08.02.2015 (Theater Lübeck) Richard Wagner "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg" - Regietheater "pur"

  • Venus : Julia Faylenbogen
    Elisabeth : Carla Filipcic Holm
    Tannhäuser : Herbert Lippert
    Wolfram : Steffen Kubach
    Hermann : Shavleg Armasi
    junger Hirt : Frauke Becker


    Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck und Chor & Extrachor des Theater Lübeck unter der musikalischen Leitung von Andreas Wolf; Inszenierung Florian Lutz, Bühnenbild Christoph Ernst, Kostüme Mechthild Feuerstein.


    (Premiere am 31.August 2014)


    Zwar sind seit meinem Besuch in Lübeck auch schon wieder zwei Wochen vergangen, aber trotzdem möchte ich wenigstens kurz von dieser Aufführung berichten: Immerhin handelte es sich um die erste lupenreine Regietheater-Inszenierung, die ich in meinem Leben, d.h. in gut 25jähriger persönlicher Operngeschichte erlebt habe!


    Hier war gleich von Anfang an klar, was "gespielt" wurde; noch vor der Ouvertüre traten die vier Edelknaben auf die Bühne und erklärten dem Publikum Sinn und Zweck des Pilgerchores. Damit nicht genug wurde dann der Text inkl. Noten auf eine Leinwand projiziert und es durfte gesungen werden. Überaschenderweise folgte das Publikum (vertreten war der übliche Altersdurchschnitt > 60) dieser Aufforderung und wir sangen.
    Nach der Ouvertüre - es wurde im Wesentlichen die Dresdner Fassung gegeben - dann wieder die vier Edelknaben: Gefragt wurde nach heutigen Sünden zu denen es passend auf der Bühne mehrere Stationen gab, an welchen jeweils ein Zuschauer seiner Sünde fröhnen durfte. Da waren Bar, Restaurant (mit Live-Cooking), Spieltisch und Beauty-Salon aufgebaut, aber auch unvermeidlich die Table-Dance-Stange inkl. "Zubehör". Während also in der ersten Szene des ersten Aufzuges die meisten Augen auf das "Zubehör" der Table-Dance-Stange gerichtet waren, sang Julia Faylenbogen eine ausgezeichnete Venus, während Herbert Lippert mit einer unüberhörbaren Stimmschwäche zu kämpfen hatte, die sich in der zweiten Sinne immerhin etwas milderte. Störend war tatsächlich das Publikum, welches ob der dargebotenen Show in intensives Gemurmel und Getuschel verfiel - bezeichnend jedoch, dass es keine klaren Unmutsbekindungen oder gar Buh-Rufe gab ...
    Die zweite Szene spielte im "Deutschen Wald" angedeutet durch braune Plastikröhren. Darüber ein großes Plakat "Rettet den deutschen Wald". Die Mannen um den Landgrafen Hermann (Wolfgang Schäuble im Rollstuhl) waren u.a zu erkennen als S.Gabriel, G.Westerwelle, E.Stoiber und H.C.Ströbele (auf dem Fahrrad). Gesanglich hier hervorragend Shavleg als Landgraf Hermann. Nicht ganz so stark der Wolfram gesungen von Steffen Kubach.
    Jedwedes Entsetzen am Ende des ersten Aufzuges hielt sich in Grenzen, aber man hätte doch gerne das eine oder andere Pausengespräch belauscht. Im kleinen Kreis meiner Bekannten kamen wir immerhin zu einigen interessanten bzw. plausiblen Deutungen und fragten uns, wie es wohl weitergehen mochte?


    Der Schock kam, als die Direktorin vor Beginn des zweiten Aufzuges vor den Vorhang trat und verkündete, dass Herbert Lippert seiner Stimme nun doch komplett verlustig gegangen sei und man trotz diverser Telephonate im Vorfeld keinen Ersatz habe bekommen können. - Abbruch der Vorstellung!
    Als kleines Trostpflaster gab es noch die Hallenarie mit einer ausgezeichnet disponierten Elisabeth (Carla Filipcic Holm im Kostüm Angela Merkels), den Abendstern, sowie zum Schluß den Einzug der Gäste.


    Leider handelte es sich um die letzte Vorstellung der Spielzeit und ich hätte sehr gerne gesehen, wie sich dieses Regiekonzept weiterentwickelt hätte.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • und erklärten dem Publikum Sinn und Zweck des Pilgerchores.

    Lauter Ausländer im Publikum? Wurde der Name des Komponisten genannt?


    Der Schock kam, als die Direktorin vor Beginn des zweiten Aufzuges vor den Vorhang trat und verkündete, dass Herbert Lippert seiner Stimme nun doch komplett verlustig gegangen sei und man trotz diverser Telephonate im Vorfeld keinen Ersatz habe bekommen können. - Abbruch der Vorstellung!


    Man hätte doch seine Rolle streichen können. Oder jemanden aus dem Publikum nehmen. Bei einem Happening hätte das niemanden gestört.

  • Zitat

    Zitat von M.Schenk: Hier war gleich von Anfang an klar, was "gespielt" wurde; noch vor der Ouvertüre traten die vier Edelknaben auf die Bühne und erklärten dem Publikum Sinn und Zweck des Pilgerchores. Damit nicht genug wurde dann der Text inkl. Noten auf eine Leinwand projiziert und es durfte gesungen werden. Überaschenderweise folgte das Publikum (vertreten war der übliche Altersdurchschnitt > 60) dieser Aufforderung und wir sangen.

    Sollte die Inszenierung vom Regisseur etwa für Minderbemittelte (bitte: du und auch das anwesende Publikum, das so etwas ja vorher nicht wissen konnte, weil ihm auf den Plakaten ja die Oper "Tannhäuser" und kein Seminar mit Singstunde angekündigt war, sind nicht gemeint) gedacht gewesen sein? Sei ehrlich: Hast du den Besuch dieser Vorstellung hinterher nicht bereut? Ich hätte zumindest mein Eintrittsgeld zurückverlangt



    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Sollte die Inszenierung vom Regisseur etwa für Minderbemittelte ...


    Nein, so einfach ist es nicht. Ich sehe eine langsichtige Strategie dahinter.
    Da die Staatszuschüsse immer geringer werden, sind Firmen-Sponsoren gefragt, um den Opernbetrieb aufrecht zu erhalten.
    Die fordern natürlich eine Gegenleistung in Form von Werbezeit. Nun wird erst einmal vorgefühlt, wie weit man die Akzeptanz der Besucher herausfordern kann.
    Man beginnt damit, kleine, für das Auge kaum wahrnehmbare Reklameabschnitte im Bühnenbild zu verstecken. Hat das Erfolg, wird man allmählich wird dreister.
    Und schließlich findet niemand mehr etwas dabei, wenn die Oper 4-5 mal in der Stunde unterbrochen wird, damit jeder erfährt, wer hier die Vorstellung bezahlt.
    Für das Fernsehen funktioniert das ja schon, trotz anfänglichem Wehgeschrei.


    Die Belehrung erfüllt einen etwas anderen Zweck. So können die Firmen interessanten Kunden Freikarten unter der Bezeichnung Kursgebühren verehren
    und sie damit von der Steuer absetzen.

  • Es tut mir aufrichtig leid, dass ich die Intentionen der Lübecker Intendatur etwas missverstanden habe.
    Nachdem ich allerdings die Ergebnisse der Untersuchung des Leseverstehens der schwedischen Oberschüler gelesen habe,
    bin ich selbst überzeugt, dass ein junger, moderner Mensch einen Wagnertext nicht ohne Expertenhilfe begreifen kann.
    Deshalb habe ich nun einen eigenen Deutungsversuch unternommen
    und ich hoffe, dass mir keine allzugroßen Fehler dabei unterlaufen sind.


    Hier das Original:


    Beglückt darf nun dich, o Heimat, ich schauen,
    und grüßen froh deine lieblichen Auen;
    nun lass' ich ruhn den Wanderstab,
    weil Gott getreu ich gepilgert hab'.


    Durch Sühn' und Buß' hab' ich versöhnt
    den Herren, dem mein Herze frönt,
    der meine Reu' mit Segen krönt,
    den Herren, dem mein Lied ertönt.


    Der Gnade Heil ist dem Büßer beschieden,
    er geht einst ein in der Seligen Frieden!
    Vor Höll' und Tod ist ihm nicht bang,
    drum preis' ich Gott mein Lebelang.
    Halleluja in Ewigkeit!


    Zur Analyse:
    (leider muss ich mich auf die Worterklärung beschränken,
    der Sinn des Chores bleibt auch mir verschlossen)


    "Beglückt darf nun dich, O Heimat, ich schaun"


    "Beglückt" ist so ein Wort, das immer Missverständnisse hervorruft, vor allem bei Freunden der Beate Uhse und bei denen, die sich gerne zudrönen.
    Es hat aber noch einen anderen Sinn, an den ich mich allerdings selbst nicht so genau erinneren kann.


    "darf nun dich, O Heimat, ich schaun"


    Ja, so kann man wirklich nicht reden!
    Das "ich" gehört in einem anständigen Deutsch natürlich hinter "darf" und "Heimat schaun" ist schlichtweg Blödsinn.
    Doch so haben die früher wirklich geredet.
    Da gehört natürlich eine Präposition hin, fragt sich nur welche.
    "Auf" die Heimat schaun, wäre ja schon was, aber ich habe das Gefühl, dass "auf etwas schauen" bedeutet, dass das Geschaute überblickbar ist.
    Doch die Heimat mit einem Blick erfassen, kann man höchstens in der Schweiz.
    "In" die Heimat passt auch schlecht, weil die ja kein Glas ist oder eine Mülltonne, auch wenn einige Spinner beim Letzteren anderer Ansicht sind.
    Am besten, man lässt die Strophe ganz weg.


    Mit dem Wort "Auen" könnten nasse Wiesen gemeint sein, jedenfalls nicht das, was man allgemein glaubt, nämlich die Mehrzahl von Wehgeschrei.


    "Nun laß ich ruhn den Wanderstab,"


    Nein, der Wanderstab ist natürlich kein lebendes Wesen, das ruhen muss und er ist auch kein Ding, das mit Batterien betrieben wird und heiß laufen kann.
    Der ist nur ein gewöhnliches Stück Holz, an dem man hängt, wenn man müde ist und dem es egal ist, ob es ruht oder nicht.
    Was Wagner sich dabei gedacht haben mag, ist nicht leicht zu begreifen.
    Vielleich hat ihm das seine Frau oder der Friedrich Nietzsche eingeredet.
    "Meinen Stecken hau ich in die Ecken" wäre sowohl begreiflicher, musikalischer und für das Münchner Publikum auch poetisch ansprechender gewesen.


    "Weil Gott getreu ich gepilgert hab."


    Getreu ist ein veralteter Begriff und der jüngeren Generation sicher völlig unbekannt.
    Er leitet sich vom Wort Treue oder Untreue ab, wobei man allerdings nicht weiß, ob da ein Unterschied besteht.
    Ein Aufsichtsrat, der einem treuen Geschäftsführer einen Millionenbonus gewährt, könnte gleichzeitig der Untreue gegenüber den Aktionären bezichtigt werden.
    Wagner hat hier übersehen, dass das Leben recht komisch sein kann.


    "Pilgern" versteht jeder, der den Hadschi Halef Omar kennt.
    Für die Anderen ist es ein Fußmarsch zu einem Kloster, wo es Bier gibt wie in Andechs
    oder zu einem Garten, wo es auch Bier gibt aber kein Kloster, wie auf der Kugleralm.


    "Durch Sühn und Buß hab ich versöhnt
    Den Herren, Dem mein Herze fröhnt,
    Der meine Reu mit Segen krönt,
    Weil Gott getreu ich gepilgert hab.
    Durch Sühn und Buß hab ich versöhnt
    Den Herren, Dem mein Herze fröhnt,
    Der meine Reu mit Segen krönt,"


    Das kann man mit Worten nicht erklären.
    Fest steht, dass der Herr bei diesem Anlauf sehr viel zu tun hat.
    Man könnte ihn mit einem Finanzamt vergleichen, das pro Sekunde 12 Millionen Emails bekommt mit dem Inhalt:
    "Liebes Finanzamt, ich habe mich bei meiner letzten Steuererklärung um 62 Cent verrechnet.
    Ich bitte vielmals um Vergebung und werde es nicht wieder tun, wenigstens nicht mit dieser enormen Summe"


    "Der Gnade Heil ist dem Büßer beschieden,"
    Das wäre vergleichbar mit dem Bescheid des Finanzamts, wo unter Zahlung von 3000 Euro von einer Strafverfolgung abgesehen wird.


    "Er geht einst ein in der Seligen Frieden,"
    Der Steuersünder erhängt sich.


    Den Rest singen dann die Trauergäste auf der Wartburg,
    die aber den Sinn des Textes nicht verstehen.


    Soweit mein Versuch, die schwierigsten Wörter und Ausdrücke dem Wagnerhörer verständlich zu machen.
    Vieles in Wagners Werken ist jedoch völlig unverständlich und ich bitte um Verständnis, wenn es mir nicht gelungen sein sollte,
    in die letzten Tiefen des Pilgerchores zu dringen.


    Zu meinem Erstaunen bin ich dem Wort "Sünde" hier nicht begegnet, vermute aber, dass es im weiteren Verlauf der Oper sicher irgendwo auftaucht.
    Es bedeutet jedenfalls eine Handlung, die den Interessen der Obrigkeit zuwider läuft.
    Als Beispiel könnte man Proteste gegen Direktorengehälter oder die Umweltverschmutzung nennen.


    Dann also viel Vergnügen mit dem Tannhäuser.

  • Lieber Hami,


    vielen Dank für deine Erklärungen. Ich habe nämlich den Pilgerchor auch nie verstanden, genau so wenig, wie ich die älteren Kirchenlieder oder auch die Literatur bis 1950 nicht verstehe, obwohl man mir mal althochdeutsch und mittelhochdeutsch beigebracht hat. Jetzt weiß ich endlich worum es geht: Tannhäuser pilgert also zum Finanzamt (wäre doch eine Idee für das sogenannte Regietheater!), aber da wird ihm die 62 Cent, um die er seine Steuerschuld gemindert hat, nicht vergeben. Im Gegenteil, das Finanzamt legt noch eins drauf. Und da er sich im Rotlichtviertel total verausgabt hat, kommt es schließlich dazu, dass zwei verhungern müssen: Elisabeth und er. Oder habe ich da wieder etwas falsch verstanden?


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Sei ehrlich: Hast du den Besuch dieser Vorstellung hinterher nicht bereut?


    Ach Gott, nein! Warum sollte ich etwas bereuen? - Zum einen ahnte ich zumindest, was mich erwartet und zum anderen bin ich viel zu neugierig, als dass ich so etwas auslassen könnte :angel:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Zitat

    Zitat von M.Schenk: Ach Gott, nein! Warum sollte ich etwas bereuen? - Zum einen ahnte ich zumindest, was mich erwartet und zum anderen bin ich viel zu neugierig, als dass ich so etwas auslassen könnte

    Lieber Michael,


    ich zumindest habe nicht die Finanzen, die ich für solchen sinnlosen Kram zum Fenster hinauswerfen könnte, und meine Lebenszeit ist mir viel zu kostbar, um sie mit so etwas zu verschwenden.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Mir scheint, dass der Abbruch der Vorstellung für viele Zuschauer ein Glücksfall war. Immerhin kann man so dem Unfug entgehen, ohne sich den Vorwurf intellektueller Defizite durch Verlassen der Darbietung einzuhandeln. Oder war der Abbruch gar Teil des Regiekonzeptes?

    res severa verum gaudium


    Herzliche Grüße aus Sachsen
    Misha

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