Sans souci - Die klassische Sinfonie und ihre missratenen (?) Nachfahren

  • Nein - Mit dem Schloss Sanssouci hat dieser Thread eigentlich nichts - oder zumindest nicht viel zu tun, vielleicht ein wenig in Bezog auf den Wortsinn: Ohne Sorgen. Aber auch das nur im übertragenen Sinne des Wortes. Es geht hier um die Frage, warum dein Musikfreund eigentlich eine Sinfonie (oder meinetwegen auch ein Konzert) hört. Aber in wirklichkeit geht es hier vor allem um die Sinfonie. Ich gehe von der Annahme aus, daß Sinfonien der Klassik und Frühklassik - bis hin zur frühen Romantik - aber oft auch später - dazu gedacht waren den Hörer zu "unterhalten" - im Sinne von "positive Gefühle erzeugen"
    Und das ist im Grunde auch mein Ansatz: Wenn ich ein Klassisches Konzert besuche, dann möchte ich es mit einem Gefühl der Freude bzw in gehobener Stimmung wieder verlassen. Das funktioniert bei allen klassischen Sinfonien - inklusive jenen von Beethoven recht gut. Im späteren 19. Jahrhundert kam dann eine Vorliebe für gespenstische Szenerien auf, die man in Sinfonien verpackte. Die Krönung aber war das 20. Jahrhundert (vom 21. kenne ich nichts -und will es auch nicht kennen). Düstere Sinfonien mit angeblichen Kriegsszenarien, über Elend und Tod breiteten sich allmählich aus. Wir kennen sie alle von Tonträger her. Inwieweit sie Konzertsäle zu füllen vermochten, das kann ich nicht wirklich beantworten - aber die Frage ist eher nach dem WARUM ? Warum geht jemand, nachdem er sich den Ganzen Tag mit der sogenannten Menschheit ärgern musste, abends in ein Konzert, wo ihm oft wenig klangschön, das Leid der Welt oder ihre Bösartigkeit vor Augen - äh Ohren geführt wird ? Als (eher harmloses) Beispiel sei hier die Sinfonie Nr 10 von Schostakowitsch genannt, die ja angeblich eine Abrechnung mit einem Regime sein soll. Wenn man bedenkt welch einen Skandal Strawinskys vergleichsweise harmloses "Le Sacre du printemps" einst verursacht hat........


    Das sollte für den Anfang mal reichen.......(?) Steinigt mich !!!!! :untertauch:


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • "Unterhalten" sich Menschen nicht auch seit Jahrhunderten mit Tragödien, Schauergeschichten oder heute Krimis oder Thrillern? Die meisten Opern sind auch keine Komödien und da wundert sich schon ziemlich lange niemand mehr drüber, oder? Warum sollte das in der reinen Instrumentalmusik so viel anders sein?

    Wie sollte man einige von Haydns um 1770 komponierten Sinfonien einordnen, wenn man als Vorgabe nimmt, dass Menschen unterhalten und positiv gestimmt werden sollen? Die wurden für einen Fürstenhof komponiert, es gibt also kaum eine Möglichkeit hier außermusikalische "revolutionäre" Programme oder so etwas zu sehen. Aber anscheinend fühlte sich das dortige Publikum durch stürmische Moll-Sätze, kontrapunktische Verwicklungen und seufzergetränkte langsame Sätze unterhalten. (Diese Stücke, etwa die Sinfonien 39,44,45,49 enden auch, wie Mozarts zwei Moll-Sinfonien, in Moll, man kann also auch nicht von einem "guten Ende" sprechen.)
    Menschen lieben anscheinend die Erfahrung emotional aufgewühlter Musik, vielleicht, weil es "nur" Musik ist. Man ist ja nicht wirklich in Gefahr, Liebeskummer, Trauer usw. Zwar ist das offensichtlicher in Vokalmusik, besonders der Oper. Aber es gibt spätestens seit Dowlands "Lachrimae" sehr emotionale (und zwar "negative", also melancholische und traurige) reine Instrumentalmusik.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Als (eher harmloses) Beispiel sei hier die Sinfonie Nr 10 von Schostakowitsch genannt, die ja angeblich eine Abrechnung mit einem Regime sein soll.


