Dirigenten - Die alte Garde wird bevorzugt?

  • Wie nicht zu übersehen ist, habe dich diese Tage unter das Motto "Dirigenten" gestellt, dabei ging es unter anderem um "bedeutende" Dirigenten der Gegenwart, wobei der Begriff "bedeutend" natürlich beliebig ausgelegt werden kann, also nicht unbedingt wörtlich zu nehmen ist. Prinzipiell ging es mir darum, jene Dirigienten ein wenig in den Focus zu rücken, welche heute - und vor allem in den nächsten Jahren die Klassikszene einerseits und den Klassik-CD-Markt andreseits "prägen" , bzw "prägen" werden, oder dies zumindest nach heutiger Einschätzung zu erwarten ist.
    Überraschenderweise gibt es hier - aber natürlich nicht nur hier - ein gewisses Beharrungsvermögen. Unbestreitbar große Namen lebender Dirigenten, die aber zumeist die achzig weit hinter sich gelassen haben und wo man nicht genau weiß ob sie noch Aufnahmen machen werden.
    Da ich selbst eine nostalgische Grundeinstellung habe, kann ich dies Verhalten anderer nicht tadeln oder in Frage stellen, ich stelle es nur fest. Schon Stefan Zweig beobachtete um die Jahrhundertwende (1900) eine gewisse Bevorzugung des Alters, dem man einfach mehr Erfahrenheit zubilligte

    Zitat

    "Junge Menschen, die ja aus Instinkt immer schnelle und radikale Veränderungen wollen, galten deshalb als ein bedenkliches Element, das möglichst lange ausgeschaltet oder niedergehalten werden musste"
    aus: Stefan Zweig "Die Welt von gestern" erschienen 1942 in Stockholm posthum


    Warum gerade die alte Garde der Dirigenten so bevorzugt wird (es wurden sogar VERSTORBENE Dirigenten nominiert) ist das Hauptthema dieses Threads.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ein Grund ist sicher, dass es bei vielen Dirigenten doch recht lange dauert bis sie sich derart im Bewusstsein der Mehrheit der Musikliebhaber etabliert haben, dass sie als "bedeutend" bezeichnet werden. Schnelle Karrieren junger Dirigenten wie Rattle, Dudamel oder Thielemann sind doch eher die Ausnahme als die Regel. Vor 1975 hätte vermutlich kaum jemand Günter Wand genannt, der war da schon 63 und begann gerade mit seinem ihn berühmt machenden Brucknerzyklus.


    Ich habe ja gerade Osmo Vänska vorgestellt, sein ersten Einspielungen sind von 1989, das war er immerhin auch schon 36. Und erst in den letzten Jahren ist er einer breiteren Schicht von Hörern bekannt geworden, vermutlich kennen bis jetzt nicht einmal alle Taminos ihn.

  • Ein Grund ist sicher, dass es bei vielen Dirigenten doch recht lange dauert bis sie sich derart im Bewusstsein der Mehrheit der Musikliebhaber etabliert haben, dass sie als "bedeutend" bezeichnet werden. Schnelle Karrieren junger Dirigenten wie Rattle, Dudamel oder Thielemann sind doch eher die Ausnahme als die Regel. Vor 1975 hätte vermutlich kaum jemand Günter Wand genannt, der war da schon 63 und begann gerade mit seinem ihn berühmt machenden Brucknerzyklus.


    Ich habe ja gerade Osmo Vänska vorgestellt, sein ersten Einspielungen sind von 1989, das war er immerhin auch schon 36. Und erst in den letzten Jahren ist er einer breiteren Schicht von Hörern bekannt geworden, vermutlich kennen bis jetzt nicht einmal alle Taminos ihn.


    Lieber lutgra,


    Kann ich nur unterstreichen, es dauert seine Zeit bis ein Pultstar auf breiter Ebene ins Bewußtsein der Musikfreunde vorgedrungen und dort verankert ist. Da heute auch sehr wenig Aufnahmen gemacht werden, Studioaufnahmen überhaupt kaum mehr, haben fast alle Interessenten die großen Zyklen und Aufnahmen der großen Alten in ihren Sammlungen. Auch die Rundfunkanstaltungen greifen schwerpunktmäßig auf die bewährten "Renner" zurück. Wenig Platz für Neues vor allem nicht im gängigen Repertoire.
    Etwas ketzerisch: Ein Paradigmenwechsel muss her, die CD muss verschwinden, das neue Supermedium mit noch weit besserer Tonqualität muss geschaffen werden, so dass alle Produzenten gezwungen werden neu aufzunehmen.


