Nicht genregerechte Ursprungsräume in der Kammermusik - warum?

  • Hallo,


    seit längerem scheint in der Kammermusik eine seltsame Mode zu grassieren: Man nimmt Streichquartette in Kirchen auf. Ich finde dies nicht genregerecht, da Feinheiten in der Artikulation und Phrasierung (also dem Singen und Sprechen auf den Instrumenten) untergehen, die für mich ein wesentlicher Teil von Kammermusik darstellen. Es stellt sich ein eher "sinfonisches" Klangbild ein. Der Hall stört auch die genaue Lokalisation der Instrumente und erschwert daher das polyphone Hören. Es ist nicht leicht, den dreifachen Kontrapunkt ohne optische Hilfe, wie in einem Konzert, mit dem Gehör aufzulösen.
    Ich habe Eberhard Sengpiel gefragt, warum z.B. das Alban Berg Quartett von Johann Nikolaus Matthes in der evangelischen Kirche in Sion aufgenommen wird. Seine Antwort war überraschend: Man wolle Fehler im Spiel überdecken. Das finde ich unnötig, ich erwarte von Musikern keine Perfektion. Falsche Noten können schonmal vorkommen und wenn die Intonation etwas unrein ist, ist sie eben etwas unrein. Vor einiger Zeit hörte ich z.B. Leonie Rättig im kleinen Sendesaal des NDR in Hannover. Sie spielte wunderbar musikalisch, aber einige falsche Noten waren dabei. Das ist nicht schlimm, sie ist vor mir dennoch eine große Pianistin.
    Auch die heute üblichen vielen Schnitte (oft hunderte pro CD) lassen den musikalischen Bogen oft verlorengehen - das Ergebnis ist dann aber sicher frei von Spielfehlern und wirkt perfekt. Durchgespielte live-Aufnahmen gefallen mir meist am besten, auch wenn da mal Fehler drin sind.


    Liebe Grüße


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)

  • Ich vermute, dass mit "Fehlern" hier nicht in erster Linie falsche Töne, sondern minimale Ungenauigkeiten im Ensemble gemeint sind. Noch relevanter dürfte aber sein, dass ein "warmer Klang" von vielen Hörern als angenehmer empfunden wird gegenüber "knochentrockenem" direktem Klang (wie zB beim Juilliard Quartett in den 60er/70ern). Es gibt da anscheinend einfach auch unterschiedliche Vorlieben. In einem Hifi-Forum lästerte jemand ebenfalls über die Halligkeit der MDG-Aufnahmen, anderswo gelten die als "audiophil"...

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich persönlich bevorzuge eher direkter aufgenommene Aufnahmen mit möglichst wenig Raumhall, weil den ja in ausreichender Menge mein Abhörraum vermittelt. Sogenannte "schalltote" Räume sind ja inzwischen wieder aus der Mode gekommen. Ich erinnere mich mit Grauen an die vielgelobten Naxos Aufnahmen der Haydn Streichquartette. Sie wurden in Kirchen aufgenommen und lieferten in meinem Hörraum ein verwaschenes Klangbild. Mit Kopfhörern war das natürlich anders, da konnte man den Abhörraum gut orten. Ein weiterer Einwand meinerseits ist, daß man Streichquartette üblicherweise nicht in Kirchen aufgeführt hat. Naxos ist dann im Laufe der Serie auf ein ungarisches Tonstudio umgestiegen, die meiner Meinung nach die ideale Balance zwischen Raumklang und optimal durchhörbarem Studioklang gefunden haben....
    Warum man in Kirchen aufnimmt ? - Weil sie vermutlich billiger zu haben sind als professionelle Aufnahmestudios...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Johannes,


    In einem Hifi-Forum lästerte jemand ebenfalls über die Halligkeit der MDG-Aufnahmen, anderswo gelten die als "audiophil"...


    Dieser Satz bereitet mir Kopfzerbrechen, weil ich nicht weiß, wie "audiophil" definiert ist. Ich habe bei Wikipedia - einer unzuverlässigen Quelle - nachgeschaut und folgendes gefunden:


    Datenträger (wie Vinyl-Schallplatten, Audio-CDs, Audio-DVDs, SACDs usw.), auf denen außergewöhnlich gut (realistisch) aufgenommene Musikstücke gespeichert sind.


    In diesem Sinne (realistisch) kann beides audiophil sein: Eine Kammermusik-Aufnahme aus einer Kirche oder aus einem trockenen Saal.


    Was MD&G angeht, sind alle mir bekannten Aufnahmen nach meinem Höreindruck nicht audiophil im Sinne von realistisch. Verfärbt (Equalizer), phasig-wolkig-diffus (zu große Mikrofonbasis) oder mit ungewöhnlichen Oberwellen versehen (Exciter oder klirrende Mikrofone). Im Booklet steht eigenartigerweise das Gegenteil - eine Umkehrung.


    Liebe Grüße


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)

  • Das ist eben auch eine Frage der Ästhetik einer Musikdarbietung an sich.
    Die Instrumente der Violinfamilie -wie eigentlich alle akustischen Instrumente- bedürften für mich ganz klar auch des Elementes der Raumakustik. Damit meine ich wohlgemerkt den Aufnahmeraum, nicht das heimische deutsche Wohnzimmer mit Trutzburg-Schrank etc....


    Meine Tochter spielt ja Violine und ich höre jeden Tag, wie sie übt. Das Instrument klingt scharf und relativ unschön, wenn man es mit Aufführungen oder Aufnahmen vergleicht, die in einem Konzertsaal oder einer Kirche gemacht wurden.
    Ähnlich ist es ja auch z.B. mit der Barockblockflöte. Wer einmal eine Telemannfantasie live in einer Kirche gespielt gehört hat, der versteht, wie wichtig die dazugehörige gute Akustik für das Gesamtergebnis sein kann. Bei Orgeln ist es ja ohnehin so. Wenn man in eine Orgel hineingeht, während ein Kollege spielt, dann klingt das meistens unangenehm. Erst im Zusammenspiel mit dem Kirchenraum entwickelt sich die Klangschönheit. Das hat nicht nur rein klangliche, sondern auch musikalisch-interpretatorische Aspekte. Der Musiker spielt ja mit dem Hall eines Raums, stellt darauf seine Artikulation und sein Tempo ein. Selbst auf einer Orgel sind durch gezieltes Früherloslassen von Tasten Glockentonkurven für die Barockmusik mit Hilfe der Kirchenakustik machbar. Für eine Interpretation von Bachwerken oder auch Frescobaldi ist es absolut notwendig, dass man damit umgehen kann.


    Doch zurück zum Streichquartett: Ob man sie nun in einem Dom aufnehmen sollte, ist natürlich schon eine Frage, denn schließlich ist diese Musik eher in Schlössern etc. gespielt worden. Dort kann man auch eine durchaus vernehmbare Nachhallzeit haben, aber natürlich ist es anders als in einer großen Kirche. Wenn man denn die Kirche nimmt, sollte man dann ggf. etwas näher mit den ORTF-Mikros (z.B.) an die Musiker heranrücken. Vielleicht sind dann auch die üblichen Mikros, die nach hinten/oben zeigen (für die Raumakustik) bei einer Stereoabmischung weniger bis gar nicht mehr zu berücksichtigen.
    Auf jeden Fall fällt mir jetzt spontan kein Klassik-Genre ein, dass knochentrocken aufgenommen werden sollte, es sei denn, man will der Aufnahme mutwillig etwas Schlimmes antun. Die Räume, die z.B. eine Fusionband im Studio zum Einspielen nutzt, wären in ihrer nahezu O-Akustik für eine Musik mit echten, akustischen Instrumenten total ungeeignet.
    Ebenso lehne ich die Verwendung von künstlichen Hallfahnen (die es ja bei jeder DAW wie Cubase, aber auch immer noch in Hardwareform a la Lexicon etc. gibt) für die Klassik aus künstlerischen Gründen voll ab. Der Musiker muss sich im Raum befinden, mit ihm spielen und erleben, wie sich der Gesamtklang aus seinem Instrument plus Raumakustik zusammensetzt. Alles andere ist für den Musiker eine Tortur. An Streichquartette, die im Einzelspurverfahren mit Kopfhörern und eingespieltem Lexicon-Hall im Studio sitzen, möchte ich gar nicht denken. So weit ich weiß, macht man so etwas auch nicht.


    Dass man im Klassikbereich tatsächlich mit Excitern arbeiten soll, kann ich mir nicht vorstellen. Eher könnte es sein, dass die Mikro-Vorstufen vom Gain-Setting so eingestellt wurden, dass ihnen nicht genügend Head-Room zur Verfügung stand. Auch hier wäre ich sehr erstaunt, wenn einer Firma wie MDG solche Anfängerfehler unterliefen.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo Glockenton,


    ich stimme Dir aus Erfahrung zu, daß die Wohnzimmerakustik zumindest für einen Flügel ungünstig ist. Der "akustisch kleine" Raum klingt schlecht.


    Ich würde aber für Kammermusik einen trockenen Raum ohne oder mit kaum hörbaren Nachhall wählen. Von der NHZ gut ist z.B. der kleine Saal des NDR in Hannover, leider hat er Diffusoren, so daß zur Erzeugung des für mich erforderlichen Seitenschallgrades seitliche Paravants angebracht werden sollten. Über hintere Paravants muß man nachdenken - ausexperimentieren.
    Das hat Vorzüge: Die Transparenz der Aufnahme ist besser und die Tiefenstaffelung wird ausgeprägter. Über gespreizte Anordnungen von Streichquartetten sollte man nachdenken, also z.B. 1. und 2. Violine 3 m hinter Cello und Bratsche aufstellen. Das erleichtert das polyphone Hören (klare Trennung vorne - hinten - rechts - links). Man sieht das Streichquartett ja nicht beim Anhören einer Tonaufnahme.


    Liebe Grüße


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)