Willem Mengelberg- vergessen, aber oft genannt: subjektiv Sachlichster der "Alten Garde"?

  • Mengelberg war es, der am Strand spazierte mit Mahler, Schuberts "Große C-Dur-Sinfonie" im inneren Ohr höhrend, und sich sicher war: die Tempoangaben Brahms' können nicht richtig sein.
    Die Einleitung muss genauso "gehen" wie der gesamte folgende Satz.


    War er "Intuitiv-Musiker" oder hat er tatsächlich Quellenforschung betrieben, was ihm den Spitznamen "Modest Bach" einbrachte?
    Hat er sich ernsthaft mit Beethovens Partituren auseinandergesetzt oder doch nur Schindler vorgeschoben?


    Was den Schubert angeht: die heutige Musikwissenschaft pflichtet ihm bei, Brahms hatte sich verschrieben.
    Aber sonst? All die Rückungen im Tempo, die manchmal einem Stillstand gleichkommen, diese Steigerungen, die nirgends notiert sind, die aber einen Sog entwickeln, der heute so fremd zu sein scheint:
    Was ist dran an seiner Magie oder Scharlatanerie?


    Um es vorweg zu nehmen: für mich trägt er eine Tradition ins 20. Jahrhundert, die dort keinen Platz mehr finden konnte.
    Da gab es dann, auch durch Äußerliches begründet, verschiedene Wege: Leute wie Furtwängler, die dem Subjektivismus treu blieben. Dagegen "Neue Sachliche" wie Hindemith.
    Ein "Sowohl als Auch" wie Mengelberg es lebte und musizierte, starb schnell aus.
    Sein Beethoven, sein Brahms und Schubert, sein Tschaikowski...sind für mich originäre Lesarten, die auf völlig eigene Weise überzeugender klingen als, mit Verlaub: entweder Furtwängler oder HIP.
    Mengelberg musiziert beides noch in Einklang miteinander. Temporalationen sind stimmig, so fern voneinander die Eckpunkte auch liegen mögen.
    Vibrato/Nonvibrato hat noch einen sinnvollen Platz. Und Pausen haben Luft. Viel Luft, die nicht leer ist, sondern gespannt.
    Themen haben Tempi, die auch wieder aufgenommen werden, anders als bei späteren "Subjektivisten".
    Innerhalb dieser Freiheiten ist er der sachlichste aller Kapellmeister des Schallplattenzeitalters, dem wir noch zuhören dürfen.
    Es ist für mich ein Genuss, seinem Dirigat zuzuhören, auch wenn es klanglich Zugeständnisse erfordert.
    Es ist ein Genuss, ein Tempo wiederzufinden, das zuvor völlig ad absurdum geführt wurde.


    Immer wieder höre ich: das Concertgebouw war nie besser als damals. Ist heute intonationssicherer, das mag sein- aber wer wagt heute, anhand der Oboe zwei Minuten lang(sic!) einstimmen zu lassen.
    Flexibler aber, insbesondere rhythmisch, war das Orchester nie so fein abgestimmt wie seinerzeit.


    Ein leidenschaftliches Plädoyer, sich mit Mengelbergs Aufnahmen zu befassen- wer mag mir folgen?


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Ein leidenschaftliches Plädoyer, sich mit Mengelbergs Aufnahmen zu befassen- wer mag mir folgen?


    Lieber Mike,


    folgen werde ich Dir leider nicht können, dazu sind meine musiktechnischen Kenntnisse allzu dürftig.
    Folgen hat dagegen Dein interessanter Beitrag, denn er hat micht neugierig gemacht.

