und damit Eterna nach maximal zweijähriger Tätigkeit verlassen haben.

  • Auch von mir ein herzliches Willkommen, lieber Ottavio.


    Da Du Dich scheinbar sehr profund auskennst, was Otto Gerdes angeht, möchte ich noch einmal die Frage aufbringen, ob wirklich etwas dran ist, dass Karajan für die Entlassung von Gerdes als künstlerischem Direktor der DG verantwortlich gewesen sein soll. In welchem Jahr war das überhaupt? Wohl kurz nach 1969. Ist Dir da etwas bekannt?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Joseph II.,


    es klingt sicher vielversprechend, wenn sich feststelle, dass sich Gerdes nur am Rand meines Wissens bewegt - auch wenn ich glücklicherweise kleine Teile seiner nachgelassenen Plattensammlung besitze einschl. Karajan-Anpressungen aus den Händen seines Produzenten:D. Ich kenne auch nur die veröffentlichten Legenden, da ich mit den alten Grammophon-Mitarbeitern nicht so gut vernetzt bin. Allerdings glaube ich, dass die "Guten Morgen, Herr Kollege"-Legende stimmt und willkommener Anlass war. Gerdes war immerhin der -weniger bedeutende- Nachfolger von Elsa Schiller und somit schon sehr exponiert. Aber wenn sich Karajan -wie ich vermute- bei Ernst von Siemens persönlich beschwert und Gerdes loswerden wollte, war Karajan dem DGG-Patriarchen sicherlich der wichtigere Kopf.



    Die Zeit vom 05.04.1968 (Online-Archiv) berichtete aus dem Studio von der Scheherazade-Produktion, die das gespannte Verhältnis zwischen dem Herrn K. und Gerdes bereits erkennen lässt:


    Otto Gerdes ist künstlerischer Leiter der Deutschen Grammophon Gesellschaft und dort speziell für die Repertoirebildung und Durchführung von Aufnahmen mit Herbert von Karajan verantwortlich. Wie kommt ein solches Programm zustande? Nimmt Karajan Einfluß auf die Technik der Plattenaufnahme?


    Was die Repertoirebildung betrifft, so muß man unterscheiden: Einmal hat Herr von Karajan ganz bestimmte Wünsche, was er dirigieren möchte; zum Beispiel ist es ihm ein Anliegen, eine Schostakowitsch-Symphonie aufzunehmen oder sich für das symphonische Schaffen von Sibelius einzusetzen.


    An „Scheherazade“ zum Beispiel ist er nicht mit großer Begeisterung herangegangen, immer wieder, wollte er ausweichen. Schließlich lag es auf dem Notenpult, Karajan kam zurück zu mir in den Regieraum und sagte, daß er nichts mit dem Stück anzufangen wisse. Ich bat ihn, es noch mal zu versuchen – und er interpretierte den ersten Satz hinreißend. Darauf folgender Dialog: Ich sagte, „Ich weiß gar nicht, was Sie haben, es ist doch eine großartige Interpretation von Ihnen“. Worauf er antwortete, „Das war meine ganze Wut gegen Sie“.


    Auf der anderen Seite haben wir Wünsche für eine breite Basis in Repertoire und Katalog mit Werken, die das Haus dann natürlich auch von einem Top-Dirigenten interpretiert haben möchte. Das ist der merkantile Aspekt, und dagegen sperrt er sich nicht.


    Wenn wir Schallplattenleute nun eine Aufnahme einer Oper oder eines Konzerts vorbereiten, haben wir gewisse Vorstellungen, der Dirigent Karajan hat seine Vorstellungen – wir versuchen, diese Vorstellungen miteinander zu koordinieren: Es ist nicht so, daß man alles abkauft, was der Meister vorschlägt. Auch wir lassen Sänger kommen und vorsingen. Ich erinnere mich an das Beispiel von Gundula Janowitz, auch Edda Moser hat vorsingen müssen, Christoph Eschenbach mußte vorspielen – Karajan hat sich jederzeit, besonders wenn es für ihn ein Namenloser war, bereit erklärt, diese Leute anzuhören, und meistens mit Erfolg.


