Mengelberg war es, der am Strand spazierte mit Mahler, Schuberts "Große C-Dur-Sinfonie" im inneren Ohr höhrend, und sich sicher war: die Tempoangaben Brahms' können nicht richtig sein.
Die Einleitung muss genauso "gehen" wie der gesamte folgende Satz.
War er "Intuitiv-Musiker" oder hat er tatsächlich Quellenforschung betrieben, was ihm den Spitznamen "Modest Bach" einbrachte?
Hat er sich ernsthaft mit Beethovens Partituren auseinandergesetzt oder doch nur Schindler vorgeschoben?
Was den Schubert angeht: die heutige Musikwissenschaft pflichtet ihm bei, Brahms hatte sich verschrieben.
Aber sonst? All die Rückungen im Tempo, die manchmal einem Stillstand gleichkommen, diese Steigerungen, die nirgends notiert sind, die aber einen Sog entwickeln, der heute so fremd zu sein scheint:
Was ist dran an seiner Magie oder Scharlatanerie?
Um es vorweg zu nehmen: für mich trägt er eine Tradition ins 20. Jahrhundert, die dort keinen Platz mehr finden konnte.
Da gab es dann, auch durch Äußerliches begründet, verschiedene Wege: Leute wie Furtwängler, die dem Subjektivismus treu blieben. Dagegen "Neue Sachliche" wie Hindemith.
Ein "Sowohl als Auch" wie Mengelberg es lebte und musizierte, starb schnell aus.
Sein Beethoven, sein Brahms und Schubert, sein Tschaikowski...sind für mich originäre Lesarten, die auf völlig eigene Weise überzeugender klingen als, mit Verlaub: entweder Furtwängler oder HIP.
Mengelberg musiziert beides noch in Einklang miteinander. Temporalationen sind stimmig, so fern voneinander die Eckpunkte auch liegen mögen.
Vibrato/Nonvibrato hat noch einen sinnvollen Platz. Und Pausen haben Luft. Viel Luft, die nicht leer ist, sondern gespannt.
Themen haben Tempi, die auch wieder aufgenommen werden, anders als bei späteren "Subjektivisten".
Innerhalb dieser Freiheiten ist er der sachlichste aller Kapellmeister des Schallplattenzeitalters, dem wir noch zuhören dürfen.
Es ist für mich ein Genuss, seinem Dirigat zuzuhören, auch wenn es klanglich Zugeständnisse erfordert.
Es ist ein Genuss, ein Tempo wiederzufinden, das zuvor völlig ad absurdum geführt wurde.
Immer wieder höre ich: das Concertgebouw war nie besser als damals. Ist heute intonationssicherer, das mag sein- aber wer wagt heute, anhand der Oboe zwei Minuten lang(sic!) einstimmen zu lassen.
Flexibler aber, insbesondere rhythmisch, war das Orchester nie so fein abgestimmt wie seinerzeit.
Ein leidenschaftliches Plädoyer, sich mit Mengelbergs Aufnahmen zu befassen- wer mag mir folgen?
Herzliche Grüße,
Mike