  • Mengelberg war ein Gigant. Er erinnert mich am ehesten an Furtwängler, ohne zur bloßen niederländischen Kopie zu verkommen. Egal, was ich von Mengelberg höre, alles klingt anders als bei den anderen. Neulich die "Tannhäuser"-Ouvertüre. Wer das Phänomen Mengelberg kennenlernen will, möge sich seine 9. Symphonie von Beethoven zu Gemüte führen. Sicher eine der extremsten Deutungen aller Zeiten. Allein wie er die letzten Takte in der Coda bringt — genial. Es gibt auch die anderen acht Beethoven-Symphonien in erstaunlich guter Tonqualität. Vergessen ist er für mich in keiner Weise. Einer der ganz, ganz großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts, der von seinem Zugang her tatsächlich eher ins 19. gepasst hätte. Im Jahr der Reichsgründung, 1871, geboren, zog ihn das Deutsche Reich auch in dunkelsten Zeiten an, als es sich "großdeutsch" wähnte, was ihm nach dem Kriege zu seinem Nachteil ausgelegt wurde. Es mindert seine Bedeutung nicht im Geringsten. Er starb als Verfemter, keine Woche vor seinem 80. Geburtstag, zwei Monate vor dem Ablaufen seines Auftrittsverbotes.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Er war schon eine außergewöhnliche Persönlichkeit! Bei Mahlers 4. hält man sich wirklich vor Lachen den Bauch - bei Mengelberg spürt man wie bei sonst niemandem, dass das eine Humoreske ist. Aus anderen Gründen losgelacht habe ich bei seinem Franz von Suppe - schmissige Unterhaltungsmusik von Mengelberg aufgebläht mit deutschem Tiefsinn a la Wagner. Unglaublich kitischig! :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Mengelberg war ein Gigant. Er erinnert mich am ehesten an Furtwängler, ohne zur bloßen niederländischen Kopie zu verkommen. Egal, was ich von Mengelberg höre, alles klingt anders als bei den anderen. Neulich die "Tannhäuser"-Ouvertüre. Wer das Phänomen Mengelberg kennenlernen will, möge sich seine 9. Symphonie von Beethoven zu Gemüte führen. Sicher eine der extremsten Deutungen aller Zeiten. Allein wie er die letzten Takte in der Coda bringt — genial. Es gibt auch die anderen acht Beethoven-Symphonien in erstaunlich guter Tonqualität. Vergessen ist er für mich in keiner Weise. Einer der ganz, ganz großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts, der von seinem Zugang her tatsächlich eher ins 19. gepasst hätte. Im Jahr der Reichsgründung, 1871, geboren, zog ihn das Deutsche Reich auch in dunkelsten Zeiten an, als es sich "großdeutsch" wähnte, was ihm nach dem Kriege zu seinem Nachteil ausgelegt wurde. Es mindert seine Bedeutung nicht im Geringsten. Er starb als Verfemter, keine Woche vor seinem 80. Geburtstag, zwei Monate vor dem Ablaufen seines Auftrittsverbotes.


    Man kann Mengelberg in der Tat kaum hoch genug einschätzen. Politisch war er -wie viele Künstler seiner Zeit- von einer erheblichen, kaum nachvollziehbaren Naivität. So fragte er allen Ernstes in den Dreißigern bei einem Auftritt mit den Wiener Philharmonikern erstaunt, warum in Deutschland nicht mehr Mahler aufgeführt würde!
    Bei seinen Gastorchestern war er übrigens als "Dauerredner" gefürchtet, der die Probezeit für langatmige Vorträge über das aufzuführende Werk verstreichen ließ.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Ihr Lieben!
    Zunächst herzlichen Dank für Euer Interesse an einem Ausnahmekünstler, der heute so fern erscheint.


    Mengelbergs Naivität in politischen Dingen wage ich nicht zu beurteilen. Eine ohnehin heikle Angelegenheit, heute Urteil zu fällen über soviel Blauäugigkeit- ohne sich selbst zu hinterfragen:
    was täte ich?
    Eine poltisierende Diskussion über ihn, über Furtwängler, Böhm, Karajan etc. wollte ich nicht anregen.
    Mutmaßungen.


    Ganz konkret dagegen: Er und Brahms waren beinahe Zeitgenossen.
    Sein Brahms könnte uns heute einen Eindruck verschaffen, wie der Komponist sein Werk zu hören wünschte.


    Wenn ich's aber recht bedenke: eigentlich geht es immer auf's selbe raus: flexible Tempi, die thematisch verpflichtet sind.
    Romantsich ja, sentimental nie- anders als später Bernstein, Teleton, verzeih mir.
    Klang blüht von innen, nicht von außen.


    Wer kennt Mengelbergs Brahms und kann das besser in Worte fassen als ich, der immer nur hört und empfindet: "So muss das sein"?


    Über "seine ""Matthäus-Passion" sollten wir gesondert schreiben?


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Es scheint so, als sei Mengelberg der Dirigent des in der "Deutschen Wochenschau" verwendeten "Les Préludes" von Liszt. Das jedenfalls legt mir ein Hörvergleich nahe, den ich jüngst machte. Die Tempoverlangsamung am Ende ließ mich zunächst an Furtwängler oder Knappertsbusch denken, doch ließ sich das nicht verifizieren.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões


  • Die Aufnahme scheint tatsächlich bereits 1929 mit dem Concertgebouw-Orchester entstanden zu sein und ist geradezu brillant gelungen. Für das extrem hohe Alter ist die Tonqualität durchaus sehr akzeptabel. Wieso gerade diese Aufnahme für die Wochenschau ausgewählt wurde, entzieht sich indes meiner Kenntnis. Entweder hatte man tatsächlich ein gutes Ohr für eine außerordentliche Aufnahme oder aber wollte man die (naive) politische Haltung Mengelbergs gouttieren.


