Schuberts Rastlose Liebe – eine Gemeinschaftsanalyse

  • Dieser Thread richtet sich selbstverständlich an alle Taminos, insbesondere aber spreche ich hiermit unseren Lieder-Experten Helmut Hofmann an. Er war so freundlich, sich in meinem Thread über Salzburger Taxigeschichten einer gemeinsamen Lied-Analyse gegenüber sehr aufgeschlossen zu zeigen. Dementsprechend presche ich hiermit vor. Ich habe ein bekanntes, nicht zu langes Schubert-Lied mehr oder weniger zufällig ausgewählt. Hier soll tatsächlich nur Musik- und Sprachanalyse betrieben werden, also ersuche ich, keine Interpretationsvergleiche oder CD Empfehlungen einzustellen, es
    sei denn in inhaltlichem Zusammenhang mit der Analyse.


    Ich vermute, dass du, Helmut, und ich sehr unterschiedliche Herangehensweisen haben. Du scheinst mir auf sehr philologische Art die Musik zu betrachten, während ich eher von den Noten selbst ausgehe und umgekehrt meine Schlüsse ziehe. Das sollte sich doch großartig ergänzen!
    Wenn du (ihr) gestattet, eröffne ich hier einfach einmal mit meinen Ideen über gegenständliches Lied.


    Franz Schubert, Rastlose Liebe nach einem Gedicht von Goethe, das Lied wurde 1812 publiziert.


    Dem Schnee, dem Regen.
    Dem Wind entgegen,
    Im Dampf der Klüfte,
    Durch Nebeldüfte,
    Immer zu! Immer zu !
    Ohne Rast und Ruh' !


    Lieber durch Leiden
    Möcht' ich mich schlagen,
    Als so viel Freuden
    Des Lebens ertragen;
    Alle das Neigen
    Von Herzen zu Herzen,
    Ach, wie so eigen
    Schaffet das Schmerzen!


    Wie soll ich fliehen?
    Wälderwärts ziehen?
    Alles vergebens !
    Krone des Lebens,
    Glück ohne Ruh',
    Liebe, bist du!


    Es handelt sich hier um ein durchkomponiertes Strophenlied. Das Autograph steht in E-Dur. Die Klavierstimme teilt sich in einzelne Bassnoten ("sempre staccato" schreibt hier Schubert) und Sechzehntel-Zerlegungen in der rechten Hand, die gemäß Autograph "sempre legato" auszuführen sind.


    In diesem Gedicht, wie ich es verstehe, geht es nicht tatsächlich um Liebe im Allgemeinen, sondern um leidenschaftliche Liebe im Besonderen. Um jene Liebe, die uns in Wallungen bringt, die uns unseren Schlaf raubt, und dann uns alles andere vergessen lässt. Und es geht darum, dass diese Liebesgefühle in aller Regel sehr ambivalent sind, durchsetzt von Unruhegefühlen, Ängsten und gleichzeitigen Hochstimmungen.


    Diese innere Ruhelosigkeit bringt Schubert in permanenter, stürmischer Sechzehntel-Bewegung der Klavierbegleitung zum Ausdruck. Die Akkordzerlegungen in der rechten Hand laufen in so rasenden Tempo, dass man als Hörer kaum eine harmonische Entwicklung bewusst wahrzunehmen imstande ist. Es sind die Knotenpunkte ungewöhnlicher oder deutlicher Harmoniewechsel, die man beim Hören bewusst und intensiv erlebt. Die harmonischen Feinheiten erschließen sich nur durch Betrachtung des Notentextes.


    Schubert bringt die Ambivalenz, das Hin- und Hergerissensein zwischen verschiedensten Gefühlen, in mannifacher Weise zum Ausdruck.


    Allein die Einleitungstakte sind hierfür programmatisch. Die Basslinie schreitet in den sechs ersten Takten unspektakulär stufenweise aufwärts, während die Akkorde der rechten Hand permanente, nahezu taktweise Tonartenwechsel (von "Modulationen" kann man angesichts der Schnelligkeit der Abfolge kaum sprechen) vollziehen. Die aufsteigende Basslinie mit teils chromatische Zwischenschritte suggeriert hierbei die sich steigernde Freude. Die Tatsache, dass diese nicht so einfach in den Harmonien mitgetragen, sondern mit verminderten Akkorden und Zwischendominanten umgedeutet wird, zeugt von jener ambivalenten Gefühlsstimmung, die diese Freude gleichsam hin- und her reißt.


    Mit dem Einsatz der Singstimme etabliert sich zwar wieder E-Dur als Grundtonart, jedoch bereits im nächsten Takt wieder mit getrübter Stimmung: das c statt cis auf "Re-gen" und vier Takte später das d statt dis (in fis-moll) auf dem Wort "Klüf-te" durchbricht, wie noch oft in diesem Lied, die Kontinuität von Dur und moll. Die Musik changiert übergangslos zwischen dem einen und dem anderen. Ebenso wie auch leidenschaftliche Liebesempfindungen.


    Gleichzeitig verwendet Schubert in diesem Lied, das sehr wenig bis gar kein echtes "thematisches Material" aufweist, eine Art "harmonisches Leitmotiv": ein kleiner Sekundschritt abwärts, der auf verschiedenen Stufen auftritt und harmonisch gesehen ein Vorhalt ist. Jedoch wird dieser sehr klar als klassisches "Seufzer-Motiv" empfunden. Er erscheint sofort in der Oberstimme der Eineitung (h und a im T. 2 bzw. e und dis im T. 4) und tritt dann bald auch in der Singstimme auf: c-h auf "Re-gen" bzw. e-dis auf ent-ge-gen, danach "Klüf-te" und "Düf-te" .
    Hier muss man nicht einmal deuten, kennt doch jeder, der sich einmal in dem Gefühl intensiver Leidenschaft befunden hat, das Gefühl, innerhalb aller Seligkeit, oder aber in dem Zustand der Ungewissheit über vorhandene Gegenliebe tiefe Seufzer auszustoßen !


    Die Harmonik der ersten Strophe führt von E-Dur über fis-moll und endet schließlich in h-moll. Chromatische Rückungen und manche Akkorde, die harmonisch schwer in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen sind, färben die Stimmung und erzeugen immer wieder erneut ein Gefühl von Hin- und Hergerissensein. Die harmonische Uneindeutigkeit korresponidert hierbei mit uns allen dem wohlbekannten Gefühl, in der Situation einer neuen Verliebtheit keine Fixpunkt, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben.


    In der zweiten Strophe, die in H-Dur beginnt, erscheint auf "Lei-den" und auf "schla-gen" wieder der nun bereits bekannte Seufzer, hingegen wendet sich die Musik bei "Freuden des Lebens" unerwartet nach G-Dur, was nur mit einer unerwarteten chromatischen Rückung erzielt werden kann.
    Ab T. 33 vor "alle das Neigen ..." beruhigt sich die Begleitung in sanft wiegende Triolen, wenngleich dem "Neigen von Herzen zu Herzen" wiederum keine Dauer beschieden ist, und eine Rückung von G-Dur nach a-moll die dadurch geschaffenen Schmerzen illustriert. Überhaupt moduliert Schubert hier des Öfteren in ungewöhnlicher Weise in Tonarten die genau eine Stufe höher liegen und somit satztechnisch schwierig zu erreichen sind. Gleichzeitig erzeugen diese Rückungen beim Hörer eine Art unerwartetes "Vakuum-Gefühl" im Bauch, ein wenig wie die Abwärtsfahrt und wieder Aufwärtsfahrt einer Hochschaubahn.