    Herzlichst
    der alte Operus als Revoluzzer!

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Etwas ketzerisch: Ein Paradigmenwechsel muss her, die CD muss verschwinden, das neue Supermedium mit noch weit besserer Tonqualität muss geschaffen werden, so dass alle Produzenten gezwungen werden neu aufzunehmen.


    Herzlichst
    der alte Operus als Revoluzzer!

    Da wir, lieber Hans, auch heute noch Caruso und andere Schellackstars hören wird das erneute aufnehmen wenig zeilführend sein. Und wer Karajan hören will, der wird das auch weiter tun, dem braucht man mit aktuellen Dirigenten gar nicht erst zu kommen und sei die Aufnahmetechnik noch so brilliant.


    Wenn ich selber etwas frech werden darf: dass bei Tamino die alte Garde bevorzugt wird liegt auf der Hand wenn man bedenkt, dass wir ja alle nicht die Jüngsten sind. Da altersbedingt das Gehör auch ein wenig nachlässt hören wir ja mutmaßlich den Frequenzumfang einer Schallplatte schon gar nicht mehr vollumfänglich.


    Es entstehen ja auch genug neue Musikaufnahmen. Die Quartett-Szene ist quietschlebendig, an exzellenten Pianisten haben wir keinen Mangel, und wenn die Society einen Pultstar braucht: bitteschön, da ist sie doch mit Thielemann oder Barenboim gut bedient. Aber mal ehrlich: Beethoven-, Brahms oder Bruckner-GA's gibt's mittlerweile genug. Es ist doch viel verdienstvoller, Neues aufzunehmen als neu aufzunehmen.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Es ist doch viel verdienstvoller, Neues aufzunehmen als neu aufzunehmen.


    Aber "verdienstvoller" im Sinne von "einträglicher", bzw "profitabler" ist immer noch das Umverpacken alter Aufnahmen :baeh01::stumm:
    Neuaufnahmen kamen stets unter ZWEI Bedingungen beim Publikum gut an:
    1) Nach einem Quantensprung in der Aufnahmetechnik (ein solcher ist nicht wirklich zu erwarten, denn Mehrkanaltechnik gab es schon um 1975 - und wurde von den Klassiksammlern boykottiert, angeblich besonders von den Ehefrauen derselben.)


    2) Wenn man einen Ausnahmekünstler live im Konzert gehört hat - und die Illusion haben wollte, diesen Künstler immer wieder im eigenen Heim in gleicher Qualität hören zu können.


    Früher war es so, dass Aufnahmen "großer historische Dirigenten" auch "historisch klangen - und man deshalb die (damals) neuen Aufnahmen bevorzugte. Heute gibt es 50 Jahre alte Einspielungen, die von einem geringen Grundrauschen mal abgesehen, kaum nennenswerte klangliche Nachteile gegenüber heutigen Aufnahmen aufweisen. Dazu kommt noch, das der heutige Klassikhörer technischen Unzulänglichkeiten von alten Tonträgern toleranter gegenübersteht.


    Knapp nach 1960 verschwanden mehr oder weniger alle Mono-Aufnahmen aus den Katalogen. Und die neuen Künstler hatten fürs erste freie Bahn......


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !




  • Aber "verdienstvoller" im Sinne von "einträglicher", bzw "profitabler" ist immer noch das Umverpacken alter Aufnahmen :baeh01: :stumm:


    Da will ich gar nicht widersprechen. McDonalds ist auch profitabler als die Küche des Sterne-Kochs Christopher Wilbrandt. Ich muss jetzt nicht eigens sagen, wo ich persönlich lieber hingehe (zumal ich McD grundsätzlich nicht besuche).