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Ach, menno, jetzt doch diese politsche Komponente.
    Wir wissen doch einfach gar nichts über die Beweggründe, die Mengelberg veranlassten, so naiv zu sein; nicht über die Goebbels, nun gerade diese Aufnahme ausgewählt zu haben.
    Kann man Mengelberg- ich wiederhole mich- wie auch Furtwängler, Böhm, Karajan, nicht auch an ihrer musikalischen Leistung ermessen?


    Ich widerspreche mir ja selbst, dessen bin ich mir bewusst.
    Im Bereich der "Alten Musik" bin ich dafür, nicht allein die Noten zu spielen, sondern das Umfeld einzubeziehen.
    Wie ist Musik Abbild der damals herrschenden Kultur? ist eine der Fragen, die mich bei "HIP" immer wieder beschäftigt.


    Vielleicht haben wir den Abstand (noch) nicht, derart gelassen mit einer Vergangenheit umzugehen, in die Mengelberg gehört?
    Weder Deutsche noch Österreicher haben den Nationalsozialismus wirklich verarbeitet, zuviel wurde und wird verdrängt.
    Das jetzt aber an Musik festmachen zu wollen liegt mir fern.
    Das wäre Aufgabe der Politik, die nun gerade in Deutschland lieber ein Rot-Rot-Grün diskutiert.


    In diesem Thread wollte ich auf musikalische Lesarten hinaus, nicht auf politische und Mutmaßungen.
    Vielleicht suche ich zu trennen, was sich nicht trennen lässt.
    Und doch! Wie gelingt es Mengelberg, einen "Schmachtfetzen" wie Bruchs erstes Violinkonzert so subjektiv romantisch musizieren zu lassen ohne dabei je sentimental zu werden?
    Tschaikowskis Streicherserenade ebenso wie eben "Les Preludes".
    Der Threadtitel allein bat um Sachlichkeit, bei aller Subjektivität.


    Über Goebbels, Hitler und Co. mögen wir andernorts sprechen. Und dann das Zentrum der Unterhaltung anders setzen, an das auch Mengelberg angrenzend gehört.
    Hier wollte ich über über seine Art zu musizieren schreiben und lesen, nicht über die Wochenschau von vor sechzig Jahren- so aktuell die Auseindersetzung damit auch ist.
    Um zurückzukehren, antworte ich sehr persönlich.
    Ich war damal acht Jahre alt, als im Radio Mengelbergs Aufnahme der "Matthäus-Passion" gesendet wurde.
    Für mich eins der erschütterndsten Erlebnisse überhaupt. Ich habe ja damals nicht eine Note verstanden, doch fand mich meine Mutter erst nach langem Suchen wieder. Ich hatte mich weinend unter dem Sofa verkrochen. Die Gewalt dessen, was ich dort hörte, hat mich körperlich gefangen genommen wie Musik später nur noch selten.


    Das ist vierzig Jahre her, doch werde ich den Eindruck niemals vergessen, den diese Musik auf mich hatte.
    Niemals mehr habe ich so befreiend geweint- geheult und geschluchzt- wie damals.
    Keine Musik ging mich je im Leben mehr an als diese alte Aufnahme.
    Haltet mich für infantil, auch heute schmerzt mich Mengelbergs Bach und ich rolle mich zusammen wie ein Baby, höre ich diese Aufnahme. Nur am Daumen nuckle ich nicht mehr, sonst aber ist diese Aufnahme so existenziell für mich wie damals.