    Ähnlich ergeht es dem Hörer wieder auf die Worte "alles, alles vergebens" , wo die Harmonie plötzlich und unerwartet von e-moll ins fahle cis-moll abfällt und bildlich das Gefühl aussichtsloser Verzweiflung nachempfinden lässt. Dass sich die Klavierbegleitung inzwischen wieder von den sanften Triolen in erneut gallopierende Sechzehntel gewandelt hat, ist nur allzu naheliegend.


    In der letzten Strophe scheint sich alles zu stabilisieren. Die Musik gleitet mühelos in das (cis-moll naheliegende) E-Dur zurück und verweilt tatsächlich bis zum Ende des Liedes in dieser Tonart. Es entsteht eine regelrechte Hochstimmung. Abschließend hält die Gesangstimme das Wort "Lie-be" ganze vier Takte lang auf einem Ton aus. Doch Schubert will uns nochmals in Erinnerung rufen, dass man ob dieser Preisung eines wunderbaren Gefühls nicht auf dessen Kehrseite vergessen darf. Während dieses langen e der Singstimme wechselt die Harmonie zwei mal in entfernte Regionen. [Im Takt 80 ist es die Doppeldominante Fis-Dur, im Takt 78 jedoch der für mich nicht im Zusammenhang von E-Dur schlüssig deutbare Akkord c-e-g-ais.] Diese Trübungen werden emotionell beim Hören umso intensiver wahrgenommen.


    Selbst in den Schlusstakten, die sich in der Stimmung ein wenig stabilisiert zu haben scheinen, da ja doch von der "Krone des Lebens" die Rede ist, treten die Seufzer c (statt cis!)-h wieder auf und erinnern daran, dass in der Welt intensiver Emotionen alles in Bewegung, nichts ruhig, nichts fest und schon gar keine Sicherheit vorhanden ist.


    Viele Grüße


    :) Bachiania :)

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Ich bin in Verlegenheit, liebe Bachiania. Und das gleich in doppelter Weise. Erstens habe ich mich zu diesem Lied hier im Forum bereits ausführlich geäußert (im Thread „Schubert und Goethe", Beiträge Nr.51/52f. vom 20.8.2013) und zweitens stimme ich mit all Deinen Ausführungen dazu vollkommen überein, habe also eigentlich nichts hinzuzufügen.


    Deine Betrachtung dieses Liedes geht stärker ins Detail der kompositorischen Faktur und berücksichtigt gründlicher den harmonischen Aspekt. Insofern bist Du dem, was Schubert hier musikalisch zum Ausdruck bringen wollte, näher gekommen als ich. Das ist ohnehin eine Schwäche dessen, was ich hier über Lieder schreibe: Ich verfüge über nur jämmerliche Kenntnisse in Sachen Harmonik und sollte aus diesem Grund eigentlich die Finger von Liedbetrachtungen lassen.


    Mit fällt im Augenblick nichts Besseres ein, als den wesentlichen Teil dessen, was ich zu diesem Lied in besagtem Thread ausgeführt habe, hier abzudrucken.


    Und nun kommt das für mich Wichtigste:
    Du sprichst in Deiner Threaderöffnung von einer „Gemeinschaftsanalyse“. Und mir schwebt jetzt vor, dass sich hier jetzt tatsächlich eine solche ereignet, und zwar in der Form, dass all die Mitglieder des Forums, die zu diesem Lied etwas zu sagen haben – und davon gibt es eine ganze Reihe, darunter auch einen wirklichen „Liedexperten“ – sich dazu äußern.
    Das wäre mir eine wahre Freude!

  • Herders Abschrift dieses Goethe-Gedichts trägt das Datum „Ilmenau, 6. Mai 1776“. Im Jahre 1789 erschien es erstmals im Druck. In seiner Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Liebe artikuliert es lyrisch das Lebensgefühl des „Sturm und Drang“. Schon die äußere Form weist es als literarisches Zeugnis dieser Zeit aus: Uneinheitlichkeit in der Gestaltung der Verse und der Strophen zeichnet es aus. Mal ist das Metrum jambisch, wie in der ersten Strophe, mal stellt es eine Mischung aus Trochäen und Daktylen dar (zweite Strophe und dritte Strophe). Mal stößt man auf einen Paarreim (erste und dritte Strophe), findet dann aber in der zweiten Strophe einen Kreuzreim vor. Und typisch für Goethes lyrische Sprache in dieser Zeit ist die syntaktische Reduktion in Gestalt des Ausrufs: „Immerzu! Immer zu! Ohne Rast und Ruh!“


    Im Zentrum dieser impulsiven lyrischen Reflexion des Themas „Liebe“ steht die Erfahrung der „Schmerzhaftigkeit“, die mit dem Glück und den „Freuden“ der Liebe einhergeht. Das „Neigen von Herzen zu Herzen“ schafft „Schmerzen“. Aber während „Gretchen“ im „Faust“ und „Klärchen“ im „Egmont“ diese Urerfahrung des Zugleich von Glück und Leid in der Liebe als gleichsam naturhafte Gegebenheit akzeptieren, versucht das lyrische Ich in diesem Gedicht ihr zu entfliehen, indem es sich, wie die erste Strophe dies zum Ausdruck bringt, den Extremen der Naturerfahrung aussetzt, - ohne Rast und Ruh durch Schnee, Wind und Regen.


    Aber die Größe dieses Gedichts besteht darin, dass es nicht bei dieser Sturm und Drang-Selbstverwirklichung im genialischen Kampf mit den Naturkräften bleibt. Die zweite Strophe unterscheidet sich nicht ohne guten Grund in der Rhythmik ihrer lyrischen Sprache von der ersten. Mit einem Mal tritt die Reflexion in das genialische Aufbrausen, das die erste Strophe so ganz und gar beherrscht. Und es ist nur konsequent, dass die dritte den Ton der zweiten fortsetzt, und dann doch am Ende in den der ersten verfällt. Freilich nun in einer gleichsam reflexiv gebrochenen Weise. Das lyrische Ich hat begriffen, dass der Weg, der anfänglich in diesem parolenhaften „Immer zu“ verkündet wurde, keine Befreiung aus der existenziellen Grunderfahrung von Liebe beinhaltet. Liebe ist ihrem Wesen nach „Glück ohne Ruh“. Und als solche ist sie „Krone des Lebens“.



    Schuberts Lied steht in E-Dur, weist einen Dreivierteltakt auf und ist mit der Anweisung „Schnell, mit Leidenschaft“ versehen. Sucht man in seiner Faktur nach den Ursachen für den Höreindruck der mitreißenden „Rastlosigkeit“ der Musik, der man hier begegnet, so stößt man alsbald auf den Klaviersatz. Er entwickelt hier ein Eigenleben, das ganz typisch für die neue Form des Klavierliedes ist, wie sie durch Schubert in die Welt kam. Und vor allem: Es ist ein Eigenleben, das sich in einer Art Spannung, ja Diskrepanz zur Struktur der melodischen Linie der Singstimme entfaltet. Die dem Lied so ganz eigene musikalische Dynamik wurzelt ganz wesentlich hierin.


    Der Klaviersatz besteht fast durchgehend aus aufgelösten Akkorden im Diskant in Gestalt von fallenden Sechzehnteln, denen gleichsam gegenläufig aufsteigende Achtel im Bass zugeordnet sind, die „sempre staccato“ zu spielen sind. Nur einmal, nämlich bei den letzten vier Versen der zweiten Strophe („Alle das Neigen…“) treten ruhiger wirkende Achtel-Triolen an die Stelle dieser klanglich äußerst quirlig auftretenden Sechzehntel-Flut im Klaviersatz. An der Steigerung der inneren Rasanz des Liedes wirken viele Faktoren mit. So setzen in der Einleitung die staccato artikulierten Achtel im Klavierbass in ihrer Aufwärtsbewegung von Takt zu Takt höher an. Sie Singstimme setzt im sechsten Takt auftaktig ein, obwohl der Klaviersatz volltaktig angelegt ist. Auf diese Weise entsteht eine Art rhythmische Diskrepanz zwischen Klaviersatz und Singstimme, und diese wirkt dabei wie von jenem vorangetrieben.