    Die großen Label -das versäumtest Du noch zu erwähnen- haben vor 60 Jahren auch einiges riskiert, sehr viel Sorgfalt auf ihre Aufnahmen verwendet. Da standen keine BWL-Schnösel im Hintergrund, die nur auf Profitabilität geachtet haben. Da wuerde auch schon mal eine Platte produziert, bei der die Erwartung da war, das sie sich vielleicht 300 mal verkaufen würde, aber man hatte den Komponisten gut interpretiert und dokumentiert.


    Diese Aufgabe übernehmen heute die vielen verdienstvollen kleinen Label, quasi die musikalische Sterneküche der Jetzt-Zeit.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Von mir würde ich nicht sagen, dass ich die "alte Garde" unter den Dirigenten grundsätzlich und automatisch bevorzuge. Ich bevorzuge Qualität bzw. das, was ich für Qualität halte, was mich ergreift, was mir nahe geht, was so ist, wie ich mir ein ganz bestimmte Stück vorstelle. Es ist also vor allem eine subjektive Wahrnehmung, die nicht an den Jahrgang von Dirigenten gebunden ist. Den nahtlosen Übergang vom dritten zum vierten Satz in Schumanns 4. Sinfonie höre ich bei keinem anderen Dirigenten so gesteigert, so subtil, so aus dem Nichts heraus wie bei Furtwängler. Nur bei ihm stockt mir der Atem. Also bevorzuge ich ihn für seine Leistung und nicht, weil er zur so genannten alten Garde gehört. Ich könnte jetzt sehr viele Beispiele dieser Art nennen, wo das ähnlich ist. Im Gegensatz zu anderen Forumsmitgliedern lege ich nicht den allererste Wert auf den Klang. Der Inhalt muss stimmen. Ich höre sehr viele Aufnahmen mit jungen Dirigenten, immer auf der Suche, die eigene Erfahrung und Wahrnehmung zu erweitern, ein neues Aha-Erlebnis zu finden. So habe ich mir zuletzt auf Empfehlung aus dem Forum den jungen Petrenko mit Schostakowitsch genau vorgenommen - allerdings mit dem Ergebnis, dass ich zu Kondraschin zurückkehre. Petrenko ist ganz rasant und aufregend in Details und sehr selbstbewusst, erschüttern kann er mich nicht.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Diese Aufgabe übernehmen heute die vielen verdienstvollen kleinen Label, quasi die musikalische Sterneküche der Jetzt-Zeit.


    Lieber Thomas,


    die Macher der kleineren Labels sind nicht nur musikalische Sterneköche, sie sind Schatzsucher und Bewahrer von ansonsten verlorenen oder verschollenen Kulturgütern. Meist mit großem Idealismus, eigenem finanziellen Engagement, geringen Verdienstaussichten gehen sie Risiken ein, getragen von Ihrer Liebe ja Leidenschaft für Musik. Ein ausgezeichnetes Beispiel für mich, was Überzeugungstäter schaffen können, ist für mich das Hamburger Archiv für Gesangskunst. Was das Trio Joachim Leufgen, Thorsten Schneider und Klaus Ulrich Spiegel an Raritäten aufspürt, welche Klangqualität Thorsten Schneider aus alten Aufnahmen herauszaubert und auf welchem inhaltlichen und sprachlichen Niveau KUS seine Booklets verfasst ist wirklich erstaunlich und höchst anerkennenswert. Da sehen manche weit größeren Produzenten alt aus. Wir suchen bei der Gottlob-Frick-Gesellschaft Musikfreunde, die solche Pioniertaten vollbringen. Wenn es dann dazu noch eine schöne Story gibt, wie z. B. dass ein ehemaliger Bürgermeister im Ruhestand eine Schallplattenproduktion gründet und den Tenor Alfons Fügel dem Vergessen entreißt oder ein anderer Musikverrückter eine Scheune mietet und zahllose Aufnahmen eines großen Labels - die entsorgt werden sollen - rettet, darunter bekannte Ensembles und Interpreten, dann erkennen wir solche Leistungen gerne durch die Verleihung der Gottlob-Frick-Medaille in Gold öffentlich und medienwirksam an. Selbstverständlich zeichnen wir in erster Linie Koryphäen und bedeutende Institutionen der Musikszene aus, die im Sinne der Zielsetzungen der Gottlob-Frick-Gesellschaft
    Hervorragendes geleistet haben aus. ( siehe bitte unter www. gottlob-frick-gesellschaft .de / Unsere Medaillenträger) Ich gestehe, dass ich besonders gerne solche sonst meist unbeachtete Leistungen ehre. Versuchen wir also alle, die idealistischen Kleinen zu stützen und zu erhalten, sie sind gewissermaßen "Lebensretter" von Tondokumenten, die musikgeschichtlich und interpretatorisch für die Nachwelt höchste Bedeutung besitzen. :jubel:


