Hildegard von Bingen: Ordo Virtutum (Belcanto-Version)


  • Der komplette Text (Übersetzung von Dietburg Spohr):


    http://www.belcanto-spohr.de/d…tein%20-%20Deutsch%20.pdf


    Die Erläuterung von Dietburg Spohr (Klappentext):


    „Hildegard von Bingen komponiert für „Belcanto“ – als Komponistin auch unserer Zeit? Ein Versuch, Hildegard von Bingen aus ihrer oft esoterisch-mystizistischen Vereinnahmung herauszuholen. Unsere Version ist eine Gegenüberstellung. Die Fragen stellenden oder Kommentare gebenden Virtutes – die vorantreibenden Kräfte – entwickeln und entfalten die Kompositionen. Sie teilen ihr Denken, Gedanken, Überlegungen, Ideen und Kritik in die Charaktere auf. Unsere Fassung erhebt keinerlei Anspruch auf historische Authentizität oder gar „Werktreue“. Wenn uns Ordo Virtutum fasziniert, dann weit eher als Schöpfung einer in ihrer Zeit einzigartigen Frau im Schnittpunkt kontroverser Strömungen. Relativ eindeutig scheint allenfalls die Notation im Sinne einstimmiger gregorianischer Tradition. Wir wollten uns nicht der Illusion hingeben, eine konkrete historische Aufführungssituation wäre auch nur andeutungsweise rekonstruierbar. In Hildegards Komposition steckt ein utopisches Potential, das aktuell zu aktivieren ist. Der historische Notentext ist in jeder Ausarbeitung vollständig vorhanden und wird so auch gesungen.


    Völlig homogen in Anlage wie Einzelteilen ist Ordo virtutum nicht. Ein gleichförmiges Heruntersingen nach Art mancher Mittelalter-Kult-Versionen würde der gewiss allenfalls zu mutmaßenden Intentionen der Hildegard von Bingen kaum entsprechen, außerdem als abendfüllende Aufführung reichlich monoton wirken. Natürlich konnte damals von Polyphonie noch nicht die Rede sein. Aber eine gewisse Gleichzeitigkeit zumindest im Sinne eines gedanklich-musikalischen Kräftegeschehens ist immerhin vorstellbar. Schließlich geht es um den Konflikt seelischer Energien, weltanschaulicher Prinzipien. Rein statisch jedenfalls ist dieses Weltbild nicht. Dementsprechend haben wir auf der Basis der überlieferten Notationen weiterkomponiert, die Einstimmigkeit aufgefächert. Dies widerspricht noch nicht einmal dem mittelalterlichen Weltbild von der tönenden Reibung der Himmels-Sphären. Folglich lassen wir unterschiedliche Schichten gleichzeitig kreisen.


    Die Partitur und ihre Figuren:


    36 virtutes – einstimmiges Original; 14 animae – Seelen – Hilfe reichend – in unterschiedlichen Dreiklangsformen singend; 8 humilitas – Ganzton-Cluster 5 diabolus – Kinderstimme; 3 castitas – kanonische Formen; 3 victoria ecclesia militans et triumphans – einstimmig mit Trommel-Begleitung 2 patriarches – altehrwürdige Grundtöne; 2 scientia dei – als gestörtes Wissen; 13 einzelne „Charaktere“ als Individuen: caritas, timor dei, obedientia, fides, apes, innocentia, contemptus mundi, amor caelestis, disciplina, verecundia, misericordia, discretio, patentia, ein Epilog“


    Den Anspruch einer „werktreuen“ Rekonstruktion erhebt die Belcanto-Fassung des Ordo Virtutum der Hildegard v. Bingen (1098-1179) ausdrücklich nicht. Statt den Weg einer historisierenden Aufführung. zu gehen, entsteht diese Musik vielmehr „neu“ aus einer lebendigen Begegnung von Mittelalter und Moderne, von „alter“ und „neuer“ Musik. Kein noch so gewissenhafter Rekonstruktionsversuch kann die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten der Aufführung von antiker und mittelalterlicher Musik verleugnen. Es wäre schlicht naiv zu glauben, aus den überlieferten Quellen ließe sich ein wirklich verlässliches und auch nur annähernd vollständiges Bild gewinnen, wie dieses liturgische Drama aus dem Mittelalter tatsächlich aufgeführt wurde.


    Die große Qualität dieser Belcanto-Version ist, dass sie die beiden Klippen der Exotik und Esoterik souverän umschifft. Exotisch – freilich auch nicht ohne Reiz – bliebe eine „puristische“ Wiedergabe nur der originalen Gesänge, weil sie lediglich von einem kleinen Expertenkreis wahrgenommen würde. Populär dagegen sind – gerade im Falle der Hildegard von Bingen – esoterische Mystifizierungen. Hildegards Musik als Erlebnis-Mystik zu vereinnahmen kann jedoch kaum so etwas wie Authentizität beanspruchen, stellt vielmehr eine Projektion durchaus moderner Bedürfnisse auf das Mittelalter dar.


    Warum es der vorliegenden, vom ersten bis zum letzten Ton fesselnden Aufnahme so ungemein gut gelingt, von der musikalischen Erfahrung unserer Epoche her ein Fenster zur Vergangenheit des Mittelalters zu öffnen, liegt an der Verbindung des ganz Alten und ganz Neuen. In der Musik des 20. Jhd. vollzieht sich eine Abkehr von den Hörgewohnheiten der „Romantik“ in einem tiefer gehenden und weiter reichenden Sinne, indem sich nämlich die neuzeitliche Moderne der vormodernen Welt des Mittelalters in einer entscheidenden Hinsicht wieder annähert: Worum es hier geht ist das (Ver-)Schwinden des Subjekts und damit zusammenhängend einer subjektiven Erlebnisperspektive.