    Erst bei dem Wort „immer zu“ kommen beide zusammen. Diesem Wort verleiht Schubert eine hohe Eindringlichkeit, die wie eine weitere Steigerung wirkt: Die melodische Linie setzt hier mit einer Rückung nach A-Dur ein, die wie ein harmonischer Bruch wirkt, denn das „eis“ zuvor wird zu einem „e“ herabgestuft. Auf diesem „e“ deklamiert die Singstimme die einzelnen Silben des wiederholten Wortes sechs Mal in klanglich bohrender Weise, und am Ende macht sie bei dem Wort „ohne“ einen Quartsprung hin zu einem hohen „a“, von dem sie sich in markant langsamer Weise (weil in Gestalt von halben Noten) wieder herab bewegt. Und dies alle ereignet sich fortissimo.


    Mit der zweiten Strophe bleibt zwar das Tempo der Bewegung der melodischen Linie erhalten, die Singstimme nimmt sich dabei aber ein wenig zurück, und das nicht nur, weil sie zunächst im Piano-Bereich verbleibt. Sie meidet auch größere Sprünge, bewegt sich vielmehr zweimal auf einer ähnlich fallenden Linie, bevor sie bei den Versen „Ach so viel Freuden / Des Lebens ertragen“ wieder lebhaftere und mit einer harmonischen Modulation verbundene Sprungbewegungen macht. Die Modulation leitet über zu der zweiten Vierer-Versgruppe der zweiten Strophe, die in G-Dur steht und im Ton jetzt deutlicher lieblicher wirkt.


    Der Klaviersatz besteht jetzt aus triolisch fallenden Achteln, und die melodische Linie macht zwei ähnlich strukturierte Fallbewegungen aus hoher Lage, wobei die zweite eine Sekunde höher ansetzt. Dies steigert die musikalische Eindringlichkeit, die ohnehin schon durch den Wiederholungseffekt zustande kommt. Schubert ist auch hier wieder ganz nahe an der lyrischen Sprache und intensiviert sozusagen das „ach“, das als Aussage diesen Versen zugrundeliegt. Bemerkenswert ist ja in diesem Zusammenhang, dass er sich über das Strophenende hinwegsetzt und die melodische Linie in ihrer Phrasierung bruchlos bis zum dritten Vers der dritten Strophe führt. Erst dort kommt sie, zusammen mit einer Rückung, zum grundlegenden E-Dur und zum Ruhepunkt ihrer Bewegung. Im Grunde ist das – von der lyrischen Aussage her – nicht mehr als konsequent. Diese Verse, vom fünften der zweiten Strophe bis zum dritten der dritten, bilden eine in den Aussagen des lyrischen Ichs wurzelnde Einheit, die die Strophengliederung übergreift. Schubert folgt also kompositorisch der lyrischen Aussage und setzt nicht einfach ein Gedicht in der ihm vorliegenden sprachlichen Gestalt in Musik um.


    Mit welcher Konsequenz er dies hier tut, wie sehr er sich also von seinem kompositorischen Grundprinzip der Verwandlung lyrischer Sprache in musikalische leiten lässt, das kann man auf beeindruckende Weise an dem erleben, was er musikalisch aus den drei letzten Versen macht. Im Grunde ist es eine weitere Strophe, denn es sind siebenundzwanzig Takte mit einem eigenen Klangcharakter. Hier wird das Gedicht musikalisch auf den Kern seiner lyrischen Aussage gebracht. Und das ist der entscheidende Grund dafür, dass man bei diesem Lied von einer kongenialen, weil vollkommen adäquaten Verwandlung eines lyrischen Gebildes in Musik sprechen darf.


    Die „Rastlosigkeit“, von der das Gedicht handelt, wurzelt in den Versen „Glück ohne Ruh, / Liebe bist du!“ Und aus genau diesem Grund kreist die Musik im letzten Teil des Liedes in einer wie nicht enden wollenden Weise um diese letzten Verse. Acht Mal werden die letzten drei Verse – oder Teile von ihnen - wiederholt, und das auf der klanglichen Grundlage jener permanent fallenden Sechzehntel im Klavierdiskant und der sie rhythmisch akzentuierenden Achtel im Bass, die von Anfang an die treibende Kraft dieses Liedes sind. Und auch hier wendet Schubert wieder dieses die musikalische Eindringlichkeit steigernde Mittel an, die Grundfigur der Bewegung der melodischen Linie in variierter Form zu wiederholen.


    Aber damit begnügt er sich nicht. Um der hohen musikalischen Expressivität dieses Liedes gleichsam die Krone aufzusetzen, fügt er in der letzten Wiederholung bei dem lyrisch so zentralen Wort „Liebe“ eine Dehnung in die melodische Linie ein, die vier Takte übergreift. Klanglich so expressiv ist dies deshalb, weil diese melodische Dehnung auf dem Grundton in hoher Lage liegt und die Vokallinie danach, als wolle sie nun endlich zur Ruhe kommen, über eine ganze Oktave zu eben diesem Grundton in tieferer Lage herabsteigt.

  • Liebe Bachiania, lieber Helmut Hofmann


    Walter Dürr hatte in "Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 1970" Seiten 215 bis 231 das Autograph vom 19. Mai 1815, eine frühen Fassung des Liedes "Rastlose Liebe", das sich im Besitz des Archivs der Stadt Linz befindet, einer gründlichen Analyse unterzogen.


    http://www.ooegeschichte.at/up…/hjstl_1970_0215-0230.pdf


    Am Ende der PDF-Datei ist das Faksimile wiedergeben.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Bitte hab Verständnis dafür, lieber moderato, dass ich mich ganz einfach nur ganz herzlich für diesen Hinweis bedanke und fürs erste weiter nichts mehr zu diesem Thread beitrage, sondern warte und hoffe, dass da von anderer Seite noch einiges kommt.

  • Ich will mal einen bescheidenen Anfang wagen und berichten, was mir widerfuhr, als ich in meiner Sammlung nach dem Lied suchte, das mir so unbekannt war. Ich habe dieses Lied nicht nur einmal, sondern von:


    - Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore,
    - Mitsuko Shirai und Hartmut Höll,
    - Sarah Walker und Roger Vignoles,
    - Dame Janet Baker und Geoffrey Parsons,
    - Ruth Ziesak und Ulrich Eisenlohr;
    Da ich zuerst zu Fischer-Dieskau gegriffen habe, habe ich es auch sofort durchgehört, und es hat mich auch sofort angesprochen, weil ich mich mich inhaltlich und musikalisch doch sofort an die Winterreise erinnert fühlte. Was mich aber viel mehr erstaunte als das war die Tatsache, dass von den fünf Aufnahmen, die ich habe (wenn ich keine vergessen habe), vier von Damen gesungen werden und nur eine von einem Mann. Hat das etwa eine tiefere Bewandnis?


    Liebe Grüße


    Willi :)?(

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Helmut,


    eine großartige Analyse ! Genau das, was ich mir erhofft habe ! Ich blicke gerne den Noten und Harmonien ins Innere, du bist der Experte für Versmaße und Deklamation. [Ich hatte zwar im Forum vor dem Schreiben meines Beitrages nach etwaigen Beiträgen zu diesem Lieb gesucht, jedoch nichts gefunden...]
    Ein Freund, mit dem ich neulich über dieses Lied sprach, meinte, er habe es stets so empfunden, als ob Schubert hier gegen das Versmaß komponiert habe. Mir (ich bin ein Laie, was Lyrik betrifft), kommt es so vor, als habe er die Hauptaufgabe dieses Liedes ins Klavier gelegt, und die Stimme sei vorwiegend ein deklamatorischer Vortag der für das Verständnis notwendigen Worte. Dies ist zwar sicher grob vereinfacht, aber kann hierin ein Körnchen Wahrheit stecken?



    as mich aber viel mehr erstaunte als das war die Tatsache, dass von den fünf Aufnahmen, die ich habe (wenn ich keine vergessen habe), vier von Damen gesungen werden und nur eine von einem Mann. Hat das etwa eine tiefere Bewandnis?