    Zwanzig Jahre später wird das nicht anders sein, nur dass ich dann vielleicht wieder am Daumen nuckeln werde beim Hören dieser Aufnahme von 1939.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Was ist so schlimm daran, dass diese "politischen Komponente" ins Spiel kommt? Das muss doch sein. Sie macht Mengelberg als Dirigent nicht kleiner und nimmt ihm nichts von seiner Bedeutung, die auch ich sehr zu schätzen weiß. Wer auf ihn zu sprechen kommt, der kann doch nicht erwarten, dass ein bestimmter Teil seines Lebens und Wirkens ausgeblendet wird. Diese etwas unappetitlichen Dinge kleben an ihm, gehören dazu. Wird anders verfahre, schießen die Mutmaßungen erst recht in die Höhe. Offenheit und Gelassenheit sind immer angeraten. Es bleibt nun mal eine gesicherte Tatsache, dass Mengelberg mit Deutschland, das sein Heimatland, die Niederlande, besetzt hatte, wohlwollend zusammenarbeitete. Das galt nach dem Krieg als schlimmes Verbrechen. Er büßte hart dafür.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Hinzu tritt noch, daß die Zusamenarbeit mit den bösartigen Besetzern des eigenen Heimatlandes noch eine ganz andere Bedeutung hat als die mehr oder weniger naive, indifferente oder auch auf den eigenen Vorteil bedachte Kooperation mit dem gleichen Regime in Deutschland durch Deutsche. Daß die Niederländer Mengelberg nach dem Krieg in Acht und Bann getan haben, erscheint mir nach den dort begangenen Besatzungsgreueln nachvollziehbar zu sein, auch wenn jemand wie Mengelberg natürlich nicht in irgendeiner Weise als "Täter" selbst im weitesten Sinne zu bezeichnen ist und die Geschichte der Kollaboration in den von Deutschland besetzten Gebieten auch sehr verspätet und z.T. noch unvollständig historisch aufgearbeitet worden ist.


    Sehr bedauerlich ist es aus meiner Sicht, daß auf die künstlerische Leistung dieses außergewöhnlichen Dirigenten zwangsläufig ein Schatten fällt.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Die politische Komponente völlig zu unterschlagen, erscheint auch mir im Falle Mengelberg nicht adäquat, will man sich ganzheitlich mit diesem herausragenden Dirigenten beschäftigen. Lässt man die Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus gänzlich bei Seite, wird man sein Nicht-mehr-in-Erscheinung-Treten ab 1945 nicht verstehen können. Man könnte fast sagen, der Dirigent Mengelberg starb bereits 1945, auch wenn er physisch noch sechs Jahre weiter existierte. Ich meine auch, Mengelberg hat wirklich genug dafür gebüßt für seine Haltung in diesen dunklen Jahren. Faktisch wurde ihm ja nach Kriegsende sein Ein und Alles von heute auf morgen genommen. In seiner Heimat galt er nach dem Kriege als Kollaborateur, wenn nicht als Vaterlandsverräter. Damit tut man ihm aber insofern unrecht, als er eben gar kein Nazi war. Er setzte sich nachweislich für Juden ein und führte noch während des Krieges Mahlers 1. Symphonie auf. Das wurde ihm indes nicht zu Gute geschrieben. Man könnte fast sagen, dass Mengelberg viel härter bestraft wurde als diverse andere Dirigenten, die deutlich überzeugter vom Dritten Reich waren und danach trotzdem noch große Karriere machten (auch wenn man es ungern hören wird, aber Karl Böhm ist hier ja ein Paradebeispiel). Womöglich lag dies daran, weil Mengelberg selbst Niederländer war und sein Land in der Besatzungszeit nichts zu lachen hatte. Man darf Willem Mengelberg jedenfalls nicht in eine Reihe mit überzeugten Nationalsozialisten wie dem Dirigenten Leopold Reichwein (der sich 1945 durch Suizid das Leben nahm) oder dem Sänger und Intendanten Wilhelm Rode stellen. Diesen war er auch künstlerisch weit überlegen. Vielleicht ist es aber nicht nur der "altertümliche" Stil Mengelbergs und die teilweise historische Tonqualität seiner Aufnahmen, sondern eben doch auch diese unschöne Verbindung mit dem NS-Staat, die seine Fan-Gemeinde auch in diesem Forum überschaubar macht.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • An dieser Stelle möchte ich noch einmal eine Lanze brechen für Mengelberg, und zwar für seine Live-Aufnahme der 1. Symphonie von Johannes Brahms vom 13. April 1943 aus Amsterdam. Subjektiver kann man dieses Werk wohl schwerlich dirigieren, und dennoch kann man sich der Magie kaum entziehen. Das beginnt beim ersten Takt und hört beim letzten auf. Die Spielkultur des Concertgebouworkest schon damals, vor 72 Jahren, Weltklasse. Wieviel das heute weltbeste Orchester diesem Mann wohl zu verdanken hat? Für mich ist und bleibt er der größte Chefdirigent der Amsterdamer. Da weht mehr als ein Hauch 19. Jahrhundert ins 21. herüber: So könnte es auch zu Brahms' Zeiten geklungen haben. Mengelberg, geboren 1871, war immerhin bereits 26 Jahre alt im Todesjahr von Brahms. Pathos wie aus einer anderen Zeit. Etwa an der Stelle kurz vor der weltberühmten Melodie im Finalsatz, wo Mengelberg die Pauken so lange und unerbitterlich niederdonnern lässt, als dräute der Weltuntergang. Ganz großes Kino!