    Andererseits: Wenn er zum Beispiel den Wunsch hat, mit Herrn Ferras zu arbeiten, akzeptieren wir einen solchen Wunsch; wenn man an das Sibelius-Violinkonzert denkt, war seine Wahl absolut richtig, beim Beethoven vielleicht nicht so glücklich. Nun ist es ja auch Karajans Interpretation, die jedem Musiker weiterhilft.


    Durch die langjährige Zusammenarbeit hat Karajan ein sehr großes Vertrauen zu unserem Team. Es ist ohne Ausnahme immer das gleiche. Denn: Man braucht einen Tonmeister, der sich auf Karajan einstellt, der die Klangvorstellung eines Karajan realisiert: einen natürlichen, nicht manipulierten Klang, einen Tonmeister, der das ganze Spektrum erfaßt, großräumig, wie man es vielleicht selbst in einem Konzertsaal nicht hört, und der trotzdem die Nuancen von irgendwelchen Seitenlinien nicht verliert, sie aber auch nicht hervormanipuliert.


    Karajan hat natürlich seine Wünsche, er geht in den Aufnahmeraum, nimmt zum Beispiel den Satz einer Symphonie oder eines Konzertes in Angriff und hätte gern einen Test. Er spielt zwei bis drei Minuten ein und hört dann ab. Eventuell hat er kleine – ich muß da wirklich vom Minimum sprechen – Wünsche, „Das hätte ich gern großräumiger, weiter weg, näher“, dann läuft eine Sitzung ab, sehr großräumig, sehr rasch, sehr konzentriert. Und es sind ja wirklich Marksteine in der Schallplattengeschichte, daß Karajan die „Haydn-Variationen“ von Brahms in einer einzigen Sitzung eingespielt hat, komplett. Das spricht für seine Konzentration. In der Regel sind bei einer Einspielzeit von zwanzig Minuten effektive fünfzehn auf dem Band.


    Karajan hat natürlich eine bestimmte Vorliebe für bestimmte Epochen der Musikgeschichte. Es ist relativ wenig Neue Musik von ihm eingespielt worden. Nun wäre es ja durchaus denkbar, daß man eine Platte mit Neuer Musik dessentwegen besser verkaufen könnte, weil der große Interpret dahintersteht, man würde der Neuen Musik einen großen Schubs geben können. Aber da ist vorher noch eine Fülle von klassischem Repertoire, von Opern-Repertoire, das wir von ihm brauchen. Das Repertoire zumindest für die nächsten drei Jahre steht fest, jedenfalls im Rohbau; wenn das einmal absolviert ist, wird auch das eine oder andere an Neuer Musik kommen, ich denke da vor allem auch an Schönbergs „Moses und Aron“.


    Das Wort von dem am Mischpult sitzenden Karajan stimmt nicht ganz. Richtig ist, daß er am Mischpult gewisse Effekte beachtet, die sich ergeben, wenn er einmal am Regler spielt; daß er den Tonmeister nach dessen Manipulationen fragt – das Interesse ist immer vorhanden bei ihm. Unter Umständen macht er auch Aufstellungsvorschläge, plaziert zum Beispiel Fern-Trompeten in irgendeiner Weise selber.


    Herbert von Karajan hat ein Prinzip: Er hat eine feste Vorstellung von dem, was er erreichen will, und erwartet das Gleiche von allen seinen Mitarbeitern. Das ist für ihn überhaupt der Boden einer Zusammenarbeit. Der eine oder andere sagt, das sei arrogant. Es kann arrogant sein, aber für uns ist es sehr kollegial, wenn er sagt: Ich kann nur mit Menschen zusammenarbeiten, die ihr Handwerk verstehen so wie ich. Ich habe das einmal in dem Satz zusammengefaßt:
    Herbert von Karajan ist ein „Kollege mit Autorität“.


    <<<Das war er gewiss ;)



    Zu Gerdes NDWR-Zeit noch ein weiterer Spiegel-Artikel vom 17.01.1948 aus dem dankbaren Online-Archiv:


    RUNDFUNK


    Blech an die Wand gedrückt
    Zwischen heiß und süß

    Der NWDR-Tanzmusik-Krieg ist aus.
    Der Hörer und die Violinen haben die Schlacht der Töne gewonnen. Das entfesselte Saxophon ist in Ketten gelegt.