    Lieber Willi,


    dies ist ein Punkt, den ich mir auch schon überlegt habe. Generell muss ich gestehen, dass ich es immer ein wenig befremdlich finde, wenn Frauen Lieder singen, die dem Text nach eindeutig Männern zugeordnet sind (oder umgekehrt). Ich bin sicher, diese Frage wurde irgendwo hier im Forum bereits diskutiert. Dieses Lied ist ja gewissermaßen "geschlechtsneutral". Doch könnte es möglich sein, dass Frauen in ihrer doch deutlich stärker als Männer auf Emotionales orientierten Art stärker von diesem Text angesprochen sind ? Ich in meiner Erfahrung vor allem mit jungen Menschen, die sich im Zustand des Verliebtheitstaumels befinden, merke immer wieder, dass Männer sehr eindeutig wissen, was sie wollen (...) und dieses Ziel verfolgen (und natürlich ebenso leiden, wenn sie es nicht erreichen). Frauen jedoch sind wesentlich weniger zielgerichtet und deutlich "anfälliger" für emotionale Verliebtheits-Verwirrungen, für Sorgen und entsprechende Gedanken und für ruhelose Empfindungen.


    [Natürlich will ich Männern keineswegs die entsprechende Sensibilität und Emotionalität absprechen, doch sie sind doch in der Regel eher Lösungsorientiert und auch in Liebesdingen eher pragmatisch als Frauen. Und: natürlich gibt es Männer mit mehr oder weniger weiblichen Persönlichkeitsanteilen...]


    Also: möglicherweise singen deshalb Frauen dieses Lied lieber als Männer ?!?


    :hello: Bachiania :hello:

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Ein Freund, mit dem ich neulich über dieses Lied sprach, meinte, er habe es stets so empfunden, als ob Schubert hier gegen das Versmaß komponiert habe.


    Interessant. Für mich ist gerade die Rastlosigkeit der Komposition der Rastlosigkeit des Gedichtes mit seinem unregelmäßigen Versmaß angepasst.

  • Liebe Bachiania,


    ich habe auf deine (und meine) Frage, wieso Frauen das Lied möglicherweise lieber singen als Männer, mir noch einmal den Text angeschaut und mich gefragt, wie ich das mit Frauen in Verbindung bringen soll. Ich weiß nicht, ob Meister Goethe (der alte Macho :D ), das auch so gesehen hat, aber das erste Schlüsselwort tauchte mir in der zweiten Strophe auf:
    ...
    Alle das Neigen
    Von Herzen zu Herzen,
    Ach wie so eigen
    Schaffet das Schmerzen!


    Schmerzen sind ein Gefühl, mit dem Frauen ungleich besser umgehen können und das sie hundertmal besser ertragen als Männer. Und so ergibt sich eigentlich fast zwangsläufig die zweite Texteinheit, die darauf hindeuten könnte, in der ersten Hälfte der dritten Strophe:


    Wie soll ich fliehen?
    Wälderwärts ziehen?
    Alles vergebens!


    Für die Frau kommt eine Flucht nicht in Frage, wenn es im Leben eng wird, wenn sie Enttäuschungen und Schmerzen erlebt. Sie bleibt und stellt sich den widrigen Herausforderungen des Lebens, wie es ja auch schon zu Beginn der zweiten Strophe anklingt:


    Lieber durch Leiden
    Möcht' ich mich schlagen...


    Und in der "Schönen Müllerin" und in der "Winterreise" erfahren wir, dass es beim Mann anders ist. Er hält solche schweren Lebenssituationen so schlecht aus, dass er sogar den Tod sucht.


    Das sind so spontane Einfälle, die mir gekommen sind.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Erich Trunz ordnet in seiner Goethe-Gedicht-Ausgabe "Rastlose Liebe" den "Versen an Lida" bei, was auf Charlotte von Stein verweist, dem eminent prägenden Gegenüber Goethes für diese Jahre ab 1775.


    Immer wieder wird über das "unregelmäßige Versmaß" dieses Gedichts geschrieben. Ohne das Gegenteil behaupten zu wollen, bedarf dies einer Differenzierung. Sechs plus acht plus sechs Verse umfassen die drei Strophen. Die zentrale zweite ist weit überwiegend "regelmäßig" gebaut. Bis auf die beiden hinzugefügten Auftakte "Des" (4. Zeile) und "Von" (6. Zeile) handelt es sich Zeile für Zeile um den sogenannten "Adoneus", also die Schlussgruppe der sog. "Sapphischen Strophe", die Goethe natürlich als Bildungsquelle hochpräsent war, überhaupt, aber auch vermittels der damals berühmten Oden von Klopstock, welcher viel in anverwandelten antiken Versmaßen gedichtet hat, sowie das gegen Ende des 18. Jahrhunderts dann Hölderlin ausgiebig praktizierte. (Noch in seinem bereits im 19. Jahrhundert entstandenen, berühmten Gedicht "Hälfte des Lebens" tauchen auffällig viele selbständige "Adoneus"-Bildungen auf!) Sappho - weibliche Lyrik... Hier im Forum der interessante Ansatz "Warum so oft von Frauen gesungen?"... Schon der Titel: Taa-ta-ta Taa-ta: Rastlose Liebe..., ein Adoneus, und wie gesagt fast alles in der zweiten Strophe; die dritte Zeile KANN man anders betonen, und davon macht Schubert in seiner Vertonung exemplarisch Gebrauch. Also: Der Adoneus als festgefügte Verbindung von Daktylus und Trochäus. - Weiter zur Schlussstrophe: VIER Adoneen hintereinander, dann erst die Versmaß-Brechung, wenn man so will, zwei "abgeschnittene" Adoneen. - Weiter zur Anfangsstrophe: Gar kein Adoneus... Aber vier regelmäßige Verse "ta taa ta taa ta", dann zwei extreme Abweichungen.


    Zwei der oben erwähnten Adoneus-Rhythmen ÄNDERT Schubert! Er vertont "Wie soll ich FLIEH'N?" und "Wälderwärts ZIEH'N?" - Dem Lied verursacht das überhaupt keine Qualitätseinbuße. Aber wenn in einem Vorgänger-Beitrag zwischendurch zitiert wurde, Schubert habe hier "am Versmaß vorbeikomponiert", meinte dies vielleicht die Kaum-Berücksichtigung des so prägenden Adoneus.


    So wesentlich ich den Adoneus-Hinweis für das Gedicht finde, so wenig muss ein Komponist sich "drum scheren", der aus ganz anderer Quelle den kongenialen Vertonungsschlüssel gefunden hat. Bachiana hat das erschöpfend dargestellt, WIE SEHR diese Harmonik, die in ihrem "rastlosen" Auf-Suche-Sein" nur wenig musikgeschichtliche Vorgänger kennt, zum Liebes-Empfinden genau dieses Gedichts passt, ja umfassend mit ihm korrespondiert. Manche Beispiele von Beethoven, sicher auch von Carl Phlipp Emanuel Bach ließen sich anführen. Ich belasse es jetzt beim Verweis auf eine Musik denkbar gegensätzlichen Charakters, aber gleicher harmonischer Unruhe, nämlich dem Beginn von Mozarts sog. "Dissonanzen"-Streichquartett KV 465.


    Ich meine, mit DREI Goethe-Liedern vor allem revolutioniert Schubert innert eines Jahres das Klavierlied: im Herbst 1814 mit "Gretchen am Spinnrade", im Mai 1815 mit "Rastlose Liebe" und im Herbst 1815 mit "Erlkönig"; alle diese Lieder wird er dann viele Jahre später, im klaren Selbstbewusstsein ihrer Bedeutung, 1821 veröffentlichen.


    Bleibt der Hinweis auf ein bestimmtes harmonisches Phänomen, welches Bachiana zwischendurch erwähnt, nämlich die Akkord-Bildung e-g-ais auf der Basis C, und ihre Weiterführung zum E-Moll-Quartsextakkord (Takt 45 bis 48) bzw. ihr Folgen auf den E-Dur-Sextakkord in Takt 78. - Dazu sei eine kleine Hinführung gestattet. (Kopfschütteln, Sich-Ärgern, Lachen über nun anstehende musikwissenschaftliche Elfenbeintürmelei ist selbstverständlich "erlaubt", auch Abschalten...) - Dieses harmonische Phänomen hat etwas Magisches an sich, war aber zu Schuberts Zeit durchaus schon bekannt. Wieder traue ich es C. Ph. E. Bach, aber auch Haydn jederzeit zu, aber einfallen tun mir Beispiele von Mozart, Beethoven und Schubert selber. Das Magische an diesen Akkord-Verbindungen hängt damit zusammen, dass der Akkord C-e1-g1-ais1 KLINGT wie der ganz gewöhnliche Dominantseptakkord C-e1-g1-b1, aber sozusagen eine andere "Ladung" mitbekommen hat. - Gelöst nach Dur höre man Beethovens Fünfte, zweiter Satz, Takt 29 auf 30, den kann man nicht verpassen, weil es der erste (und plötzlich einbrechende) Fortissimo-Akkord ist. Auch Mozarts Klaviersonate KV 533, erster Satz, zeitigt dasselbe harmonische Phänomen T. 86 - 87. Auch Schuberts Sonate D 664, erster Satz, bald nach Durchführungsbeginn (Ende der lauten Passage), wobei dieses Beispiel in ein leeres E ausläuft. - Gelöst nach Moll höre man das Ende der Coda im ersten Satz des Streichquartetts D 810 ("Der Tod und das Mädchen"), T. 329 auf 330 bzw. 335 auf 336. Da erlebt man "unser" Phänomen exemplarisch. Und in der "Rastlosen Liebe" liegt Takt 50 auf 51 das identische Phänomen vor, nur eben transponiert nach Cis-Moll! - Zu späterer musikgeschichtlicher Zeit kamen Tschajkowskij und Sibelius teilweise manisch auf diese Harmonieverbindung zurück, ersterer v. a. in der nach Dur gelösten Version.


    Nun HAT die funktionale Harmonielehre Bezeichnungen für solche enharmonisch umgedeuteten Dominantseptakkorde entwickelt. Ob sie weiterhelfen, sei dahingestellt. Mal hat so ein "übermäßiger Quintsextakkord" (so heißt unser Phänomen "offiziell") einen DOMINANTISCHEN Hintergrund, mal - und das ist der Fall bei den entsprechenden Takten der "Rastlosen Liebe" - einen DOPPELDOMINANTISCHEN. - Jetzt kommt das, vor was ich von vorneherein Scheu hatte, es auszusprechen, weil es sich wahrscheinlich hochgradig Fachchinesisch bis lächerlich anhört: Doppeldominantisches und Subdominantisches schillern ineinander. Man versuche auf dem Klavier folgende Kadenz: c0-e1-g1-c2 zu f0-d1-a1-c2 zu g0-d1-g1-h1 zu c0-e1-g1-c2. Dann dieselbe Kadenz mit EINEM geänderten Ton: im zweiten Akkord fis0 statt f0. Dann hört man, denke ich, wie NAH sich ein subdominantisch hintergründeter und ein doppeldominantisch hintergründeter Akkord sein können, ja dass sie Stellvertreter füreinander sein können. Als letztes eine Modell-Kadenz MIT unserem magischen Akkord: c0-e1-g1-c2 zu AS-es1-fis1-c2 zu G-e1-g1-c2 zu G-d1-g1-h1 zu c0-e1-g1-c2.


    Abschließend in eigener Sache: Ich brauchte ein wenig, mich überhaupt zu Wort zu melden, weil ich zwar wusste, ich bin gemeint, mit dem "Liedexperten" in Anführungszeichen, aber ich weiß nicht, wie's um Eure Melde-Lust bestellt wäre, würdet Ihr zur Meldung mit einem Anführungszeichen-Etikett aufgefordert. - Um der Sache willen, sozusagen der rastlosen Liebe-zur-Sache willen hab ich meine diesbezügliche, vielleicht doch von manchem von Euch nachvollziehbare Empfindlichkeit aber hintangestellt.


    Schöne Grüße, Euer Robert Klaunenfeld

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  • Kurzer Nachtrag: ich vergaß vorhin den Hinweis: Takt 15 auf 16 sowie Takt 17 auf 18 haben wir im Lied exemplarisch: Subdominante - Magischer Akkord - Tonika.


    Und nach allem vorhin Erwähnteen ist es natürlich KEIN Zuafall, dass bei Takt 77 bis 81 vorliegt: Tonika (Sextakkord) - Magischer Akkord - Tonika (Sextakkord) - Doppeldominante (Terzquartakkord) - Tonika (Quartsextakkord), dann kadenzierende Lösung.

  • Das Anführungszeichen, an dem Robert Klaunenfeld am Ende seines Beitrags Anstoß nimmt, indem er es als "Etikett" bezeichnet, bezog sich nicht auf seine Person, sondern hatte seinen Bezug in der Bemerkung von Bachiania: "insbesondere aber spreche ich hiermit unseren Lieder-Experten Helmut Hofmann an". Ich sprach in diesem Zusammenhang von einem wirklichen "Liedexperten", - und meinte damit einen Menschen, der tatsächlich einer ist, - nämlich Robert Klaunenfeld.


    Da habe ich mich wohl sprachlich ungeschickt benommen. Aber ich weiß jetzt, was ich zu tun habe, - außer mein Bedauern auszusprechen.

  • Und nochmals kleine Ergänzungen zu Beitrag Nr. 10:


    Helmut Hofmann ging in Beitrag Nr. 3 schon darauf ein, aber ich möchte es nochmals zuspitzen: Es zeugt von äußerst eigenwilligem und selbstbewusstem Umgang mit einem Text des damals weitaus berühmtesten/anerkanntesten lebenden deutschsprachigen Lyrikers, wenn ein Komponist wie folgt proportioniert: Eine dreistrophige Vorlage wird geteilt in "zweieinhalb und halb" - der erste Teil davon (17 Verse) wird sozusagen regulär (unabhängig von der Hochoriginalität) vertont, nämlich fortlaufend und mit Strophentrennungen durch Kleinzwischenspiele; der zweite Teil (3 Verse) wird durch Wiederholung, hervorhebendes Insistieren derart "gestreckt", dass am Ende die 93 Zweivierteltakte sich so zueinander verhalten: 56 Takte für die ersten 17 Verse, 37 (!) Takte für die letzten 3 - so umfasst der Schlussteil mehr als ein Drittel des gesamten Liedes!


    Dann möchte ich ein paar Jahreszahlen zu oben erwähnten Werken nachtragen, um die musikgeschichtliche Einordnung ohne Nachschlagenmüssen zu ermöglichen:


    W. A. Mozart, Sonate KV 533/Kopfsatz: 1788


    L. v. Beethoven, V. Symphonie: v.a. 1807 - 08


    F. Schubert, Sonate D 664: 1819; Streichquartett D 810: 1824

  • Meine Lieben Tamino-Freunde !