    Ob die 10. von DSCH eine Abrechnung mit dem Stalinregime ist oder nicht, ist mir letztlich egal. Ich nehme das zur Kenntnis und kann es an einigen Stellen auch hörend nachvollziehen, aber das ist sicher nicht der Grund, warum ich diese Symphonie so mag. Die Musik gefällt mir einfach, genauso wie die 3. von Gustav Mahler, die ich gerade gehört habe, das sind absolute Lieblingssymphonien von mir. Das ist Musik, die mich emotional total anspricht.

  • Auch wenn ich in einem Konzert eine Bruckner-Sinfonie gehört habe, nehmen wir die Achte oder die Neunte, die ich besonders häufig live erlebt habe, mit ihren hochdramatischen, teilweise dissonaten Steigerungen (Günter Wand sprach in einer Steigerung in der Neunten von einem "furchtbaren Schrei"), gehe ich nach entsprechender Interpretation mit großer Freude und gehobener Stimmung aus dem Konzert (wie vor einigeen Wochen nach der Siebten Bruckner in Köln mit dem WDR-Sinfonieorchester unter Jukka-Pekka Saraste.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hier kann man auf Mahlers Credo hinweisen, daß eine Sinfonie die "ganze Welt" darstellen solle. Zu dieser zählen nun auch die -leider oft im Vordergrund stehenden und bedrängenden- unerfreulichen Aspekte. Wie schon Schopenhauer meinte: "das Leben ist eine missliche Angelegenheit und ich habe mich entschlossen, das meine damit zuzubringen, über dasselbe nachzudenken."
    Es ist gewiss so, daß man manchmal für bestimmte musikalische Ereignisse nicht die nötige Aufmerksamkeit aufbringen kann, weil man den Kopf nicht "frei" hat; dies ist bedauerlich, wenn man gerade an einem solchen Tag Karten für ein gutes Konzert hat.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

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  • Sozialhistorisch sollte man vielleicht noch anmerken, dass die längste Zeit das Publikum für klassische Musik sich hauptsächlich aus Angehörigen der sog. "leisure class" rekrutierte. Die gingen nicht zur "Entspannung nach langem Arbeitstag" ins Konzert. Daher kann man kaum argumentieren, dass diese Funktion im 18. oder 19. Jhd. eine oder gar die zentrale "Aufgabe" der Musik gewesen wäre. Sicher hatte der Fürst Eszterhazy auch Stress und Barytonspielen oder Haydn-Sinfonien anhören mag auch zur Stressbewältigung gedient haben. Aber mit den Arbeits- und Freizeitstrukturen des 20./21. Jhds. sollte man hier nicht herangehen, das kann nur zu verzerrten Vorstellungen führen.

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  • freude und gehobene Stimmung, nun ja, ich weiß nicht, ob das z.B. bei Bruckners 7. wirklich so ganz treffend ist. Denn es ist ja schon auch so, dass besonders traurige Musik Mut machen kann. Aber ich weiß natürlich, was Alfred meint. Die Erklärung ist vielleicht die Erklärung für Geisterbahn- oder Achterbahnfahren oder Horrorfilme. wir erleben schreckliche Momente, überleben sie und freuen uns darüber. Wenn also Musik die entsprechenden Gefühle hervorrufen kann, kann sie wohl auch dieses ERfolgserlebnis hervorrufen. Wir fühlen uns gewappneter als vorher.
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich gehe von der Annahme aus, daß Sinfonien der Klassik und Frühklassik - bis hin zur frühen Romantik - aber oft auch später - dazu gedacht waren den Hörer zu "unterhalten" - im Sinne von "positive Gefühle erzeugen"


    Diese Annahme bedarf der Korrektur.
    Die "Militärsymphonie" (Nr.100) von Joseph Haydn, erzeugte bei ihrer Aufführung in London Gefühle von kriegerischen Auseinandersetzungen, die durch das Eingreifen Englands in die Kämpfe zwischen Frankreich und Österreich verstärkt wurden. Das damalige Londoner Publikum ging sicher nicht mit positiven Gefühlen aus dem Konzertsaal.
    Mozarts 40.Sinfonie ist ein dramatisches Werk zwischen Hoffnung und Verzweiflung, das den Hörer berührt und mitleiden läßt.
    Selbst Beethovens 3. Symphonie "Eroica" und die 5. Symphonie "Schicksalssymphonie" erzeugen nicht nur positive Gefühle.

    mfG
    Michael

  • Zitat

    Sozialhistorisch sollte man vielleicht noch anmerken, dass die längste Zeit das Publikum für klassische Musik sich hauptsächlich aus Angehörigen der sog. "leisure class" rekrutierte. Die gingen nicht zur "Entspannung nach langem Arbeitstag" ins Konzert.