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Wir drehen uns im Kreis: Hier, in diesem Forum, wird immer die alte Garde der Dirigenten bevorzugt werden. Weil die meisten Taminos das Kaufen von Aufnahmen und die Kenntnisnahme neuer Aufnahmen nicht miteinander verbinden und vereinbaren können.


    Zum anderen ziehen immer die alten Namen, trotz zweifelhafter künstlerischer Qualität: z. B. Nikolaus Harnoncourt. Was will ich damit sagen? Harnoncourt wird blind gekauft, weil er früher mal sehr gute Interpretationen vorgelegt hat. Wenn ich mir die Aufnahmen seit etwa 2005 anhöre, dann kann ich nur mit dem Kopf schütteln, was da entstanden ist. Aktuelles Beispiel: die letzten 3 Mozart-Sinfonien mit dem Concentus.


    :hello: LT

  • Wir drehen uns im Kreis: Hier, in diesem Forum, wird immer die alte Garde der Dirigenten bevorzugt werden. Weil die meisten Taminos das Kaufen von Aufnahmen und die Kenntnisnahme neuer Aufnahmen nicht miteinander verbinden und vereinbaren können.

    Die Möglichkeit, dass tatsächlich die Neuaufnahmen von Standardrepertoire mehrheitlich zumindest qualitätsmäßig nicht besser sind als die Aufnahmen der "alten Garde" ziehst Du aber schon aus Prinzip nicht in Betracht? ?(

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Wir drehen uns im Kreis: Hier, in diesem Forum, wird immer die alte Garde der Dirigenten bevorzugt werden. Weil die meisten Taminos das Kaufen von Aufnahmen und die Kenntnisnahme neuer Aufnahmen nicht miteinander verbinden und vereinbaren können.


    Lieber Liebestraum, da ist sicher viel Wahres dran, andrerseits ist es eine "Halbwahrheit"
    Das ist keine Tamino-Eigenart, sondern eine allgemein, daß jeder die Künstler seiner, nein sogar der vorangehenden Generation den Vorzug gibt. In amerikanischen Foren werden oft ausschliesslich Aufnahmen aus der Schellack-Ära empfohlen, dagegen ist Karajan ja geradezu ein Jüngling. Und natürlich ist es schwer, jemanden davon zu überzeugen, er möge sich die neueste Einspielung eines Werkes kaufen, das er ohnedies schon ein halbes Dutzend mal (oder öfter !!) im CD-Regal stehen hat.
    Als Betreiber eines Forums fühle ich mich in gewisser Weise verpflichtet auch Neuaufnahmen von Werken des Mainstreams zu kaufen - um am letzten Stand zu bleiben. Leider muss ich sagen, dass die Neuaufnahmen nur in den seltensten Fällen mit den "alten Meistern" mithalten können. Das WARUM ist (vereinfacht formuliert) recht schnell erklärt: vor 50 Jahren sah man in den Interpreten einerseits Götter oder zumindest Übermenschen (und die mussten diesem Anspruch genügen) - und Auifnahmen waren ein "Ereignis". Der englische Pianist Clifford Curzon nannte es "Rendevouz mit der Nachwelt" - und das Bestreben war, eine PERFEKTE und in jeder Hinsicht hochwertige Einspielung zu produzieren. Heute indes will man mittels aggressiver Werbung aus einem beliebigen Dirigenten über Nacht einen "Weltstar" machen - warum sollte das, was im Pop-Bereich so gut klappt - im Klassiksegment nicht funktionieren? Man macht also einen kostengünstigen Mitschnitt von 2 Konzerten selben Inhalts, merzt die ärgsten Fehler aus und ab geht die Post.....
    Aber natürlich werden Neuaufnahme verkauft. Zumindest ein Drittel meiner Einkäufe geht an Nischenrepertoire und Ersteinspielungen mit Solisten und Dirigenten, die nur Insider wirklich kennen. Darüber mehr in Spezialthreads der Zukunft...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich habe es schon einmal gesagt: Man muss doch keine neueren Aufnahmen kaufen, aber kennen sollte sie man schon! Aber die meisten hier leben nur in ihren alten Aufnahmen!