    Ist heute Weihnachten und Ostern gleichzeitig ???


    Alle meine Wünsche an diesen Thread gingen in vollem Maße in Erfüllung ! Ich bin sowieso ein Gemeinschaftsmensch und freue mich grenzenlos, wenn gleich mehrere Menschen so gemeinsam so konstruktiv und kompetent diskutieren ! Danke an alle ! (Ich weiß, jetzt bin ich sehr emotionell, aber lasst mich doch eine Frau sein, hier unter allen Männern !)


    Dieser Beitrag hier reagiert nun auf die harmonischen Anmerkungen von Robert Klaunenfeld. Hier wird's nun wirklich ein wenig (sehr) technisch. Eigentlich wäre dies wohl ein Fall für eine "private messsage", was ja aber hier (leider) nicht möglich ist, also schreibe ich es an diesem Ort. Der leichteren Lesbarkeit halber werde ich meine weiteren Antworten auf eure Beiträge in einer getrennten Antwort schreiben. Wer also unseren musiktheoretischen Diskurs nicht mitmachen möchte, möge ohne Verluste in den nächsten Beitrag springen !


    Robert, ich habe mich außerordentlich über deine Erklärung des übermäßigen Quartsextakkordes gefreut ! Endlich mal jemand, mit dem ich auch über solche Themen sprechen kann ! Wenn es etwas zu lernen gibt, bin ich sowieso immer begeistert !


    Hier meine Rückfragen (bitte verzeih mir, wenn ich hier irgendwo auf der Leitung stehe ...;). Ich versuche, dies mal schrittweise aufzuklären.


    Ich persönlich höre in diesem Akkord vor allem einen "irgendwie verschärften" doppeldominantischen Klang.


    Du hast – wie ich auch lange Zeit – wohl noch keine Möglichkeit, Bilder hier einzustellen. Ich habe eine gefunden. Daher habe ich mir erlaubt, deine in geschriebenem Zustand schwierig nachzuvollziehenden Kadenzen einfach mal auszusetzen. Die ersten Takte sind deine Kadenzen, der letzte Takt Schubert.
    Gehen wir mal von der Doppeldominanten-Variante aus. Diese wäre also ein "Doppeldominantischer sept-nonen-Akkord mit erhöhter Terz, erniedrigter Quint im Bass und tiefalterierter sept, mit fehlendem Grundton (fis)" STIMMT DAS ??? Und stimmt meine Bezeichnung ???



    Schubert hat mit dem ais also die Terz erhöht. In deiner Kadenz ist (C-Dur) die Doppeldominante D, daher die erhöhte Terz fis und man benötigt noch as und es. Diese Kombination von kreuz und b zeigt sehr schön, wie dieser Akkord zu deuten ist. (Habe ich dies nun richtig verstanden ?)


    Doch wie würde man den Akkord auf subdominantischer Basis benennen und bezeichnen ? Hier liegt man ja von vorneherein auf der hochalterierten Subdominante und muss folglich fast alle Töne erhöhen und erniedrigen... Vielleicht kannst du dieses noch näher erklären ?


    Deine Beispiel konnte ich noch nicht alle durchhören. Der Beethoven ist mir im Ohr präsent. Und ich dachte über Haydn nach und überlegte, dass WENN er diesen Akkord verwendet, er dies mit Sicherheit in der Einleitung zur Schöpfung tut. Und tatsächlich: Ich meine ihn hier angefunden zu haben, direkt vor dem c-moll-Triolen-Akkord im ganzen Orchster, unmittelbar bevor es im Piano weiter geht. Hier geht die Quint im Bass einen Halbtonschritt nach unten, der Akkord löst sich dann in die Dominante auf. Bitte sei so freundlich, dies zu verifizieren, falls du Material zur Verfügung hast (ich habe leider keine Noten).


    Vielen Dank nochmals für deine interessanten Ausführungen !

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Lieber Willi,


    du hast wohl recht. Wir Frauen haben definitiv eine Tendenz zum (emotionalen) Masochismus. Was jedoch nicht bedeutet, dass wir zuweilen nicht auch lieber davonlaufen würden. Doch: wir tun es nicht. Wir stellen uns am liebsten MITTEN ins Leiden hinein und warten, ob noch ein wenig mehr geht ;) (Nimm dies bitte als leicht ironische Frauen-Selbstkritik, die jedoch schon ein Körnchen Wahrheit hat.).


    Ich diesem Sinne meine ich, dass dieses Gedicht geradezu FrauenTYPISCH ist. Dass es natürlich auch Männer gibt, die in dieser Hinsicht weibliche Anteile haben, ist klar. Jedoch wird wohl in Regelfall ein Mann wesentlich früher aufgeben und zwar die "potenzielle" Freude verwerfen, jedoch (vernünftigerweise) sich ob des wahrscheinlichen Leidens eine andere Blume suchen, die anders duftet ... Zumindest habe ich diese Verhaltensweisen schon oft erlebt und kann sie auch in meinem eigenen Inneren nachvollziehen.



    Interessant. Für mich ist gerade die Rastlosigkeit der Komposition der Rastlosigkeit des Gedichtes mit seinem unregelmäßigen Versmaß angepasst.

    Hami, Ich sehe dies ähnlich. Ich bin gespannt auf Holgers Vergleich mit "Gretchen am Spinnrade", das ja sowohl von der Thematik als auch der Stimmung große Ähnlichkeiten hat. Vielleicht kommt hier ja auch noch mehr über die Art der Frauen zutage !


    Viele Grüße,
    :):):) BachiaNIA

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Ich sehe dies ähnlich.


    So, so, liebe Bachiania,


    gilt das auch noch nach der Lektüre der überaus interessanten Analyse im Beitrag Nr. 10?
    Mich selbst haben die Russen verdorben, Puschkin und Lermontov mit ihren ewigen Jamben und Trochäen. Dabei konnte der Eugen Onegin die gar nicht mal unterscheiden.


    Die Beiträge in diesem Thread haben mich in ein tiefes Trauma geschleudert, weil mir die musikalischen Voraussetzungen fehlen, Euren Beiträgen zu folgen.
    Vielleicht werde ich Taxifahrer.


    Grüße aus Schweden
    hami1799

  • Zitat

    hami1799: Vielleicht werde ich Taxifahrer.

    Ja, gibt es denn in deinem Heimatort auch so tolle Festspiele wie in Bachianias Salzburg, lieber hami (ich meine, um deine musikalischen Voraussetzungen zu verbesern :D )?


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Aber ihr habt doch eine tolle Oper, und zumindest sieben (ehemalige) Ensemblemitglieder, 4 Damen (Nilsson, Söderström, von Otter, Stemme) und drei Herren (Björling, Winbergh, Gedda) befinden sich in verschiedenen Produktionen auch in meiner Sammlung.
    Wenn alles nichts hilft, lieber hami, musst du bei dir die "LBD"-Methode anwenden.


    Liebe Grüße


    Willi :D

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    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Meine Lieben, ich habe dafür wirklich keine Ahnung von Jamben und Trochhäen... Gerne würde ich diese harmonische Gerhinakrobatik hier aussiedeln, doch wohin? Lässt mir bitte diese Freude und bleibt trotzdem dem Thema treu,


    dankt
    Bachiania


    für euer Verständnis! :love:

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Zunächst möchte ich meiner Erleichterung Ausdruck verleihen, dass Eure Laune offensichtlich nicht ernsthaft getrübt wurde durch den geballten Analyse-Stoff in Beitrag Nr. 10 - jedenfalls habe ich sowohl Bachianias "Einstieg" wie auch die sich anschließenden launigen Plaudereien hernach genossen...


    Liebe Bachiania, ich will Dir antworten, so kurz wie möglich und so lang wie nötig. Zuerst: Gratulation zum "Näschen" mit der "Schöpfung"! Bin mir zwar sicher, der große Haydn liefert dieses Phänomen auch in anderen Werken, aber auf die werden wir "zufällig" immer wieder stoßen; bei der Instrumental-Einleitung zur "Schöpfung" hast Du jedenfalls einen Volltreffer gelandet. Hiermit verifiziere ich Dir - gemäß Order - das Erscheinen des "Doppeldominantseptnonakkordes mit kleiner Non bei tiefalterierter Quint im Bass" (so der korrekte funktionsharmonische Begriff) oder ""einfach"" ausgedrückt des "übermäßigen Quintsextakkords" (NICHT: Quartsextakkords...) in der zweiten Takthälfte von Takt 25, wie Du beschreibst kurz vor den Klarinetten-Sechzehnteltriolen. Sodann ist unser Magischer Akkord in der jeweils zweiten Takthälfte von Takt 37 und 38 gut herauszuhören.


    Wie Du richtig erahnst, bin ich computerhandhabemäßig im 19. Jahrhundert... zu verorten, muss also stets den umständlichen verbalen Weg wählen. (Vor zwei Jahren noch wäre jedoch eine Forumsteilnahme an sich jenseits aller gedanklichen Vorstellbarkeit gewesen...)


    Also: danke für die Verbildlichung der Kadenzen! Wichtig: im Bass MUSS "as" (nicht "gis") stehen, sonst ist das Notat sinn-los. Und im Tenor sollte "es" (nicht "dis") stehen - "dis" ist zwar einerseits sinnvoll (was das Hinstreben zu "e" anbelangt), aber für UNSEREN Ausgangspunkt, den von Dir korrekt wiedergegebenen Schubert-Akkord, sollte die Orthographie auch in der Transposition exakt dem Schubertschen Akkord-Aufbau entsprechen. Und in Schuberts Schreibweise lässt sich auch die Funktionsanalyse verifizieren: das große "D" steht ja für die DUR-Variante, also braucht die (große) Terz gar nicht näher bezeichnet werden. Die Dominantsept ist einfach die kleine (nur die große müsste extra bezeichnet werden)! So bleiben zu bezeichnen, per hochgestelltem Akzent: die kleine Non, vor allem aber die tiefalterierte Quint im Bass. Und, wie Du es ja getan hast, der fehlende Grundton muss mit dem durchgestrichenen Doppel-D erfasst werden.


    Zum Ineinanderschillern von subdominantischem und doppeldominantischem Aspekt: Ich meine, die beiden Kadenzen machen es gut sicht- und hörbar, der EINE veränderte Ton... Du müsstest nur bei der Kadenz mit dem Bass-F an das "S" eine hochgestellte "6" anfügen (sixte ajoutée); und bei der mit dem Bass-Fis unter das Doppel-D eine "3" (die Bass-Terz betreffend) setzen und oben eine "7" (für die Doppeldominantsept, die ja der Grundtonstufe entspricht) anfügen. - Unseren Schubert-Akkord subdominantisch zu hintergründen, ist eine grenzwertige Angelegenheit, meint: die funktionale Harmonie-Analyse stößt hier an ihre Grenzen - vom "Bauchgefühl" her halte ich die Empfindung des Ineinanderschillerns aufrecht. Wenn also..., muss man von Moll ausgehen, also vom kleinen "s": unter dieses die "3" (unbezeichnet, da ja: Moll), neben das "s" dann den Aufbau "1"-mit-Erhöhung (das sieht natürlich komisch aus...), darüber die "7" (unbezeichnet, da bereits klar repräsentiert) - das war's dann auch schon! (Denn die Quint ist in DIESER Sichtweise ganz unangetastet bereits vorhanden.)


    So, nun zurück zu schwedischen Schmankerln allerleirauher Art, und und und


    Beste Grüße, Robert

  • Zunächst möchte ich meiner Erleichterung Ausdruck verleihen, dass Eure Laune offensichtlich nicht ernsthaft getrübt wurde durch den geballten Analyse-Stoff in Beitrag Nr. 10 - jedenfalls habe ich sowohl Bachianias "Einstieg" wie auch die sich anschließenden launigen Plaudereien hernach genossen...


    Ein Seufzer der Erleichterung zog auch durch mein trautes Heim, lieber Robert.
    Sei versichert, dass mir nichts so wenig die Laune verderben kann, als die Ausführungen des hier herrschenden Triumvirates.
    Verstehen tu ich nix, toll find ich´s trotzdem. Nennt man wohl Intuition.


    Grüße aus Schweden ohne Schmankerln!

  • Wichtig: im Bass MUSS "as" (nicht "gis") stehen, sonst ist das Notat sinn-los. Und im Tenor sollte "es" (nicht "dis") stehen - "dis" ist zwar einerseits sinnvoll (was das Hinstreben zu "e" anbelangt),


    Lieber Robert,


    Ich habe dieses zuerst mit und dann ohne enharmonische Verwechslung geschrieben und schlicht die falsche Variante eingescannt! Daher im Text auch meine Anmerkung, dass man das es und das as brauche... War wohl ein wenig verwirrt.
    Ich verstehe nun auch deine funktionale Bezeichnung. Ich habe mich vorwiegend mit barocker und klassischer Musik beschäftigt, und so hauptsächlich mit Generalbass-Schrift und Stufentheorie gearbeitet. Die Funktionstheorie habe ich wirklich mehr in der Theorie gelernt. In der Stufentheorie muss man ja jede Alteration angeben, daher dachte ich nicht daran, dass ja in der Funktionstheorie manches einfacher ist (manches aber auch komplizierter). Ich hoffe darauf, hier von dir noch manches lernen zu dürfen ... :)


    Jedenfalls finde ich es faszinierend, dass durch einfache Veränderung um chromatische Schritte manche Akkorde immens an Spannung gewinnen und solche einen völlig neuen Charakter und eine enorme zusätzliche Aussagekraft erhalten können. Allein die Doppeldominante zieht stark in die Dominante. Und dieser "magische Akkord" hat diesen Zug noch um vieles stärker, da er ja zwei statt einem Leitton besitzt, die "nach Hause" wollen.... Dieses Phönomen hat mich immer schon begeistert und interessiert.


    Viele Grüße und auf bald,


    Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Durch alle Töne tönet
    Im bunten Erdentraum
    Ein leiser Ton gezogen
    Für den, der heimlich lauschet.


    Friedrich Schlegel, Motto von Robert Schumanns Fantasie op. 17


    Wie auch „Gretchen am Spinnrade“ kann man Schuberts „Rastlose Liebe“ als das exemplarische Beispiel einer romantischen Liedvertonung ansehen. Die Romantik hat die „Stimmungen“ entdeckt, welche die Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts so noch nicht kannte. Durch die verschiedenen Töne wechselnder Empfindung zieht sich im Verborgenen ein einheitlicher Grundton durch. Schubert hört in diesen beiden Goethe-Gedichten diesen leisen Grundton, der in der Sprache nicht direkt ausgesprochen wird nach und setzt ihn in Töne hörbar um. In „Gretchen am Spinnrade“ ist es die alles durchziehende unruhige Bewegung, in „Rastlose Liebe“ ein Ton permanenter Aufgeregtheit, der die Strophengrenzen wie ein sich über alles ergießender Strom überspült. Dabei ist „Gretchen am Spinnrade“ formal komplexer – Schubert überstülpt gleichsam der Gedichtform die musikalische Strophenform ABA, indem er vor den beiden Schlussstrophen die erste Strophe wiederholt. Auch gibt es eine emphatische Binnendynamik mit einem jeweiligen Aufrauschen zum Höhepunkt. Da ist „Rastlose Liebe“ monochromer – es gibt eine Art litaneihafte Verdichtung, eine vorwärtsstürzende, gleichsam atemlose Vorwärtsbewegung, die nirgendwo „Halt“ macht. Die wechselnden Töne des bunten Erdentraums gibt es zwar, nur fungieren sie nicht als Haltepunkte. Das gilt vor allem für den bemerkenswerten Schluss:


    Glück ohne Ruh,
    Liebe bist du!