    Das ist einerseits ein guter Einwand - andrerseits hilft er mir meine These weiter zu untermauern. Denn gerade diese Gesellschaftsschicht wäre nicht bereit gewesen, sich mit den "dunklen Seiten des Lebens" überhaupt auseinanderzusetzen.
    Musik diente dem Amusement, aber noch viel mehr der Glorifizierung des jeweiligen Dienstherrn. Das ging so weit, daß man Messen zum "Lobe und Preise Gottes" bestellte - aber in Wirklichkeit meinte man sich selbst.


    Bei den Sinfonien war vermutlich Schostakowitsch ein schlechtes Beispiel, da er ja doch noch irgendwie der Tradition verpflichtet ist - wenngleich nur ein wenig.


    Am eigentlichen Thema ändert das indes wenig.


    Ich habe allerdings sehr viel gelernt seit ich dieses Forum verwalte. Nämlich, daß es in der Tat Leute gibt, die "unangenehme" Musik freiwillig hören (oder sie vielleicht gar nicht als "unangenehm empfinden") Meine Mutter meint indes, dieses *Xxxxxxx-Forum habe meinen Geschmack verdorben, ich hörte ausschliesslich *Xxxxx) Diese "Musik" könne niemandem wirklich gefallen - und am wenigsten mir.
    Das kann ich nicht ehrlich beantworten. Prinzipiell stimmt das - Indes stapeln sich an de 250 Cds mit solcher Musik (bei 1960 ist dann Schluss !!) in meinen Regalen, mehr als die Hälfte davon ist bereits gehört, manches mehrmals. Ich würde es nicht als Liebe zu dieser Musik sehen, sondern als "Interesse" - manchmal gibt es allerdings auch positive Überraschungen, dann wird aus "Interesse" "Faszination".....


    Als Buße habe ich mir verordnet, meine Schostakowitsch-Sammlung komplett - oder zumindest teilweise durchzuhören und alte Threads aufzufrieschen - vielleicht gibt sogar einen "allgemeinen Thread" wo über den Zugang der einzelnen diskutuert werden kann....


    mit freundlichen GRüßen aus Wien
    Alfred



    (*Zensur -nicht widerzugebenes Wort - noch dazu aus dem Mund eine veritablen Dame, die es auch NIE in der Öffentlichkeit benutzen würde.....)

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Man sollte auch nicht vergessen, daß Musik stets eine eminent politische Angelegenheit gewesen ist, wofür gerade Schostakowitsch ein gutes Beispiel darstellt (sowjetische Formalismusdebatte, komponieren unter Angst und Lebensgefahr etc.).
    Der Begriff "leisure class" impliziert ja nicht, daß die Angehörigen dieser Gesellschaftschichten nicht gearbeitet hätten; sie übten nur keine anstrengenden körperlichen Arbeiten aus und pflegten einen distinguierten Lebensstil, anfänglich als Kopie des Adels, später auch mit eigenen, genuinen Sitten und Gebräuchen. Hier diente die Musik und insbesondere das Konzertritual, das nicht zufällig in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine heutige Form erreichte -nämlich mit der Blütezeit des gesellschaftlichen und politischen Liberalismus- der gesellschaftlichen Bestätigung und Befestigung des entsprechenden Status.
    Das Musik- und Konzerterlebnis diente also nicht nur der Erholung und dem Amusement, sondern stellte in nahezu ebenso wichtigem Ausmaß "gesellschaftliche Beziehungsarbeit" dar, was ja, wie wir alle aus Erfahrung wissen, oft alles andere als erholsam ist!
    Auch die fürstlichen Auftraggeber der Komponisten und Instrumentalisten im 17. und 18. Jahrhundert waren nicht nur auf ihr persönliches Vergnügen aus, sondern betrachteten fürstliche Repräsentation als notwendige Abgrenzung gegenüber den Interessen der jeweils konkurrierenden und teilweise feindlichen Standesgenossen, nach dem an sich sehr einfachen Prinzip: "wer sich solch ein Schloß leisten und solche Feten in seinem Riesenpark veranstalten kann, und dies ständig, hat offenbar eine erhebliche ökonomische Potenz, und wir tun gut daran, uns nicht mit ihm anzulegen."
    Aus diesem Grunde scheute Friedrich der Große auch nicht davor zurück, nach den Verwüstungen des Siebenjährigen Krieges in Potsdam das Neue Palais bauen zu lassen, obwohl dieses die Preußischen Staatseinnahmen eines ganzen Jahres verschlang, denn er musste seinen missgünstigen Nachbarn zeigen, daß mit Preussen als Großmacht weiter zu rechnen sein würde.
    Man muß einfach akzeptieren, daß auch die Musik in vielerlei Weise in einem an sich außermusikalischen Kontext in Dienst genommen wurde, und es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Komponisten in ihren Werken wiederum darauf reagiert haben.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

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  • Das ist einerseits ein guter Einwand - andrerseits hilft er mir meine These weiter zu untermauern. Denn gerade diese Gesellschaftsschicht wäre nicht bereit gewesen, sich mit den "dunklen Seiten des Lebens" überhaupt auseinanderzusetzen.
    Musik diente dem Amusement, aber noch viel mehr der Glorifizierung des jeweiligen Dienstherrn.


    Das ist doch schlicht nicht richtig. Musik diente unter anderen Dingen auch dem Amusement und der festlichen Gestaltung politischer Ereignisse. Und ein Fürst stellte sich nicht mit einem Künstler, der fantasielose Glorifizierung betrieb (Haydn ist NICHT durch Begrüßungs- und Geburtstagskantaten europaweit berühmt geworde, obwohl es die auch gibt), sondern mit einem originellen und fantasievollen Künstler, der weit bekannt und geschätzt wird, in ein besonders günstiges Licht.


    (In einer Zeit ohne moderne Medizin und mit verbreiteter starker Religiosität setzten sich fast alle Menschen, selbst die Fürsten, vermutlich zwangsläufig weit intensiver mit den dunklen Seiten der Existenz auseinander als wir im 21. Jhd.)


    Musik diente zB auch für Trauerfeierlichkeiten und als Kirchenmusik setzt sie sich eben auch mit diesen "dunklen Seiten" auseinander. Ebenso in der Oper. Selbst wenn es meist eine Art Happy End gab, sind die meisten bekannten Opern keine Komödien. Die erste berühmte Oper, L'orfeo hat kein wirklich positives Ende; Orpheus erhält Eurydike nicht zurück (steigt allerdings zum Olymp auf).


    Die Menschen haben seit Jahrtausenden ein großes Interesse durch spannende und tragische Geschichten "unterhalten" zu werden. Sie schreiben Gedichte und Lieder, um Trauer, Liebeskummer, Melancholie etc. auszudrücken und zu verarbeiten. Warum sollte das in der Musik grundlegend anders sein? Wenn es in Literatur und Theater so wäre, gäbe es hauptsächlich Witze, Schwänke, Komödien. Seit jeher spielen diese aber in der "Hochkultur" eher eine untergeordnete Rolle. Wenn, dann oft durch Einflüsse der "Volkskultur", die aufgesogen werden.


    Der institutionelle Rahmen einer Hof- oder Kirchenmusik hilft uns doch kaum weiter. Er hat offensichtlich stark unterschiedliche Musik hervorgebracht, denn bis etwa 1800 war die meiste Kunstmusik Hof- oder Kirchenmusik. Es ist doch nicht richtig, dass Musik bis zum 19. Jhd. normalerweise leichte Unterhaltung gewesen wäre. Es gibt zwar eine Entwicklung der Aufwertung reiner Instrumentalmusik, so dass beim späten Haydn eine Sinfonie beinahe die Hauptattraktion eines Konzerts sein konnte und auch als "erhaben und dramatisch" wahrgenommen wurde. (Alle Konzerte Haydns in London hatten aber noch Vokalstücke und Konzerte auf dem Programm.) Und als die Instrumentalmusik, besonders die klassische Sinfonie, einmal diesen Status erreicht hatte, ergab sich beinahe umgehend die Idee, dass es sich hier um viel mehr als bloße Zerstreuung handelte. Nämlich um ein ekstatisches Erlebnis, ein Erleben des Unendlichen (wie in Hoffmanns Rezension von Beethovens 5. Sinfonie deutlich wird). Wir haben ja auch genügend Anekdoten wie Beethoven Zuhörer behandelt hat, die seiner Musik nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit schenkten.

    Und Schostakowitsch steht natürlich in dieser Tradition, wenn er erhabene Gefühle über ein tragisches oder historisch wichtiges Ereignis (wie in den Sinfonien 11 und 12) auslösen will (selbst wenn jemand wie Hoffmann vermutlich Einspruch gegen die Programmatik erhoben hätte, Berlioz vermutlich nicht).


    Du überträgst Dein anscheinend sehr einseitiges Verständnis von Musik als Zerstreuung und Amusement auf Musik, auf die es nicht passt, und unterstellst, dass dieses Verständnis historisch der Normalfall gewesen wäre. Und wunderst Dich dann, wenn das nicht hinkommt. Abgesehen davon, dass Zerstreuung eben noch lange nicht festlegt, wie genau die Musik aussehen sollte (denn 1400 am Hof zu Burgund klang sie anders als 1590 in Florenz, 1680 in Versailles oder 1760 in Eisenstadt), war das normalerweise immer nur ein Aspekt von Musik unter anderen.


    Romane waren im 18. und 19. Jhd. zunächst weitgehend ein "Unterhaltungsgenre", scheel angesehen von Akademikern und Dichtern. Das ändert aber doch nichts daran, dass es sehr bald sowohl literarisch hochstehende Romane gab als auch solche mit tragischem Inhalt und Ausgang. Genauso ließ der Rahmen einer höfische Musik Leistungen wie Bachs Brandenburgische Konzerte oder Haydns "Trauersinfonie" zu, die weit mehr sind als bloßes Divertissement.

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    (Bob Dylan)

  • Ich weiß nicht ob mein Musikverständnis ein sehr einseitiges ist oder ob es mit meiner Geburtsstadt zu tun hat, welche Mahler, Schönber, Webern zwar hervorgebracht hat sie aber nicht wirklich mochte - mal salopp ausgedrückt. Ich weiss, daß hier Widerspruch kommen wird, aber Internetforen sind nun mal anders zusammengesetzt als die Mehrheit des durchschnittlichen Konzertpublikums. Aber natürlich spielt hier auch meine persönliche Neigung, allem aus dem Wege zu gehen was meiner Stimmung schaden könnte eine gewisse Rolle. Im Rahmen der Wiener (und Mannheimer) Klassik finde ich jenes musikalische Umfeld, welches mit meiner Lebenshaltung nicht in Konflikt gerät. Ich sehe klassische Musik als museale Kinst an - und gerade das ist es was mich an ihr fasziniert. Die absolute Isolierung von Problemen der Gegenwart und dem derzeit herrschenden Zeitgeschmack. Und ich bin überzeugt - auch wenn die Zusammensetzung des Klassikforums etwas anderes signalisiert - daß die Mehrheit des sogenannten Klassikpubliums einen rückwärtsgewandten Geschmack hat. (?)


    Einer der Vorteile der klassischen Musik ist ihre relative Unveränderlichkeit (die leider in letzter Zeit ein paar Kratzer abbekommen hat) Wenn wir Haydn hören, so hören wir im Kern noch ziemlich unverändert, das, was schon die Kaiserin Maria Theresia vor 250 Jahren begeistert hat.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich weiß nicht ob mein Musikverständnis ein sehr einseitiges ist oder ob es mit meiner Geburtsstadt zu tun hat, welche Mahler, Schönber, Webern zwar hervorgebracht hat sie aber nicht wirklich mochte - mal salopp ausgedrückt.


    Das mag in Wien so sein, aber in Stuttgart kriegt man die Liederhalle sicher eher mit Mahler voll als mit Mozart oder Bach. Jedenfalls, wenn nicht irgendwelche großen Interpreten dahinter stehen.