    :hello: LT

  • Man muss doch keine neueren Aufnahmen kaufen, aber kennen sollte sie man schon! Aber die meisten hier leben nur in ihren alten Aufnahmen!

    Gefallen Dir denn die Neuaufnahmen der Lutoslawski-Symphonien durch Esa Pekka-Salonen oder die neue GA der Panufnik-Symphonien durch Borowicz bei cpo?


  • Zitat

    Ich höre sehr viele Aufnahmen mit jungen Dirigenten, immer auf der Suche, die eigene Erfahrung und Wahrnehmung zu erweitern, ein neues Aha-Erlebnis zu finden. So habe ich mir zuletzt auf Empfehlung aus dem Forum den jungen Petrenko mit Schostakowitsch genau vorgenommen - allerdings mit dem Ergebnis, dass ich zu Kondraschin zurückkehre. Petrenko ist ganz rasant und aufregend in Details und sehr selbstbewusst, erschüttern kann er mich nicht.


    Lieber Rheingold,
    dein Zitat kann ich unwahrscheinlich gut (vielleicht mehr als viele Andere) nachvollziehen.
    Wegen der interessanten Kritiken wede ich mir zu gegebener Zeit auf jeden Fall die Petrenko - GA (NAXOS) bei Verfügbarkeit zulegen, da ich gespannt darauf bin. Schon um auch klanglich eine Erstklassige Schostakowitsch _ GA zu haben ist das eine Option für mich. Gerade bei Schostakowitsch bin ich für alle Neuaufnahmen empfänglich und gespannt !
    Die letzte Neuaufnahme war die Ashkenazy - GA (Decca), die wirklich bei einigen Sinfonien eine "moderne Referenz" darstellt und zudem klanglich erste Sahne ist.
    Auch Maxim Schostakowitsch (Supraphon, 2006) ...
    Aber wenn ich einen Schostakowitsch hören will der mich wirklich packen und erschüttern kann, dann gibt es einfach keine Neuaufnahmen --- dann ist das klar Kondraschin (AULOS) und mit auch mit der unbändigen Kraft, die auch Roshdestwensky (Melodiya/Eurodisc) diesen Sinfonien einhaucht.


    Da nützt dann bei der Achten auch kein Mrawinsky(Phi), der laut einiger Liebhaber die Intentionen genau trifft; mich erreicht er mit seiner zurückhaltenden zu trockenen Sichtweise diesesmal einfach nicht (so umwerfend erschütternd die Leningrader Blechbläser auch klingen).


    Von Petrenko kenne ich bisher nur die sehr präzise und sauber klingende Aufnahme der Sinfonie Nr.1. Diese eher sachliche Sichtweise Petrenkos im Vergleich zu meinem Favorit Kondraschin kann mich auch nicht erschüttern.


    Mein derzeitiges Fazit:
    Es gibt viel ausgezeichnete Neuaufnahmen der Schostakowitsch - Sinfonien --- aber keine kann so packen und erschüttern wie die alte Garde (Kondraschin, Swetlanow, Mrawinsky, Roshdestwensky) ... und so alt ist Roshdestwensky (Eurodisc, 1988, DDD) nun auch wieder nicht !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    operus:
    die Macher der kleineren Labels sind nicht nur musikalische Sterneköche, sie sind Schatzsucher und Bewahrer von ansonsten verlorenen oder
    verschollenen Kulturgütern. Meist mit großem Idealismus, eigenem finanziellen Engagement, geringen Verdienstaussichten gehen sie Risiken
    ein, getragen von Ihrer Liebe ja Leidenschaft für Musik. Ein ausgezeichnetes Beispiel für mich, was Überzeugungstäter schaffen können, ist für mich das Hamburger Archiv für Gesangskunst. Was das Trio Joachim Leufgen, Thorsten Schneider und Klaus Ulrich Spiegel an Raritäten aufspürt, welche Klangqualität Thorsten Schneider aus alten Aufnahmen herauszaubert und auf welchem inhaltlichen und sprachlichen Niveau KUS seine Booklets verfasst ist wirklich erstaunlich und höchst anerkennenswert. Da sehen manche weit größeren Produzenten alt aus.