    Liebe und Leidenschaft verursachen einen Aufruhr in der Seele, bringen das Gemüt in Unordnung und Verwirrung. Diese lyrische Expression verwirrender Liebe bei Goethe ist keineswegs neu, sie taucht bereits bei Petrarca auf im Sonnet „Pace non trovo“ („Den Frieden finde ich nicht“), hoch dramatisch vertont von Franz Liszt. Petrarcas Geliebte Laura, die er bezeichnend als „Herrin“ bezeichnet, versklavt ihn geradezu, weswegen der Hymnus fast schon zur Anklage wird. Kann ein solcher Zustand der Ruhelosigkeit also überhaupt Glück bedeuten? Dieser Ton in „Rastlose Liebe“ ist neu und stellt der Tradition gegenüber ein Paradox war. Glück wird seit der Antike als ein Zustand des Seelenfriedens gefeiert – man denke an das Glück als „Windstille der Seele“ (griech. galene) bei Epikur oder den Glückszustand des stoischen Weisen, die „Beunruhigungslosigkeit“ (Ataraxie). Goethe ist das alles nicht fremd: „Über allen Gipfeln ist Ruh...“ Wieso also kann die durch die Liebe gestiftete Unruhe Glück bedeuten? Was sich hier offenbar ereignet ist, dass sich das Glück als Form der leidenschaftlichen Liebe aus dem ethischen Kontext löst. Und was passiert bei Schubert? Man kann zwar eine Art Coda erkennen, doch fehlt so etwas wie eine Schlussapotheose. Das Glück wird nicht beschworen als ruhender Zielpunkt – die rastlose Vorwärtsbewegung ergreift auch den Schluss – oder anders ausgedrückt: die Stimmung wechselt nicht. Damit zeigt sich letztlich durch die Musik, dass das Glück kein Ethos mehr ist und sein kann, sondern statt dessen eine Grundstimmung: die der Unruhe, ambivalenter Schmerz und Freude zugleich.


    P.S. Jessye Normen singt nicht „Möchte ich mich schlagen“ sondern „Will ich mich schlagen“.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger, danke für Deine wie immer anregenden und bedenkenswerten Querverweise! - Nun wiederum meinerseits ein paar Fortspinnungen.


    Jessye Normans "will" ist einfach eine kleine Eigenmächtigkeit, jedenfalls weder durch Goethe, noch durch Schuberts veröffentlichte Version gedeckt.


    Dann spannst Du den Bogen zu Friedrich Schlegel und Robert Schumann. Ich möchte nur ergänzen, dass dieses berühmte Motto über der C-Dur-Fantasie den Schlussteil (ich hoff, ich erinner' mich jetzt recht, aber das lässt sich wirklich schnell nachforschen, ob Schluss- oder Mittelteil...) des Gedichts "Die Gebüsche" aus Schlegels Gedichtzyklus "Abendröte" bildet. Und Schubert hat ja vieles aus diesem Zyklus vertont. (Eigentlich war er schon knapp davor, hier - über Jahre gestreckt - seinen ersten Liederzyklus zu verwirklichen, aber nach der letzten "Abendröte"-Vertonung, eben dem Titelgedicht selbst, 1823, gab er das Projekt auf - im Herbst desselben Jahres war es dann soweit: "Die schöne Müllerin"...) - Nebenbei: Nach den vier weit vorn liegenden "Spitzenreitern" Goethe, Mayrhofer, W. Müller, Schiller folgt entweder direkt oder sehr bald danach Schlegel als einer der Dichter, von welchen Schubert rund 20 Gedichte in Musik gesetzt hat. - Hast Du das unbeschreiblich schöne Lied "Die Gebüsche" D 646 (Januar 1819) mal gehört?


    Zu "Gretchen am Spinnrade", der lyrischen, der musikalischen Form. Klar, trotz ebenfalls Bewegungskontinuum im Klavier gibt es triftige Unterschiede, v.a. eben den ersten Höhepunkt bald nach der Mitte, mit Abriss und stockend wiederaufgenommener Bewegung. Und es gibt die Parallele, dass Schubert wiederum die Schlussstrophe Goethes beträchtlich ausbaut. Aber: nicht SO extrem - auch von der Gesamtproportion her - wie bei der "Rastlosen Liebe" (siehe die "Statistik" in meinem letzten diesbezüglichen Beitrag weiter oben). - Zur lyrischen Form: Da ist in all diesen sehr kurzen Versen eine Miniatur-Rondoform schon von Goethes Seite angelegt: Refrain - zwei Strophen - Refrain - drei Strophen - Refrain - zwei Strophen. Nun hängt Schubert - eigentlich fast "logisch" - den (zumindest halben) Refrain an die (wie schon erwähnt, ohnehin ausgebaute) Schlussstrophe an, stärkt somit nochmals die Miniatur-Rondoform. Außerdem erweitert er die drei Goethe-Refrains jeweils um ein eingefügtes "ich finde", was die seelische Unruhe noch verstärkt. Die musikalische Form wäre also annäherungsweise: A-B-A-C, dann der Riss, dann die wiederaufgenommene Bewegung, dann weiter A-D (mit Ausbau) -A (halb) und kurzes Auslaufen.


    Beste Grüße, Robert

  • Lieber Robert,


    es ist ja im Falle der Musik besonders schwierig und eine echte Herausforderung, die Verbindung von der analytischen zur semantischen Ebene zu finden (Hanslicks Dilemma, wonach man von Musik entweder nur in "trocken technischen Bestimmungen" oder "poetischen Fiktionen" reden kann). Zu diesem Zweck helfen mir dann auch solche Querverweise :) . Ich mag Analyen sehr, aber leider gelingt es ihnen nicht immer, eine Beziehung zum unmittelbaren Höreindruck herzustellen. So sind sie dann eher etwas für den Musikwissenschaftler, aber weniger geeignet für den interessierten Hörer. Schlegels "Gebüsche" hat Schubert vertont – das wusste ich gar nicht. Das schöne Lied werde ich jedenfalls ausfindig machen und mich anhand Deiner wertvollen Ausführungen in der nächsten Woche noch einmal in die „Analyse“ vertiefen. :hello:


    Fischer-Dieskau singt übrigens in "Pace non trovo" statt "Donna...": "Laura...". Ich frage mich da immer, gibt es verschiedene Textausgaben vielleicht oder ist das definitiv die künstlerische Freiheit des Sängers? :D


    Gebüsche


    Es wehet kühl und leise
    die Luft durch dunkle Auen,
    und nur der Himmel lächelt
    aus tausend hellen Augen.
    Es regt nur eine Seele
    sich in der Meere Brausen
    und in den leisen Worten,
    die durch die Blätter rauschen.
    So tönt in Welle Welle,
    wo Geister heimlich trauern:

    So folgen Worte Worten,
    wo Geister Leben hauchen.
    Durch alle Töne tönet
    im bunten Erdentraume
    ein leiser Ton gezogen
    für den, der heimlich lauschet.


    (Friedrich Schlegels Gedichte, Berlin 1809, S. 33.)


    Mit schönen Sonntagsgrüßen
    Holger


  • Das ist wirklich sehr schön - erinnert mich im Ton an eines der Impromptus. Die sanften Wellenbewegungen, von denen auch im Gedicht die Rede ist ... :hello:



    ... wie Horowtz das spielt ist schlicht himmlisch (!!!!) :) :) :)


    Schöne Grüße
    Holger

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