  • Zitat

    Das mag in Wien so sein, aber in Stuttgart kriegt man die Liederhalle sicher eher mit Mahler voll als mit Mozart oder Bach. Jedenfalls, wenn nicht irgendwelche großen Interpreten dahinter stehen.


    Das ist sicher ein Kernpunkt - und zugleich ein interessantes Phänomen. Der deutsche Musikgeschmack trifft sich mit dem österreichischen allenfalls bei Beethoven. Ich erinnere mich, daß ich Kritiken in deutschen Klassikzeitschriften "anders" las:
    Wenn hier davon die Rede war, daß "Strukturen freigelegt" oder "neue Sichtweisen erarbeitet" wurde - dann bin ich der jeweiligen Aufnahme konsequent ausgewichen. So ist auch meine stereotype Verabschiedungsformel "mit freundlichen Grüßen aus Wien" entstanden - sie soll die deutschen Hörer darauf aufmerksam machen, daß mein Musikgeschmack anders ist.....


    Ironie des Schicksals ist, daß ich, seit ich dieses Forum verwalte, mehr klassische Moderen (und darüber hinaus) höre als meine "eigentliche" Musik........


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das ist sicher ein Kernpunkt - und zugleich ein interessantes Phänomen. Der deutsche Musikgeschmack trifft sich mit dem österreichischen allenfalls bei Beethoven.

    Ich kann das nicht nachvollziehen. Dass Mahler in Wien einmal nicht beliebt gewesen sein soll, mag ja sein, aber heute ist das sicher nicht mehr der Fall.

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  • Vielleicht können wir ja den Sündenfall historisch ein wenig eingrenzen...


    Zitat

    Wenn ich ein Klassisches Konzert besuche, dann möchte ich es mit einem Gefühl der Freude bzw in gehobener Stimmung wieder verlassen. Das funktioniert bei allen klassischen Sinfonien - inklusive jenen von Beethoven recht gut. Im späteren 19. Jahrhundert kam dann eine Vorliebe für gespenstische Szenerien auf, die man in Sinfonien verpackte.
    [...]
    Düstere Sinfonien mit angeblichen Kriegsszenarien, über Elend und Tod breiteten sich allmählich aus.


    Haydn: "Trauer-Sinfonie" Nr. 44, "La Passione" Nr. 49 (beide um 1770)
    Kraus: Symphonie funebre (anlässlich der Ermordung Gustavs III.) (1792)
    Dittersdorf: La prise de la Bastille (ca. 1790)
    Beethoven: Sinfonia Eroica (1804), "Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria" (1813)
    Schubert: Sinfonie Nr.4 "Tragische" (1816)
    Berlioz: Symphonie funebre et triomphale (1840)
    Liszt: "Heroide funebre", "Hunnenschlacht" (1857), "Von der Wiege bis zum Grabe" (1882)
    Raff: Sinfonie Nr. 5 "Lenore" (1870)
    Draeseke: "Symphonia Tragica" (1886)
    Mahler: "Todtenfeier" (1888, später 1. Satz der 2. Sinfonie)
    Strauss: Tod und Verklärung (1890)


    Bleiben wir am besten bei Sammartini und Joh. Chr. Bach, danach sieht's düster aus!

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  • Das ist einerseits ein guter Einwand - andrerseits hilft er mir meine These weiter zu untermauern.

    Da wird gar nichts untermauert – das Gegenteil ist der Fall, wie ja auch einige der nachfolgenden Diskussionsbeiträge zeigen. Dass Du anscheinend jemand bist, dem es sehr auf Harmonie, Schönheit, Wohlklang ankommt, stellst Du in diesem Forum immer wieder unter Beweis, nicht nur bei der Musik (ich erinnere an Deine Bemerkungen über Chagall – das ist nur beschreibend gemeint und nicht wertend und schon gar nicht psychologisierend). Ich stehe da ja in einer ganz anderen Ecke. Um Arno Schmidt zu zitieren: »Jeder Schriftsteller sollte die Nessel Wirklichkeit fest anfassen und uns Alles zeigen : die schwarze schmierige Wurzel; den giftgrünen Natternstengel; die prahlende Blume(nbüchse)«. Andererseits sagt derselbe Autor ja auch: »Die Welt ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können.«