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões


  • HIP?
    "Klangrede" oder rhetorische Elemente sind er der Tat präsent in dieser Interpretation von Mahlers 4. Kontraste werden stets hevorrgehoben, dies gilt gerade auch für die Tempokontraste, die gegenüber Mahlers Vorgaben beinahe immer geschärft werden.


    Schon ganz am Anfang wird das "etwas zurückhaltend" der Violine in Takt 3 zu einem überdeutlichen Ritardando. Dies wiederholt sich in Takt 17, wo Mahler überhaupt keine Tempverzögerung vorgibt. Dergleichen mag willkürlich wirken oder anmassend, der Sinn erschliesst sich jedenfalls erst am Ende des Satzes - die Fermate der Geigen am Beginn der Coda wird bereits im Satzanfang "antizipert" .Überhaupt gelingt Mengelberg hier immer wieder das Schlagen weiter und multipler Bögen, besonders im zweiten Satz, wo völlig divergierende Episoden trotz interner Kontrastschärfung zu Einheiten zweiter oder dritter Ordnung zusammengefasst werden. Hier ebenfalls überdeutlich: "Freund Hein" an der Solovioline, der auch die völlig herausfallenden Schellen im Finale zu schlagen scheint (in keiner anderen Interpretation ist dieser 4. Satz so bösartig). Ziemlich differenziert die Artikualtion im 3. Satz, ähnliches gilt für den agogischen Umgang mit den Variationsthemen oder der klanglichen Gestaltung der "Epiphanie".



    Jedenfalls etwas ganz Anderes als die harmlosen Interpretationen des anderen Mahler-Adlatus - Bruno Walter. Der erscheint mir hingegen überzeugender in der "Pastorale" (Wien 1936). Mengelbergs zeitnahes Pendant dürfte aus guten Gründen seine berühmteste Beethoven-Aufnahme sein; beiden Dirigenten gelingen erhellende Momente, doch vermag Walter dies mit geringeren "Partiturkosten" zu erreichen. So aufmerksam und rücksichtsvoll wie mit Partiturangaben der Zeitgenossen Mahler oder Strauss geht Mengelberg mit Vorlagen älterer Komponisten nicht um . Was bei Beethoven oder Brahms nicht in "seinen Kram" passt, wird oft komplett ignoriert. Und die subtile, mehrdimensionale, fein ziselierte Detailarbeit, die etwa Brahms Polyphonie und Metrik widmete, war und ist nun einmal kein Selbstzweck, sondern integraler Bestandteil des Werks.


    Insofern vemag ich mich Melante an diesen Punkten nicht anzuschliessen. Was die Qualität des Concertgebouworkest betrifft: hört man sich die o.g. alten Aufnahmen von Beethovens 6. an (+Weingartner), wird deutlich, dass die namhaften Vorkriegsorchester eine wesentlich höhere technische Qualität aufwiesen, als ihnen heute oft zugebilligt wird. Dennoch wollte ich das gegenwärtige Amsterdamer Ensemble nicht gegen Mengelbergs eintauschen...


    Bezeichnend für Mengelbergs Mahlersicht ist auch das Adagietto aus der 5. Starke Portamenti, abwechslungsreiche Phrasierung, lebhafte Agogik, zugleich straffere Tempi als sie der bereits eilende klavierrollende Komponist anschlägt...


    /2HQpJdORX6w



    Einen Blick in vergangende Musizierwelten gewährt Mengelberg, wenn er auf Solisten trifft, die am gleichen Strang ziehen. Wie etwa den fast achtzigjährigen Wilhelm von Sauer, der damals schon als ein Relikt einer vergangenen Epoche erschienen sein muss.
    Unverständlich, dass dieses Dokument so ungleich weniger bekannt ist als die zeitnah entstandene Aufnahme von Fischer und Furtwängler.
    /kLp4xzC88vU

  • Lieber Gombert,
    herzlichen Dank für Deine Zeilen- in denen Du mir gar nicht widersprichst.


    Ironisch: das damailge Orchester möchte ich auch nicht tauschen gegen das heutige. 200- Jahre alte Geiger sind auch nach meinem Geschmack nicht.
    Ansonsten aber: Deinem Plädyer für Mengelberg, mit all seinen Besonderheiten, danke ich Dir.
    Besonders für Deinen Mut, der mir abging, Bruno Walters Mahler als harmlos zu bezeichnen.


    Letztlich hast Du weitaus deutlicher zum Ausdruck gebracht, was ich eigentlich ansprechen wollte.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose