„Das Liedschaffen Max Regers (1873-1916) gleicht auch heute noch einem unentdeckten Lande…“, - mit dieser lapidaren Feststellung setzt das Kapitel „Max Reger“ in „Reclams Liedführer“ ein. Und was im Jahr 1973, dem Erscheinungsjahr dieses Standard-Nachschlagewerkes galt, das kann man im Jahr 2014 getrost für weiterhin gültig erklären. Mit Ausnahme vielleicht einiger Lieder aus den „Schlichten Weisen op.76“ ist das liedkompositorische Werk Max Regers bis heute weitgehend unbekannt geblieben. Und dabei hat es einen durchaus bemerkenswerten Umfang: Reger hat 310 Lieder komponiert, darüber hinaus hat er noch zwei Orchesterlieder, zwanzig geistliche Lieder mit Orgelbegleitung und eine Fülle von Orchestrierungen eigener Klavierlieder und solcher anderer Komponisten hinterlassen.
Das Erstaunliche an diesem Sachverhalt ist: Reger war kein geborener Liedkomponist. Im Grunde seines Wesens war ein orchestral denkender und komponierender Musiker, und man hat seine häufig klaviersatzlastigen und modulationsreichen Lieder abfällig als „Klavierstücke mit Liedbegleitung“ oder „Kammermusik mit obligater Singstimme“ bezeichnet. Schon zu Regers Lebzeiten kritisierte man die „Dissonanzen, die allenfalls zu Mord und Totschlag passen mögen, nicht aber zu einem neckischen Rathe für Verliebte“. Man nahm Anstoß an seiner Gedicht-Auswahl und meinte, weil diese so sehr beliebig sei, bei ihm einen Mangel an literarischer Bildung konstatieren zu müssen. Und schließlich erregte auch der „zu dicke Klavierpart“ Anstoß: Er ersticke die Gesangsstimme, und seine permanente harmonische Modulation mache deren melodische Linie „unsanglich“. Der Musikologe Stephan Krehl stellte 1914 in kritischem Ton fest:
„Man will und vor allem man kann nicht einfach Melodiebildung in der Tonart herstellen. An die Stelle tritt ein unschönes Durcheinander von Tönen.“
Aus heutiger Sicht nimmt diese Kritik ihre Maßstäbe und Kriterien vom Typus des romantischen Klavierliedes, wie er durch Schubert und Schumann maßgeblich kreiert und von Hugo Wolf in seinen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten ergänzt, vollendet und zugleich zur Moderne hin geöffnet wurde. Max Regers liedkompositorisches Dilemma war nun aber, dass er sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts vor die Frage gestellt sah, wie es nun mit dem Lied weitergehen sollte. Und er war darin nicht der einzige Komponist in dieser Zeitenwende hin zur Moderne. Ein Rückgriff auf die Thematik und das kompositorische Instrumentarium des romantischen Klavierliedes war im Grunde nicht mehr möglich. Er musste zum retrospektivischen Nachklang werden und damit den Geist der Zeit verfehlen. Wie aber sollte und musste das neue Lied aussehen?
Vollzieht man das Liedschaffen von Max Reger in repräsentativer Weise chronologisch nach – und das soll in diesem Thread versucht werden – dann stellt es sich als eine einzige Suche nach der Antwort auf diese Frage dar. Sein besonderes Problem war dabei, dass er in seinem Wesen konservativ eingestellt war. Er verehrte als junger Mensch Johannes Brahms, und Hugo Wolf widmete er sogar die zwölf Lieder seines Opus 51. Die Radikalität der Hinwendung zur Moderne als kompromisslose Abkehr vom Prinzip der Tonalität kam für ihn nicht in Frage. „Ein wahrer Fortschritt“, so meinte er, könne in der Musik „nur kommen und erwartet werden … aufgrund der genauesten und liebevollsten Kenntnis derer von gestern.“ Fortschritt könne nur „erwachsen … aus Können, dem Können, welches Leute >von gestern< in ewig vorbildlicher Weise uns zur Nachahmung und Nacheiferung besessen haben.“
In seiner Orchestermusik ging Reger bis an die Grenzen der Tonalität. In seinen Liedern wagte er diesen Schritt nicht. Allesamt bleiben sie, auch wenn sie in der mittleren Phase seines Schaffens harmonisch kühn, z.T. schroff angelegt sein können, dem Prinzip der Tonalität verhaftet. Die ersten Lied-Opera veröffentlichte Reger schon in den Jahren 1891-93, seiner Wiesbadener Zeit (op.4 / 8 und 12). Nach der Rückkehr ins Weidener Elternhaus kamen die Opera 19, 23 und 31 hinzu, die einen starken Einfluss von Hugo Wolf zeigen. Der eigentliche Schwerpunkt von Regers Liedschaffen liegt in seiner Münchener Zeit. 1902 entstanden 36 Lieder, 1903 siebzehn und 1904 mit opus 75 achtzehn Liedkompositionen. Außerdem entstanden in dieser Zeit die ersten „Schlichten Weisen“. Das Opus 75 kann man durchaus als den Höhepunkt von Regers Liedschaffen betrachten. Es folgen noch einige Opera nach: 88 (4 Lieder), 97 (vier Lieder), 98 (11 Gesänge), 104 (sechs Lieder), 142 (fünf neue Kinderlieder und schließlich die „Zwölf geistlichen Lieder“ op.132. Es finden sich darin aber keine wirklich innovativen liedkompositorischen Elemente mehr, wie sie die Lieder der Münchener Zeit durchaus aufweisen.
Man darf wohl, ohne den Wert und die musikalische Substanz von Regers Liedschaffen schmälern zu wollen, feststellen, dass es ihm nicht gelungen ist, eine Liedsprache zu entwickeln, die dem Anspruch gerecht wird, eine Synthese zwischen den traditionellen Elementen des romantischen Klavierliedes und den Anforderungen der musikalischen Moderne zustande zu bringen.
Dabei wollte Reger bei all seiner konservativen Grundhaltung ein durchaus moderner Liedkomponist sein. Der Vorwurf der literarischen Unbildung, der im Zusammenhang mit der scheinbaren Beliebigkeit seiner Textwahl immer wieder erhoben wurde, ist sachlich unbegründet. Seine Gedichte wählte er – mit nur wenigen Ausnahmen - nicht aus dem Bestand der großen deutschsprachigen Lyrik aus, sondern griff zu zeitgenössischer Lyrik. Und dies, weil er sich als Liedkomponist dem Auftrag verpflichtet sah, den literarischen Geist der Zeit mit musikalischen Mitteln aufgreifen und zum Ausdruck bringen zu müssen.
In einem Brief an Anton Gloetzner (vom 25.1.1900) meinte er:
„Unser Weg im Lied ist die denkbar subtilste Interpretation der geheimsten lyrischen Stimmung! – Ebenso finde ich das Gejammere unserer deutschen >Leib= u Magenblätter des Bildungsphilisters< (Wie z.B. Gartenlaube etc.), daß es keinen >Lyriker< mehr gäbe einfach lächerlich. Z.B. welche wunderbaren, wirklich poetischen Gebilde allerersten Ranges haben unsere neudeutschen Dichter wie D. von Liliencron, J.O. Bierbaum, R. Dehmel, E. Bodmer, Anna Ritter, O. Wiener etc. etc. geschaffen! In meinen opera 35 und 37 habe ich 11 Stücke solcher Poesien vertont! Ich finde, daß unsere moderne Lyrik (von diesen obengenannten Dichtern) viel sensitiver geworden ist! Viel feiner auch!“
Wenn oben davon die Rede war, dass es sich beim Liedschaffen Regers um „unentdecktes Land“ handelt, so ist der Initiator dieses Threads natürlich nicht so vermessen, zu glauben, dass er mit demselben daran etwas ändern könne. Aber natürlich verbindet er damit eine Hoffnung. Indem in Form eines Querschnitts durch eben dieses Liedschaffen einzelne Lieder vorgestellt, in ihrer kompositorischen Faktur beschrieben und ihrer spezifischen klanglichen Eigenart charakterisiert werden, soll der Versuch gemacht werden, eine Art Zugang zu Regers Lied-Opus zu schaffen und vielleicht auch ein wenig Neugier zu wecken, sich diesem liedhörend und -genießend zuzuwenden.