    Auf der Strecke blieben: Die Kapelle, Otto Gerdes, Friedrich Meyer, der Arrangeur der Kapelle Kurt Wege, und Dorle Rath, die Refrainsängerin. Der "Stein des Anstoßes", Kurt Wege, hat sich auf einen zweimonatigen "Erholungsurlaub" begeben.


    Nach Aussage des NWDR hat er einen Nervenzusammenbruch erlitten. Nach eigener Aussage schwebt ihm, der früher erster Soloklarinettist bei Peter Kreuder war, auch selbst komponiert, vor, eine eigene Kapelle mit kleiner Spezialbesetzung zu gründen und dem Vorbild Meister Kreuders zu folgen.


    Der letzte Mittwoch-Tanzabend mit dem Radio-Tanzorchester jedenfalls war entwildert. Die Leitung hatte gleichsam symbolisch die erste Violine Alfred Hauses.


    Dieser Tanzmusik-Krieg wurde mit spitzer Feder und viel Tinte geführt. Man schreckte vor Verbalinjurien keineswegs zurück. Zwei Jahre Straßenbahn-Praxis haben den Wortschatz ungemein erweitert.


    Es begann mit dem leichten Geplänkel einiger Hörerzuschriften. Bei einer Umfrage des NDWR lehnte ein Viertel der Gefragten die Tanzmusik ab. Das war die Kriegserklärung. In der Rundfunkzeitschrift "Hör zu" kamen beide Parteien zu Wort. Es gab Waschkörbe voller Zuschriften.


    Der Grund des NWDR-Krieges war der: Herr X. wollte keine "Negermusik", kein "Quaken und Jaulen, nerventötendes Plärren und widerliches Grunzen", er wollte keine "Negermusik", wenn er nach des Tages Lasten den Knopf seines Radiogerätes bediente, um den Mittwoch-Tanzabend zu hören. Er wollte auch nicht die "perversen" Gesänge von Damen, deren gesangliche Refrain-Note er mit der "verabscheuungswürdigen Grimasse eines ordinären Brunstgeschreies" verglich.


    Die angegriffenen Meister des Jazz hauten auf die Pauke. Das Hörerpublikum habe ja keine Ahnung, was gehobene und künstlerische Tanz-Musik sei. Man bemühe sich, endlich den Anschluß an die Internationale des Jazz zu finden, und Herr X. wolle "Großmütterchen" und die "Rote Laterne".


    Am meisten getroffen fühlten sich die Arrangeure. Man hatte ihnen vorgeworfen, daß sie mit ihren Bearbeitungen jede vernünftige Melodie in Grund und Boden ver-arrangierten. Was wären diese Komponisten schon ohne uns, sagten die Arrangeure. Wir machen ihre musikalischen Träume ja erst genießbar. Ganz zu schweigen von den musikalischen Einfällen der "Pfeifkomponisten", deren Genie nur dazu ausreicht, eine Melodie vorzupfeifen.


    Friedrich Meyer, der Arrangeur Kurt Weges, schleuderte den Hörern seine Meinung ins Gesicht: Wer Melodien hören will, schalte den Kinderfunk ein. Wenn es euch nicht gefällt, wie wir spielen, dann stellt euer Radio ab!


    "Herrn Meyers Vorgehen ist ohne Wissen und Einwilligung des NWDR erfolgt", erklärte Herr Spitz, der Leiter der Abteilung Tanzmusik. Herr Meyer ist nun seinerseits abgestellt, ebenso Otto Gerdes und Dorle Rath.


    Herr Spitz hat jetzt selbst einige "Arrangements" getroffen. Er läßt die Streicher dominieren und drückt das Blech etwas an die Wand. Man soll jetzt wieder Melodien zu hören bekommen. Und im übrigen sollen deutsche Schlager bevorzugt werden.


    "Wir wollen gefällige Tanzmusik spielen. Wir haben selbst eingesehen, daß es so nicht weiter ging", sagt man beim NWDR. Auch den Damen des Refrains ist ans Herz gelegt worden, einfach und unkompliziert zu singen.


    Die Freunde der "heißen" Tanzmusik allerdings erklären: Was jetzt aus dem Mikrophon herauskommt, ist süße Bonbon-Musik!



    Ein weiterer Artikel aus dem - stets dankbaren - Spiegel-Online Archiv verdeutlicht die schon vorher angespannte Situation zwischen Karajan und Gerdes:

  • Auch von mir ein herzliches Willkommen, lieber Ottavio.


    Da Du Dich scheinbar sehr profund auskennst, was Otto Gerdes angeht, möchte ich noch einmal die Frage aufbringen, ob wirklich etwas dran ist, dass Karajan für die Entlassung von Gerdes als künstlerischem Direktor der DG verantwortlich gewesen sein soll. In welchem Jahr war das überhaupt? Wohl kurz nach 1969. Ist Dir da etwas bekannt?


    Zur Frage, wann das verhängnisvolle "Guten Morgen" gefallen ist, kann ich auch nur spekulieren. Norman Lebrecht schreibt in "Ausgespielt - Aufstieg und Fall der Klassikindustrie" auf S. 69: "Eines Morgens, nach dem er in der Nacht zuvor ein Konzert gegeben hatte [sic], machte Gerdes den Fehler, Karajan jovial mit "Herr Kollege" zu begrüßen. Er wurde auf der Stelle entlassen."


    In der Annahme, dass Gerdes dieses Konzert mit den Berliner Philharmonikern in der Berliner Philharmonie (in der Gerdes am nächsten Morgen für die nächste Schallplattenaufnahme erschien >schließt andere Handlungsorte fast aus) dirigiert hat, lässt sich das Ereignis mit dem alten Konzertverzeichnis der Berliner von 1982 (Muck, Bd. 3, den ich leider nicht im heimischen Bestand habe) rekonstruieren.


    Seine letzte Aufnahme bei der Deutschen Grammophon als Dirigent war nach meiner Einschätzung die LP mit der C-Dur-Sinfonie +Faust-/ Rienzi-Ouvertüren von Wagner (DGG 2530 194, P 1972; Produktion Hans Hirsch). Zu diesem Zeitpunkt (Aufnahme 1971???) dürfte Gerdes als Produktionsleiter aber schon abgesetzt worden sein.

  • Lovro von Matacic war von 1956-58 zumindest formal Chef der Dresdner Staatskapelle, hat jedoch in diesem Amt wenig -insbesondere mediale- Spuren hinterlassen.

    Und er dirigierte in dieser Zeit auch viel an der Deutschen Staatsoper Berlin im wiedereröffneten Stammhaus Unter den Linden (u.a. "Die Krönung der Poppea" und "Elektra").

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Mir ist natürlich ein Fehler unterlaufen: Stein blieb bis 1961 (nicht 1947) an der Lindenoper und hat in den Eterna-Gründerjahren für dieses Label auch Orchesterwerke mit den RSO Berlin und Leipzig sowie einige Opernaufnahmen (teilweise Electrola, teilweise DGG) in Ost- und West-Berlin produziert, die z. T. noch verfügbar sind.

    Interessanterweise kehrte Horst Stein nach dem Mauerbau (13.08.1961) noch einmal für zwei Aufführungen an die Deutsche Staatsoper Berlin zurück und dirigierte dort am 22.08.1961 "Butterfly" (mit Ingeborg Wenglor, Anneliese Müller, Erich Witte und Robert Lauhöfer) und am 23.08.1961 "Tosca" (mit Elisabeth Rose, Ernst Kozub und Gerhard Niese) - danach taucht sein Name auf den Besetzungszetteln des Hauses nicht mehr auf (erst nach der "Wende" kam er für mehrere Konzerte und 1994 für vier "Ariadne"-Vorstellungen zurück). Im Gegensatz zu den Tenören Gerhard Unger und Gerhard Stolze, die nach dem Mauerbau gleich im Westen blieben, also nicht mehr zurückkamen und daher als "vertragsbrüchig" galten, wollte Stein anfänglich seinen Vertrag wohl erfüllen, überlegte es sich dann aber rasch anders.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"