    Dieses dicke Lob von operus hat sich das idealistische Trio des Hamburger Archivs für Gesangskunst Joachim Leufgen, Thorsten Schneider und Klaus Ulrich Spiegel wahrlich einmal verdient. Es ist einfach bewundernswert, wie intensiv und selbstlos sich Joachim Leufgen und Klaus Spiegel dafür einsetzen, verdiente, oft großartige Sänger aus früheren Zeiten der Vergessenheit zu entreißen und einer breiteren Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen. Es ist auch unglaublich, was dieses kleine Unternehmen mit Herrn Leufgen als alleinigen Herausgeber leistet, wobei ihm zum Glück Klaus Ulrich Spiegel mit überaus experten Texten, fundierten Ideen und ständiger Suche nach künstlerisch wertvollen Aufnahmen eine große Stütze ist.


    Eine große Anzahl von Sängerinnen und Sängern verdankt diesem Archiv eine Neuauflage bzw. Zusammenstellung von alten Tondokumenten, die bis dato von den großen Produzenten z. T. sträflich vernachlässigt wurden. Ein eloquentes Beispiel hierfür sind die 4 Boxen zu jeweils 3 CDs + eine Zusatz-CD mit Raritäten, die das Schaffen von JOSEF TRAXEL gebührend würdigen, bereichert mit höchst instruktivem booklet, wie auch das Schaffen von ähnlich halbvergessenen Künstlern/Künstlerinnen wie , LUIGI ALVA, PETER ANDERS, MARCEL CORDES, GEORG HANN, JOHN VAN KESTEREN, HEINRICH SCHLUSNUS, LEOPOLD SIMONEAU, LEO SLEZAK, GÉRARD SOUZAY, RICHARD TAUBER, GEORGES THILL, PIERRETTE ALARIE, SUZANNE DANCO, MAUREEN FORRESTER, MADO ROBIN, LEONIE RYSANEK, um nur einige ganz wenige Beispiele zu nennen.


    Jeder Melomane, dem Gesang am Herzen liegt, sollte diesem Hamburger Archiv für Gesangskunst Lob und Anerkennung für dessen großartigen Kampf gegen das Vergessen einstiger Gesangsgrößen zollen!


    Viele Grüße
    wok

  • Aber wenn ich einen Schostakowitsch hören will der mich wirklich packen und erschüttern kann, dann gibt es einfach keine Neuaufnahmen --- dann ist das klar Kondraschin (AULOS) und mit auch mit der unbändigen Kraft, die auch Roshdestwensky (Melodiya/Eurodisc) diesen Sinfonien einhaucht.


    Da nützt dann bei der Achten auch kein Mrawinsky(Phi), der laut einiger Liebhaber die Intentionen genau trifft; mich erreicht er mit seiner zurückhaltenden zu trockenen Sichtweise diesesmal einfach nicht (so umwerfend erschütternd die Leningrader Blechbläser auch klingen).