    Hildegard von Bingens Ordo Virtutum folgt einem großen literarischen Vorbild, der Psychomachia des christlich-spätantiken Dichters Prudentius (eigentlich Aurelius Prudentius Clemens, (348 – ca. 405 n. Chr.)) Die „Psychomachia“ ist ein Seelenkampf, wo die einzelnen Tugenden mit den ihnen zugehörenden Untugenden bildlich-allegorisch personifiziert ums Überleben kämpfen – verletzt werden, Blessuren davontragen aber letztlich doch den Sieg erringen. Bei Hildegard von Bingen kämpfen entsprechend die christlichen Tugenden der Demut, der Nächstenliebe, der Gottesfurcht usw. mit den skeptischen Verunsicherungen, die vom „Teufel“ ausgehen. Es kann hier jedoch keine Rede davon sein, dass es sich bei diesem Seelenkampf um so etwas wie den „inneren“ Konflikt eines Subjekts handelt, das an diesem „leidet“ und sich entsprechend auch weiter entwickelt, indem es nach einer Konfliktlösung sucht. Die Tugenden und ihre Anfechtungen stellen vielmehr personifizierende Kräfte dar und die Seele so etwas wie ein Kräftefeld, dem eine organisierende Mitte – ein alle seine Erlebnisse synthetisierendes Subjekt – fehlt. Die musikalische „Form“ dieses Dramas ist deshalb auch weit entfernt von der geschlossenen, finalisierenden Ordnung und Organisation des klassisch-romantischen Sonatensatzes mit einer den thematischen Konflikt exponierenden Exposition, seiner Austragung in der Durchführung und versöhnlichen Lösung in der Reprise: Die Gegensätze zeigen sich vielmehr in einer „Geschichte“, die in der losen Aneinanderreihung von Episoden besteht, im entwicklungs- und ziellosen Hin- und Her einer Behauptung der Tugenden und ihrer drohenden Entmachtung, wo sich der „Sieg“ der Tugend und des Glaubens letztlich auch nicht zielgeführt („teleologisch“ präformiert in der Philosophensprache) einstellt.


    Fehlende Emphase ist das, was mittelalterlich-subjektlose Musik auszeichnet. Subjektive Gefühlsreaktionen mischen dem Ausdruck einer seelischen Regung immer etwas bei, worin sich das beteiligte und betroffene Selbst meldet: die Freude kann verhalten sein oder sich zum Überschwang steigern (wie die Wiedersehensfreude in Beethovens Klaviersonate „Les Adieux“), ein Kunstlied aus der Romantik die emotionale Regung mit Ironie und Spott oder mit dem Ton von Verzweiflung noch einmal gleichsam kommentieren. Die archaische Wirkung eines gregorianischen Chorals, welche uns ein Gefühl der Selbstvergessenheit und Zeitenthobenheit vermittelt, beruht vielleicht gerade darauf, dass sie abstrakt bleibt, von solchen dynamischen Gefühlsreaktionen nahezu frei ist. „Tugenden“ im antik-mittelalterlichen Verständnis stellen bezeichnend so etwas wie feste Haltungen (griech. hexis) dar – sie sind damit noch keine „Gefühle“ mit einer dazu gehörenden Gefühlsdynamik im modernen Sinne, welche gerade die Auflösung von Tugendfestigkeit in höchster Beweglichkeit und veränderlicher Anpassung in der Reaktion auf wechselnde Umstände zur Voraussetzung haben. Dietburg Spohr spricht von „Gleichzeitigkeit“ an der Stelle echter Polyphonie, vom Ausdruck eines „Konflikts seelischer Energien“. Die Tugenden und ihre Anfechtungen – allegorisch ins Bild gesetzt als Verletzungen einer handelnden Person durch eine andere – bedeuten zwar nicht so etwas wie die Reaktion eines Subjekts auf seine eigenen Erlebnisse. Seelische Komplexität kommt hier zustande nicht durch subjektives Reagieren, sondern ein Agieren, das mannigfaltige „Resonanzen“ in seinem Gegenüber auslöst. Ein solches Gefüge von Resonanzen ergänzt die Belcanto-Fassung, vertreibt damit die Monotonie der Einstimmigkeit und gibt der Musik ihr inneres Leben sehr sinnenfällig durch ihre Manifestation in einer Lautgestalt zurück. Der moderne Mensch besitzt zwar in hohem Maße die Fähigkeit zur Gefühlsreaktion und zur Einfühlung darin, die mannigfaltigen seelischen Resonanzen, die ein gregorianischer Choral im Akt des Singens einst auslöste, sind jedoch im Übergang vom Mittelalter zur Moderne mehr und mehr verklungen. Viel spricht deshalb dafür, dass unser vordringlicher Eindruck des Eintönig-Archaischen mittelalterlicher Gesänge einer purifizierenden Abstraktion entspringt, letztlich ursächlich hervorgeht aus dem geschichtlich bedingtem Verlust einstmals lebendiger Erfahrung. Die Laut-Gesänge Karlheinz Stockhausens, mit denen das Belcanto-Ensemble so gut vertraut ist, führen hier zurück in eine seelische Komplexität, welche vor subjektiver Gefühlskultur liegt, deren unverzichtbar großer Reichtum an emotionaler Reaktion allerdings auch die Kehrseite hat, den anderen Reichtum ursprünglich agierender seelischer Kräfte und ihrer vielfältigen Resonanzen tendenziell zu verdecken. Reiner Stimmgesang lebt vom Atmen und den flexiblen Modifikationen der Atembewegung – hier spricht sich die mythische, atmende Seele aus, das Ein- und Aushauchen des Lebensatems – etwa in Track Nr. 21. Das Lachen wiederum (Track Nr. 23), es ist als eine seelische Kraft erst einmal nur ein Lachen, das in den Raum eindringt, hallt und widerhallt, dabei nur es selbst ist, dessen Resonanzen der Hörer wie gebannt nachhört, ohne sie durch eine einsetzende Gefühlsreaktion gleichsam abzudämpfen. Der Weg in die vergangene musikalische Welt des Mittelalters führt so zurück zu uns selbst – zu dem in uns verborgenen Reichtum ursprünglicher seelischer Regungen und Kräfte.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Das sind so die "Interpretationen", die ich nicht leiden kann ...
    Klingt irgendwie nach "Anrufung des Mittelalters". Exotismus, wie ich ihn nicht mag.
    Man macht alles Mögliche an moderner Musik, schreibt aber "Mittelalter" drauf.
    Und in meinen Ohren ist das Ergebnis auch viel esoterischer wie so etwas:

  • Die Klangbeispiele genügen mir.
    ;)
    Ich habe das hier mal geschenkt bekommen, und dann auch brav ganz angehört:

    Richter: Jahreszeiten recomposed.
    Je weniger Original-Vivaldi, umso eher mochte ich es.
    Aber immerhin steht Richter als Komponist drauf.
    Was mich vor allem bei vieler "Mittelaltermusik" stört, ist der Etikettenschwindel.

  • Richter: Jahreszeiten recomposed.
    Je weniger Original-Vivaldi, umso eher mochte ich es.
    Aber immerhin steht Richter als Komponist drauf.
    Was mich vor allem bei vieler "Mittelaltermusik" stört, ist der Etikettenschwindel.


    Voraussetzung für einen "Schwindel" ist, dass man das Original kennt. Bei Vivaldi kennen wir die Aufführungsmodalitäten. Bei antiker und mittelalterlicher Musik aber nicht in vergleichbarer Weise. Das "Original" ist überhaupt in vielen Fällen nicht mehr rekonstruierbar. Das ist ungefähr so, als wenn wir die Ruine einer Kathedrale vor uns haben und meinen, so hätte eben im Mittelalter eine Kathedrale ausgesehen.


    Die grundsätzliche Frage (und diese Entscheidung kann immer in die eine oder andere Richtung ausfallen) ist hier: Führt man nur die Fragmente auf oder rekonstruiert man ein Ganzes in kreativer Weise? Soll man etwa Arnim und Brentano dafür kritisieren, dass sie mit "Des Knaben Wunderhorn" eine Sammlung alter deutscher Lieder herausgegeben haben, die alles andere als phillologisch genau ist? Streng genommen ist auch das "Etikettenschwindel". Die Vorlagen wurden nämlich alle bearbeitet und sogar Neudichtungen eingestreut, ohne sie auszuweisen. Wenn Arnim und Brentano nur eine "gelehrte" Ausgabe vorgelegt hätten, hätte sie nie diese Wirkungsgeschichte gehabt (Mahlers Vertonungen usw.). Diese historistische Mode von heute macht es sich da ein bisschen zu einfach, leugnet einfach die massiv auftauchenden hermeneutischen Probleme.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Die grundsätzliche Frage (und diese Entscheidung kann immer in die eine oder andere Richtung ausfallen) ist hier: Führt man nur die Fragmente auf oder rekonstruiert man ein Ganzes in kreativer Weise?

    Die Art der Mehrstimmigkeit, die auf der von Dir beworbenen CD vorkommt, hat aber mit einer Rekonstruktion nichts zu tun.
    (Wikipedia spricht: Beim Rekonstruieren ist es unabdingbar, sich an erhaltenen Fragmenten, Quellen oder auch nur Indizien zu orientieren.)

  • Die Art der Mehrstimmigkeit, die auf der von Dir beworbenen CD vorkommt, hat aber mit einer Rekonstruktion nichts zu tun.
    (Wikipedia spricht: Beim Rekonstruieren ist es unabdingbar, sich an erhaltenen Fragmenten, Quellen oder auch nur Indizien zu orientieren.)

    "Rekonstruktion" ist hier auch ein problematischer Begriff. Die Mediävisten, also die Fachleute, sagen zum Ordo Virtutum, dass nur eine sehr vage und kaum verläßliche Vorstellung davon zu gewinnen ist, wie dieses Stück tatsächlich aufgeführt wurde. Das sind alles mehr oder weniger zweifelhafte Mutmaßungen. Bei einer Rekonstruktion dagegen ist es so (z.B. einem Text, wo z.B. Teile fehlen), dass man immer eine Vorstellung von dem Plan hat, so dass man dann die fehlenden Teile sinngemäß einfügen kann. Davon kann hier keine Rede sein. Was hier zudem fehlt, ist die Vorstellung eines "Werks". Die wurde überhaupt erst viel später, nämlich in der Renaissance, zur Deutung von Musik verwendet. In Antike und Mittelalter verglich man das Praktizieren von Musik gerne mit dem Essen und Trinken. Ein Stück Brot wird verzehrt und hinterher bleibt nichts von ihm übrig. Das Momentane steht im Mittelpunkt, nicht das Bleibende. Man weiß z.B., dass liturgische Aufführungen einer Messe z.B. die aufgeschriebenen Teile sehr stark situativ veränderten.


    Im Symphoniekonzert haben sie hier in Bielefeld vor Beethovens 9. und Scelsi einen der Gesänge von Hildegard v. Bingen aufgeführt. Wenn man nicht den Anspruch hat, das komplette "Drama" aufzuführen, dann kann man selbstverständlich einfach die überlieferten Originalgesänge singen. Wie man es macht, hängt also nicht zuletzt davon ab, welchen Zweck die Aufführung verfolgt. Wenn man nun eine Inszenierung des Dramas tatsächlich versuchen will, dann kommt man über eine kreative Bearbeitung nicht herum, wie immer sie auch aussieht. Die Belcanto-Fassung ist sehr positiv aufgenommen worden. Vielen Hörern "sagt" sie also etwas. Das Booklet ist sehr liebevoll gemacht - man erfährt alles! Damit kann man sich also auseinandersetzen. Dietburg Spohr hat sogar die lateinischen Texte selber übersetzt! Da steckt also sehr viel Engamenent und Liebe dahinter - das merkt man der Aufführung an. Natürlich kann keine solche Auffassung Exklusivanspruch geltend machen - was sie im übrigen auch gar nicht will. Wenn ich einen griechischen Text von Aristoteles lese, nehme ich schließlich nicht nur eine Übersetzung, sondern mehrere und vergleiche. Genauso wird sich der Interessierte mehrere Aufnahmen kaufen, die alle eine andere Sicht auf das Stück vermitteln. "Originaltreu" ist sowieso keine!


    Wenn ein Opernhaus hier in Europa auf die Idee käme, eine traditionelle chinesische Oper aufzuführen, also Musik, die aus einem ganz anderen Kulturkreis stannt, dann könnte sich das Ensemble noch so sehr um Authentizität bemühen, der chinesische Hörer würde nur darüber lachen. Ebenso wäre es, wenn Hildegard v. Bingen von den Toten auferstehen würde und sich anhören müßte, wie ihr Stück heute aufgeführt wird. Das würde sie wohl alles ziemlich befremden. Da ist eine Epoche vergangen und es gibt auch nichts mehr zurückzuholen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Man weiß z.B., dass liturgische Aufführungen einer Messe z.B. die aufgeschriebenen Teile sehr stark situativ veränderten.

    Sie werden aber kaum situativ ein paar Jahrhunderte vorgegriffen haben ...

    Zitat

    Die Belcanto-Fassung ist sehr positiv aufgenommen worden. Vielen Hörern "sagt" sie also etwas.

    Das ist bei "Mittelalterevents" meistens so. Da wird richtig Stimmung gemacht und herumimprovisiert, was das Zeug hält. Dabei wird aber eine Art exotischen Mittelalters geboren, das mit dem realen sehr wenig zu tun hat, was aus den überlieferten Quellen sehr leicht erkannt werden kann. Das Publikum schätzt im Endeffekt eine aktuelle Impro-Szene, die sich als Mittelaltermusik verkauft, aber keine spielt.

    Zitat

    Da steckt also sehr viel Engamenent und Liebe dahinter

    Das will ich gar nicht in Abrede stellen.

    Zitat

    Wenn ein Opernhaus hier in Europa auf die Idee käme, eine traditionelle chinesische Oper aufzuführen, also Musik, die aus einem ganz anderen Kulturkreis stannt, dann könnte sich das Ensemble noch so sehr um Authentizität bemühen, der chinesische Hörer würde nur darüber lachen.

    Wieso? (Merkwürdige Diskriminierung eigentlich: Die Chinesen können offenbar europäische Musik erlernen, wie Lang Lang uns täglich beweist, die Europäer sollen aber unfähig sein, chinesische Musik zu erlernen?)

  • Das ist bei "Mittelalterevents" meistens so. Da wird richtig Stimmung gemacht und herumimprovisiert, was das Zeug hält. Dabei wird aber eine Art exotischen Mittelalters geboren, das mit dem realen sehr wenig zu tun hat, was aus den überlieferten Quellen sehr leicht erkannt werden kann. Das Publikum schätzt im Endeffekt eine aktuelle Impro-Szene, die sich als Mittelaltermusik verkauft, aber keine spielt.

    Wo ist denn das "reale" Mittelalter? Wer verwaltet das? Entscheidend ist doch, warum diese "alte" Musik für uns heute von Interesse ist und sein kann. Es sind Menschen von heute, die bewegt werden müssen, solche Musik zu spielen und sie zu hören. Das ist ohnehin schon nicht die große Masse. Wenn eine historisch treue Rekonstruktion von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, warum muß man diesen vergeblichen Versuch dann machen? Da ist es legitim, den anderen Weg zu wählen (freilich nicht zwangsläufig, hier geht es nicht um ein Müssen, sondern lediglich ein Können), nach Brücken von damals und heute zu suchen. Belcanto wendet sich gegen die Mystifizierungen von Hildegard v. Bingen (was ich sehr sympathisch finde) und versucht die sehr irdischen, menschlichen Seiten zu zeigen. Und es gibt da Brücken von neuer zu alter Musik. Warum soll man die nicht gehen?


    Wieso? (Merkwürdige Diskriminierung eigentlich: Die Chinesen können offenbar europäische Musik erlernen, wie Lang Lang uns täglich beweist, die Europäer sollen aber unfähig sein, chinesische Musik zu erlernen?)

    Schon im 18. Jhd., bei Rousseau, kann man lesen, dass es Lieder gibt, die nur Italiener verstehen. Es ist etwas anderes, wenn die Chinesen von heute von Klein auf mit europäischer klassischer Musik aufwachsen, als wenn z.B. Anfang des 20. Jhd. erstmals Gamelan-Orchester in Europa auftauchen. Da bekommen die Ganztonleitern den faszinierenden Reiz des Exotisch-Fremden (mit dem dann Debussy u.a. auch ästhetisch spielen), den sie in diesem Kulturkreis, aus dem sie stammen, aber überhaupt nicht haben. Das ist ein völlig neuer Sinn, der da entsteht. Es ist naiv zu glauben, man könne sich nur mit der Fähigkeit der Einfühlung in jede beliebige andere Zeit und Kultur versetzen. Je weiter ein solcher Kontext von uns entfernt ist, desto schwieriger wird es.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wo ist denn das "reale" Mittelalter? Wer verwaltet das?

    Das ist zwar rhetorisch durchaus wirkungsvoll, aber dennoch war das reale Mittelalter z.B. ohne Handy. Das kann ich einfach so behaupten, und niemand wird mir widersprechen.

    Zitat

    Entscheidend ist doch, warum diese "alte" Musik für uns heute von Interesse ist und sein kann. Es sind Menschen von heute, die bewegt werden müssen, solche Musik zu spielen und sie zu hören.

    Das ist aber für mich kein Grund, dass man dann stattdessen etwas anderes spielt. Als Resultat halten dann alle Leute das andere für die mittelalterliche Musik und wurden somit betrogen. Du wirst ja auch nicht sagen wollen, dass die Sinfonie fantastique ein mittelalterliches Dies Irae ist.

    Zitat

    Wenn eine historisch treue Rekonstruktion von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, warum muß man diesen vergeblichen Versuch dann machen?

    Um eine möglichst unverstellte Ahnung von der mittelalterlichen Musik zu bekommen.

    Zitat

    Da ist es legitim, den anderen Weg zu wählen (freilich nicht zwangsläufig, hier geht es nicht um ein Müssen, sondern lediglich ein Können), nach Brücken von damals und heute zu suchen. Belcanto wendet sich gegen die Mystifizierungen von Hildegard v. Bingen (was ich sehr sympathisch finde) und versucht die sehr irdischen, menschlichen Seiten zu zeigen. Und es gibt da Brücken von neuer zu alter Musik. Warum soll man die nicht gehen?

    OK, aber warum nennt man das dann nicht "Brücke zu Hildegard, ein interepochales Konzepterlebnis von XY"? (Weil man das nicht so gut verkaufen kann.)

    Zitat

    Es ist etwas anderes, wenn die Chinesen von heute von Klein auf mit europäischer klassischer Musik aufwachsen, als wenn z.B. Anfang des 20. Jhd. erstmals Gamelan-Orchester in Europa auftauchen

    Und heute ist nicht mehr Anfang des 20. Jahrhunderts und viele Chinesen leben in Europa ...

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  • Hallo,

    die Beiträge habe ich sorgfältig gelesen und kann den Argumenten beider Seiten sehr viel abgewinnen (bis auf Geringschätzung von Vivaldi).


    Meine Meinung: Da ist eine Marktnische gesucht und gefunden worden, auf der gut „mitgeschwommen“ (Esoterik) und Geld gemacht werden kann – das kann auch Eventcharakter bekommen, ein „Charakter“, der Hildegard von Bingen wohl fremd gewesen sein dürfte.


    Viele Grüße
    zweiterbass



    Nachsatz: Recomposed???
    Bessere (?) Covertitel:
    Max Richter, Vivaldi-Variationen
    Max Richter, neu eingerichtet die 4 Jahreszeiten von Vivaldi


    Das von Holger eingestellte CD-Cover, so's eins ist, (wünschenswert wäre direkte Verlinkung zu amazon/jpc) ist m. E. ein nicht zu akzeptierender Etikettenschwindel.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • die Beiträge habe ich sorgfältig gelesen und kann den Argumenten beider Seiten sehr viel abgewinnen (bis auf Geringschätzung von Vivaldi)

    Nein, nein, ich schätze Vivaldi überhaupt nicht gering! Aber in der Bearbeitung sind mir die Teile lieber, die nach etwas ganz anderem klingen, als die Teile, in denen der Vivaldi nur "ein bisschen falsch" daherkommt.
    :hello:

  • Das ist zwar rhetorisch durchaus wirkungsvoll, aber dennoch war das reale Mittelalter z.B. ohne Handy. Das kann ich einfach so behaupten, und niemand wird mir widersprechen.

    Du willst also behaupten, dass Du genau weißt, was ein buddhistischer oder mittelalterlicher Mönch empfindet oder empfunden hat, wenn er singt? Wenn wir an die Angelegenheit phänomenologisch herangehen, dann müssen wir konstatieren, dass das Anziehende von mittelalterlicher Musik eben auch eine gewisse Fremdartigkeit ist. Niemand wird wohl behaupten, ein gregorianischer Choral sei für ihn genauso vertraut wie eine Melodie von Mozart. Wenn dem aber so ist, dann zeigt dies, dass wir etwas schon nicht mehr verstehen wie es einst gemeint war und genau daraus dann einen besonderen Sinn schöpfen (die "Andersartigkeit an sich" zum Erlebnis werden lassen). Das kann man dann noch mystisch verklären und sagen, dass dieser Gesang Ausdruck einer absoluten "Seinserfahrung" ist, welche die Gebrechen der modernen Subjektivität noch nicht kennt usw. Das wird ja nicht selten gemacht. Davon genau distanziert sich aber Belcanto, holt diese Musik gewissermaßen vom Himmel auf die Erde. Und das finde ich spannend. Man sollte sich dem erst einmal aussetzen und dann urteilen. Dazu reichen ein paar Hörschnipsel nicht.


    Das ist aber für mich kein Grund, dass man dann stattdessen etwas anderes spielt. Als Resultat halten dann alle Leute das andere für die mittelalterliche Musik und wurden somit betrogen. Du wirst ja auch nicht sagen wollen, dass die Sinfonie fantastique ein mittelalterliches Dies Irae ist.

    Ich fühle mich überhaupt nicht betrogen. Erst einmal werden alle Choräle gesungen. Es wird etwas hinzugefügt - und jeder kann das auch hören. Du hast eine bestimmte Erwartungshaltung, die eigentlich wenig mit der konkreten Musik zu tun hat. Mich interessiert dieser Aspekt beim Hören dagegen gar nicht. Ich empfinde das als eine Bereicherung und verstehe das auch richtig einzuordnen. Warum ist das nur so schwer? Wenn man diese Richtung nicht mag, auch o.k. Aber darum muß man sie ja nicht gleich verteufeln.


    Um eine möglichst unverstellte Ahnung von der mittelalterlichen Musik zu bekommen.

    Ich höre Mozart nicht, um eine Ahnung von der Musik des 18. Jhd. zu bekommen, sondern weil es Mozart ist und mich diese Musik berührt.


    OK, aber warum nennt man das dann nicht "Brücke zu Hildegard, ein interepochales Konzepterlebnis von XY"? (Weil man das nicht so gut verkaufen kann.)

    Das ist mit dem Verkaufsinteresse ist bei so einem Nischenrepertoire wirklich lächerlich. Die werden glücklich sein, wenn sie die Investitionen für diese CD wieder reinbekommen und nicht draufzahlen müssen.


    Und heute ist nicht mehr Anfang des 20. Jahrhunderts und viele Chinesen leben in Europa ...

    Weswegen sie dann u .U. Probleme bekommen, ihre eigene traditionelle Kultur zu verstehen...


    Meine Meinung: Da ist eine Marktnische gesucht und gefunden worden, auf der gut „mitgeschwommen“ (Esoterik) und Geld verdient werden kann – das kann auch Eventcharakter bekommen, ein „Charakter“, der Hildegard von Bingen wohl fremd gewesen sein dürfte.

    Bei Belcanto ist ein völlig anderes Interesse im Spiel, nämlich ein emanzipatorisches. Das ist ein Esnemble von sehr selbstbewußten Frauen, die sich sogar mit Stockhausen angelegt und nicht nachgegeben haben (Stimmungs-Affäre). Esoterik wollen sie mit dieser Aufnahme gerade bekämpfen.


    Das von Holger eingestellte CD-Cover, so's eins ist, (wünschenswert wäre direkte Verlinkung zu amazon/jpc) ist m. E. ein nicht zu akzeptierender Etikettenschwindel.

    Es gibt eine Internetseite von Belcanto, da wird das ganze Konzept der CD erklärt. Von einem mündigen und erfahrenen Käufer insbesondere dieses Repertoires darf man wohl erwarten, dass er sich vorher informiert. Das mit dem "Etikettenschwindel" ist von daher nun wirklich Blödsinn. Jeder weiß doch, dass es auf diesem Gebiet sehr grundverschiedene Herangegehensweisen gibt. Wenn ich die Aufnahme einer Bruckner-Symphonie kaufe in einer gekürzten Fassung, dann ist das auch kein Etikettenschwindel. Ich muß eben wissen, dass es verschiedene Fassungen gibt. Wer sich dieses Wissen nicht aneignet und "überrascht" wird, der ist es selber schuld!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Es gibt eine Internetseite von Belcanto, da wird das ganze Konzept der CD erklärt. Von einem mündigen und erfahrenen Käufer insbesondere dieses Repertoires darf man wohl erwarten, dass er sich vorher informiert.

    Hm - die Nonsenseproben, die Du oben zitiert hast, reichen mir schon.
    ;)

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  • Ich muß doch sagen, dass ich diese Art der Diskussion bislang für wenig produktiv halte. Sie beschränkt sich nämlich ausschließlich aufs Ideologische. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Konzertabend in Düsseldorf vor vielen Jahren, wo Cyprien Katsaris die Liszt-Transkription einer Beethoven-Symphonie spielte. Daraufhin erschien eine wütende Kritik in der Rheinischen Post. So etwas gehöre nicht in den Konzertsaal, Liszt habe sich damit an Beethoven versündigt und Katsaris als seriöser Musiker verabschiedet. Die Reaktion in diversen Leserbriefen - mit heftigem Widerspruch - kam prompt. Einer schrieb: Man müßte diese Liszt-Transkription zwar nicht mögen, sie sei aber unbestreitbar musikalisch gut gemacht. Dasselbe kann man von dieser Belcanto-Version sagen: Das muß nicht jeder mögen, aber musikalisch ist das nicht nur gut, sondern sehr gut. Das ist hoch intelligent, in jeder Sekunde spannend und einfach ein lohnendes Hörabenteuer. Ideologische Debatten darüber, wo es allein und ausschließlich darum geht, ob Belcanto so etwas darf, empfinde ich von daher als ziemlich überflüssig. Auf Hörabenteuer lasse ich mich erst einmal ein und sehe, was mir das bringt. Für mich lohnt es sich. Es wäre für meinen Geschmack eine gewisse Aufgeschlossenheit hier doch wünschenswert. Ich habe schließlich zwei Konzerte von diesem Ensemble erlebt mit Neuer Musik - alle beide waren ganz ausgezeichnet. Auf diesem Niveau bewegt sich auch diese CD.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Es gibt eine Internetseite von Belcanto, da wird das ganze Konzept der CD erklärt


    Aber es gibt keine Musik zu hören - wäre das der Fall, würde u. U. ein Teil des Kaufanreizes "flöten" gehen (das wäre ja zu dumm).

    Von einem mündigen und erfahrenen Käufer insbesondere dieses Repertoires darf man wohl erwarten, dass er sich vorher informiert.


    Ob von einem erfahrenen Mitglied des Forums erwartet werden kann, dass CD-Vorstellungen so erfolgen, dass Hörbeispiele möglich sind? (Vom Unterlassen "blödsinniger" Bemerkungen ganz zu schweigen.)

    vertreibt damit die Monotonie der Einstimmigkeit


    Meine Idee dazu: 1 Woche Klosteraufenthalt mit überwiegend angeleiteten Meditationsübungen - vielleicht gelingt es, in dieser kurzen Zeit zumindest Anfangserfolge zu erzielen. Möglicherweise gelänge es, mit diesen Anfangserfolgen die "Monotonie der Einstimmigkeit" etwas hinter sich zu lassen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Aber es gibt keine Musik zu hören - wäre das der Fall, würde u. U. ein Teil des Kaufanreizes "flöten" gehen (das wäre ja zu dumm).

    Wieso denn, lieber Horst? Das setzt schon eine negative Voreinstellung voraus.


    Ob von einem erfahrenen Mitglied des Forums erwartet werden kann, dass CD-Vorstellungen so erfolgen, dass Hörbeispiele möglich sind? (Vom Unterlassen "blödsinniger" Bemerkungen ganz zu schweigen.)

    Das ist letztlich Aufgabe der Händler und nicht des Ensembles, so etwas bereitzustellen. Bei jpc gibt es Hörschnipsel (wie immer):


    https://www.jpc.de/jpcng/class…rdo-Virtutum/hnum/2406431


    Der Kunde wird außerdem im Produktinfo darüber informiert, dass es sich hier um eine spezielle Belcanto-Fassung handelt, wie Du sehen kannst!

    Meine Idee dazu: 1 Woche Klosteraufenthalt mit überwiegend angeleiteten Meditationsübungen - vielleicht gelingt es, in dieser kurzen Zeit zumindest Anfangserfolge zu erzielen. Möglicherweise gelänge es, mit diesen Anfangserfolgen die "Monotonie der Einstimmigkeit" etwas hinter sich zu lassen.

    Wenn Du Dich mit dem Ordo Virtutum (Text) beschäftigt hättest (Link habe ich gegeben!), dann wäre auch Dir glaube ich klar, dass es hier nicht um "Meditationsübungen" geht. Das ist doch genau das Vorurteil, gegen das Belcanto angeht: als sei der einzige Inhalt von mittelalterlicher Musik Mystik und Meditation. Hier ist es nun mal evident falsch.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Das setzt schon eine negative Voreinstellung voraus.


    Wieso den, lieber Holger?

    Bei jpc gibt es Hörschnipsel (wie immer):


    Das wäre einzustellen gewesen, nicht ein CD-Cover ohne Verlinkung zur Musik.

    Das ist doch genau das Vorurteil, gegen das Belcanto angeht: als sei der einzige Inhalt von mittelalterlicher Musik Mystik und Meditation. Hier ist es nun mal evident falsch.


    Es beschleicht mich das Gefühl (was falsch sein kann!), dass Du absichtlich missverstehst. Die Meditation soll dabei helfen, die "Eintönigkeit" des Hörens (heute) der Gregorianik zu verlassen und verlorenes Verständnis dieser Musik dadurch z. T. erneut zu erlangen (ich vermute, damals wurde diese Musik nicht als eintönig gehört). Zum rechten Verständnis dieser Musik ist Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe von Nöten (wer hat die noch?), außerdem ein Loslassen, fern vergleichbar mit autogenem Training.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Das wäre einzustellen gewesen, nicht ein CD-Cover ohne Verlinkung zur Musik.

    Wieso soll das meine Pflicht sein? Den Service gebe ich natürlich gerne. Aber im allgemeinen darf hier doch vorausgesetzt werden dürfen, dass jpc bekannt ist und jeder selbst das findet.


    Es beschleicht mich das Gefühl (was falsch sein kann!), dass Du absichtlich missverstehst. Die Meditation soll dabei helfen, die "Eintönigkeit" des Hörens (heute) der Gregorianik zu verlassen und verlorenes Verständnis dieser Musik dadurch z. T. erneut zu erlangen (ich vermute, damals wurde diese Musik nicht als eintönig gehört). Zum rechten Verständnis dieser Musik ist Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe von Nöten (wer hat die noch?), außerdem ein Loslassen, fern vergleichbar mit autogenem Training.

    Ich habe hier in Bielefeld von diesem Ensemble zuletzt "Stimmung" von Stockhausen gehört. Da wird fast durchweg auf einem Ton gesungen. Was meditative Ruhe ist, das braucht man diesem speziellen Ensemble also wahrlich nicht zu erzählen. Es gibt solche Momente des Loslassens in der Belcanto-Version, sehr eindrucksvolle (habe ich mir in meinem "Hörprotokoll" notiert!). Die wechseln aber mit anderen "aufgeregteren" Tönen, wie es eben einem Seelenkampf, einer "Psychomachia", entspricht. Du hast natürlich Recht - damals wurde die Musik nicht eintönig gehört. Genau das meint glaube ich auch Frau Spohr. Aber von uns wird sie leicht so empfunden. Das ist der unüberbrückbare Zeitabstand - wir hören nicht mehr mit mittelalterlichen Ohren mittelalterliche Musik und neigen entsprechend dazu, uns gewissermaßen über deren Charakter zu täuschen, ihr allzu viel meditative Ruhe anzudichten (die sie auch hat, aber eben nicht nur). :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Gehen wir nochmal an den Threadanfang zurück. Was mir natürlich sauer aufstößt, ist folgendes:

    Die große Qualität dieser Belcanto-Version ist, dass sie die beiden Klippen der Exotik und Esoterik souverän umschifft. Exotisch – freilich auch nicht ohne Reiz – bliebe eine „puristische“ Wiedergabe nur der originalen Gesänge, weil sie lediglich von einem kleinen Expertenkreis wahrgenommen würde. Populär dagegen sind – gerade im Falle der Hildegard von Bingen – esoterische Mystifizierungen. Hildegards Musik als Erlebnis-Mystik zu vereinnahmen kann jedoch kaum so etwas wie Authentizität beanspruchen, stellt vielmehr eine Projektion durchaus moderner Bedürfnisse auf das Mittelalter dar.

    Dass Du die Komposition des Ensembles, die unter dem Namen "Hildegard von Bingen" verkauft wird, was ich nicht OK finde, nur loben kannst, indem Du seriösere Zugänge mit ein paar billigen argumentativen Tricks abzuwerten versuchst. Eine puristische Wiedergabe sei "exotisch", weil sie nur von Experten rezipiert wird - das ist einfach eine irgendwie dahingeschriebene Ansammlung negativ belegter Gemeinplätze, die durch ein "weil" verknüpft werden, damit es argumentativ ausschaut. Die Aussage ist etwa so logisch, als wenn ich schriebe "wir hören heute keine mittelalterliche Einstimmigkeit mehr, weil der Ahorn ein Laubbaum ist".


    Wenn Du mit "exotisch" nur meinst, dass keine Massen angesprochen werden, und somit den Massen die Musik fremd bleibt, so ist zu bedenken, dass Gregorianik immer mal wieder in die Charts kommt.

  • Ich habe auch mal in die Hörschnipsel reingehört, hat in der Tat mit Mittelalter und gar HvB nix zu tun.


    Nach heutiger Kenntnis ist das hier die Musik, wie sie damals gesungen und gespielt wurde, was ziemlich nah an der oben von KSM referenzierten CD ist, die Musik hatte damals wohl nur geringe Variationsbreiten:


    ,


    und Belcanto macht etwas völlig anderes draus.


    Belcanto wollte anscheinend ein politisches Statement abgeben:


    Zitat von der jpc-Seite:


    Wir wollen mit unserem Projekt versuchen, Hildegard von Bingen aus ihrer oft esoterischen-mystizistischen Vereinnahmung und einem damit manchmal verbundenen Missbrauch herauszuholen und ihr Wirken als emanzipierte Frau und Komponistin darzustellen.


    Zitat Ende


    Das sagt eigentlich alles. Es geht irgendwie um Gender-Gedöns.

  • Wir wollen mit unserem Projekt versuchen, Hildegard von Bingen aus ihrer oft esoterischen-mystizistischen Vereinnahmung und einem damit manchmal verbundenen Missbrauch herauszuholen


    (m-muerller zitiert damit aus dem jpc-Begleittext, es ist also nicht seine Meinung.)

    Was mit moderner Mehrstimmigkeit m. E. gründlich daneben gegangen ist - es bestärkt vielmehr die "Möchtegern-moderne-Musik-Versteher/innen" und man öffnet damit einen weiteren Topf für falsche Vereinnahmung.
    Die Musik Hildegard von Bingen kann m. E. nur die/der verstehen, der/die eine Naturbegabung für tatsächliche Meditation hat oder sich diese (mühsam?) angeeignet hat.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo zweiterbass,


    "mühsam" ist durchaus das richtige Wort. Anfangs kann man sich ganz in die eher einfach strukturierte Musik fallenlassen, aber sie gewinnt dann entweder Meditationscharakter oder sie wird auf Dauer etwas eintönig.


    Ich kann sie mir von Zeit zu Zeit auf eine halbe Stunde anhören, aber das reicht dann auch wieder für eine Weile.


    Das ist aber nun für eine selbsternannte "Aus-der-Ecke" -Heraushol-Truppe keine Rechtfertigung, den historischen Stoff nach Belieben und Vermögen "aufzupeppen". Die Brandenburgischen Konzerte werden ja auch immer noch nicht mit Schlagzeugbegleitung aufgeführt, um sie "interessanter" zu machen.

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  • Was mir natürlich sauer aufstößt, ist folgendes:

    ... nämlich Dein Posting unten.


    Hm - die Nonsenseproben, die Du oben zitiert hast, reichen mir schon.

    Und dann drehst Du in sophistischer Weise die Dinge einfach um. Für Dich ist, was Belcanto macht, "Nonsens" (also unseriös) und meine Rezension hältst Du wohl für Bla Bla:


    Dass Du die Komposition des Ensembles, die unter dem Namen "Hildegard von Bingen" verkauft wird, was ich nicht OK finde, nur loben kannst, indem Du seriösere Zugänge mit ein paar billigen argumentativen Tricks abzuwerten versuchst. Eine puristische Wiedergabe sei "exotisch", weil sie nur von Experten rezipiert wird - das ist einfach eine irgendwie dahingeschriebene Ansammlung negativ belegter Gemeinplätze, die durch ein "weil" verknüpft werden, damit es argumentativ ausschaut. Die Aussage ist etwa so logisch, als wenn ich schriebe "wir hören heute keine mittelalterliche Einstimmigkeit mehr, weil der Ahorn ein Laubbaum ist".

    Exotisch ist das Sammeln alter Postkarten oder das Hören von Gamelanmusik. Man kann das alles aber sehr serriös betreiben. (Ich habe auch geschrieben, dass ich die puristische Lösung durchaus reizvoll fände zu hören.) Fakt ist aber, dass so ziemlich alle Ensembles es dem Hörer von heute nicht zumuten wollen, nur die "nackten" Gesänge zu hören. Auch sie empfinden das offenbar als allzu exotisch. Der Hörerkreis von mittelalterlicher Musk ist ohnehin schon sehr klein und derjenige von Puristen, die nur das originalste Original ertragen, noch mal kleiner als klein. Da werden deshalb z.B. orchestrale Zwischenspiele eingefügt, die alle schön nach "Mittelalter" klingen, aber alles andere als "original" sind. Das transponiert diese mittelalterliche Musik auch in die Neuzeit, macht aus ihre eine Art barocker Suite. Auch diese Arrangements werden alle als "Ordo Virtutum" verkauft. Belcanto macht da also gar nichts anderes als üblich - zudem singen sie den Text unverändert und auch die kompletten Gesänge. Und es gibt Besprechungen, Rezensionen (u.a. bei Klassikakzente) wo mit der Besondeheit einer Verbindung von alt und neu sogar geworben wird. Das mit dem Etikettenschwindel halte ich deshalb für totalen Quatsch.


    Wenn Du mit "exotisch" nur meinst, dass keine Massen angesprochen werden, und somit den Massen die Musik fremd bleibt, so ist zu bedenken, dass Gregorianik immer mal wieder in die Charts kommt.

    In den Charts sind aber durchweg die Arrangements (siehe Hilliard).


    Ich habe auch mal in die Hörschnipsel reingehört, hat in der Tat mit Mittelalter und gar HvB nix zu tun.

    Wenn man keinerlei Affinität zur Neuen Musik hat, wird sich einem dieses Konzept von Belcanto auch nicht erschließen.


    Belcanto wollte anscheinend ein politisches Statement abgeben:


    Zitat von der jpc-Seite:


    Wir wollen mit unserem Projekt versuchen, Hildegard von Bingen aus ihrer oft esoterischen-mystizistischen Vereinnahmung und einem damit manchmal verbundenen Missbrauch herauszuholen und ihr Wirken als emanzipierte Frau und Komponistin darzustellen.

    Was ist daran denn falsch? War Hildegard etwa keine emanzipierte Frau und darf man ihre Kompositionen etwa nicht Ernst nehmen?


    Die von Dir hier angeführte CD:



    ist im übrigen gar keine Aufnahme des Ordo Virtutum.


    Das sagt eigentlich alles. Es geht irgendwie um Gender-Gedöns.

    Das sagt alles über denjenigen, der so etwas schreibt. Mit "Gender-Gedöns" hat das, was auf der Platte zu hören ist, nicht das Allergeringste zu tun. Hier wird etwas als "Gedöns" abgetan, damit man sich damit nicht weiter auseinandersetzen muß (das wirkliche Hören bleibt aus).


    Was mit moderner Mehrstimmigkeit m. E. gründlich daneben gegangen ist - es bestärkt vielmehr die "Möchtegern-moderne-Musik-Versteher/innen" und man öffnet damit einen weiteren Topf für falsche Vereinnahmung.
    Die Musik Hildegard von Bingen kann m. E. nur die/der verstehen, der/die eine Naturbegabung für tatsächliche Meditation hat oder sich diese (mühsam?) angeeignet hat.

    Das klingt nach typischer Hildegard von Bingen-Esoterik mit all ihren Exklusionsmechanismen. Diese Musik ist demnach nur etwas für die Eingeweihten, die ein Kloster besucht und meditiert haben. Die anderen sollen gefälligst die Finger davon lassen. Nur es ist nunmal so, dass der Text eine literarische Quelle hat und in einer Tradition steht, die mit Mystik nicht das Geringste zu tun hat. Aber das Klischee, dass mittelalterliche Musik vor allem Mediation sei, ist offenbar nicht auszurotten.


    Es wäre wirklich mal schön, wenn die so eifrig Beteiligten hier mal über etwas reden würden, was sie tatsächlich gehört haben und nicht nur über das, was sie nicht gehört haben bzw. auch gar nicht hören wollen. Letzeres ist - wie in anderen Zusammenhängen auch - völlig unfruchtbar und führt zu nichts.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Aber das Klischee, dass mittelalterliche Musik vor allem Mediation sei, ist offenbar nicht auszurotten.

    (Unterstreichung von mir)
    Ich gehe gerne davon aus, Du meintest Meditation.
    Aber auch mit diesem Wort stimmt Dein Satz nicht - MA-Musik ist nicht Meditation, jetzt allerdings ist zu ihrem Verständnis m. E. Meditation nötig.
    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Was das Gedöns angeht:


    damals gab es sowas wie "Emanzipation" nicht, der Begriff war unbekannt, die dazugehörenden Verhaltensweisen auch.


    HvB hat ihre Möglichkeiten genutzt, sie war wohl der größte Komponist ihrer Zeit, sie war als Kirchenlehrerin und Beraterin hochgestellter Personen anerkannt, daneben hatte sie den im Mittelalter wohl üblichen Sinn für Esoterik und Mystizismus.


    Sie als aufgeklärt oder auch nur emanzipiert (Befreiung von Unterdrückung, Verringerung von Abhängigkeit) zu bezeichnen, erscheint mir unsinnig. Es ist m.E. nach nicht überliefert, daß sie weniger unterdrückt hätte als ihre männlichen Kollegen in vergleichbaren Positionen. Und daß es mächtige Frauen zu allen Zeiten gab, auch im Mittelalter, ist vielfältig überliefert.

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