    Packend finde ich bei der 8. Schostakowitsch Kondraschin in der Tat, aber nicht wirklich tief erschütternd. Wirklich extremes Leid ist nämlich nicht theatralisch aufregend und - laut lärmend - kraftstrotzend vor Energie, sondern im wörtlich zu nehmenden Sinne passiv (von griech. paschein: leiden), d.h. inaktiv bis zur Schockstarre. Immenses und ungeheuerliches, im Grunde unfaßbares Leid bekundet sich von daher nicht "dramatisch", es macht stumm - bewegt sich auf der Grenze zur Sprachlosigkeit. Genau diese wirklich existenziell tiefschürfende Dimension erfährt man nur bei Mrawinsky. Man kann das "trocken" nennen - aber genau damit wird die Grenze vom äußerlich Theatralischen, vom Affektiv-Erschütternden, zum ganz und gar Unaffektierten, zum Stumm-Entsetzlichen nämlich, überschritten. Kondrashin (und die meisten Anderen) machen viel eindrucksvollen Lärm, inszenieren ein durchaus konventionell-romantisches Sonatensatz-Drama; die Größe von Mrawinsky ist das höchst beredte Schweigen angesichts des Ungeheuren.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Es ist halt eine zwiespältige Angelegenheit. Zum einen will man lieber die Aufnahmen der "Großen Alten" hören - zum andern aber hat der Thread:
    25 bedeutende Dirigenten der Gegenwart - eine Bestandsaufnahme
    nicht nur 25 - sondern sogar über 50 Dirigenten unserer Zeit hervorgeholt, von denen Mitglieder unseres Forums überzeugt sind, daß sie zumindest "bemerkenswert" sind -das Wort "bedeutend" war wahrscheinlich schon vom Threadtitel her überzogen. Einschränkend muß allerdings gesagt werden, daß sich darunter zahlreiche "lebende Legenden" befanden, die zwar noch am Leben sind, aber nicht mehr dirigieren, aber auch wenn sie das tun, nicht mehr als "richtungsweisend" oder "maßstabsetzend" gesehen werden können...
    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Holger,
    ganz anders als bei Harnoncourts Mozart pflichte ich Dir hier vollkommen bei.


    Einen Einwand habe ich dennoch: ich habe und kenne eine Achte Schostakowitschs unter Kondraschin live- und dort gelingt ihm das Verstummen ohne je so "trocken" Sachverwalter zu werden wie Mravinsky.


    Unabhängig davon: Deine Ausführungen um paschein und das Verstummen teile ich.
    Hier nicht weiter wortreich.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Wenn man einen Ausnahmekünstler live im Konzert gehört hat - und die Illusion haben wollte, diesen Künstler immer wieder im eigenen Heim in gleicher Qualität hören zu können.

    Und deshalb lege ich mir eben auch die Aufnahmen mit Petrenko zu, weil er mich in den beiden Konzerten, die ich mit ihm erleben konnte, so ungemein überzeugt hat. Aber ansonsten ist an der These schon etwas dran.

    Zitat

    Wenn ich selber etwas frech werden darf: dass bei Tamino die alte Garde bevorzugt wird liegt auf der Hand wenn man bedenkt, dass wir ja alle nicht die Jüngsten sind.

    Wenn man seit vielen Jahren Musik sammelt, dann hat man eben beim gängigen Repertoire alles oft mehrfach oder sogar vielfach. Würde ich jetzt ganz neu einsteigen, dann sähe es wahrscheinlich ganz anders aus und ich würde mich mehr an den Newcomern orientieren, die die Fachwelt eben so anpreist. Natürlich ist ein junger Dirigent kein Karajan oder Furtwängler oder Wand usw., aber man muss erstmal etwas Vergleichbares abliefern. Bei dem von Alfred genannten Thread waren es ja zum nicht geringen Teil keine jungen, die dort genannt wurden oder es waren Künstler, die erst noch beweisen müssen, dass sie es besser können.

    Zitat

    Da nützt dann bei der Achten auch kein Mrawinsky(Phi), der laut einiger Liebhaber die Intentionen genau trifft; mich erreicht er mit seiner zurückhaltenden zu trockenen Sichtweise diesesmal einfach nicht (so umwerfend erschütternd die Leningrader Blechbläser auch klingen).

    Deshalb bin ich bei Mrawinsky sehr zurückhaltend, gerade bei Schostakowitsch müssen die Extreme deutlich herausgearbeitet werden und da gibt es weiß Gott bessere Interpeten. Sein langjähriger Co-Dirigent bei den Leningradern Kurt Sanderling bescheinigt ihm Kühle, "er war kein Urmusiker, er war ein hochinteressanter Intellektueller, aber im Grunde genommen nicht unbedingt Musiker" .

    Zitat

    Leider muss ich sagen, dass die Neuaufnahmen nur in den seltensten Fällen mit den "alten Meistern" mithalten können.

    Das habe ich leider oft genug auch feststellen können. Es sind eben noch zu wenige, die es mit den Koryphäen der Vergangenheit aufnehmen können. Viel Spreu, wenig Weizen. Bei der "alten Garde" weiß man, was man hat. Wie ich an den bisherigen Beiträgen sehe, liege ich wohl damit auch nicht völlig daneben.
    Mit besten Grüßen
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP