Alle sängerischen Liedinterpreten, die sich der Winterreise interpretatorisch mehrfach zugewendet haben – und Fischer-Dieskau ist mit seinen zehn Malen wohl der Herausragende darunter -, begründeten das allemal damit, dass dieses Werk Schuberts musikalisch so tiefgründig und kompositorisch komplex sei, dass man ihm immer wieder neue Dimensionen seiner künstlerischen Aussage abgewinnen könne, - und müsse. Es stelle darin eine singuläre Herausforderung für jeden Liedinterpreten dar.
Nun haben sich in der Generation nach Fischer-Dieskau viele bedeutende Sänger mit diesem großen Liederzyklus aus eben diesem Motiv heraus interpretatorisch auseinandergesetzt. Und die interessante Frage ist nun:
Vernimmt man darin eine neue Sicht auf das Werk?
Können sängerische Interpreten, die der Zeit „Post-Fischer-Dieskau“ angehören, diesem Werk neue Aussagen abgewinnen, - solche die seinen musikalischen Reichtum in Gestalt neuer Dimensionen erschließen?
Ist also die „Winterreise“ unsterblich, weil jede Zeit sich künstlerisch interpretativ und hörend rezeptiv darin wiederzufinden vermag?
Mein Vorschlag für diesen Thread:
Wir nehmen uns einzelne, meinetwegen wahllos herausgegriffene Lieder vor und vergleichen sie in der Interpretation durch Sänger eben dieser „Post-Fischer-Dieskau-Generation“. Wobei es methodisch vielleicht sinnvoll wäre, die jeweilige Interpretation durch Fischer-Dieskau als Bezugsgröße zu nehmen und dann der Frage nachzugehen, welche anderen Akzente die jüngeren Interpreten setzen, worin sie den Protagonisten dieser „Winterreise“ gleichsam neu sehen, und ob sie – das ist freilich eine heikle Frage, der nicht unbedingt zwingend nachgegangen werden muss – sich darin als Angehörige einer fortgeschrittenen historischen Zeit zu erkennen geben.
Persönliche Anmerkung:
Ich greife mit dieser Thread-Initiative einen Vorschlag von Alfred Schmidt auf, den ich sofort begrüßt habe, weil ich ihn für höchst sinnvoll hielt (und von dem ich mich im Atemzug der Begrüßung sogleich beitragsmäßig distanzierte). Er schlug vor (im Thread „Zyklus der Verzweiflung“):
„Die Winterreise HEUTE - wo die Winterreise-Einspielungen der letzten 15 Jahre (also etwa ab 2000) kurz beschrieben werden können - und zwar in Bezug auf ihre Werksauffassung, wie also der Text ausgedeutet wird. Die "berühmten Alten" werden bewusst ausgeklammert, dürfen aber am Rande (!!) zum Vergleich kurz erwähnt werden.“
Ich hoffe, Alfred Schmidt nimmt mir nicht übel, dass ich ihm diese Sache sozusagen aus der Hand nehme. Für mich ist dieser Thread ein Wagnis, denn mir fehlt jegliche Kompetenz hinsichtlich der Beurteilung von Sangeskunst (und die Beschäftigung mit ihr ist ja auch gar nicht mein Anliegen im Liedforum). Aber weil ich meine, dass diesem Aspekt der Beschäftigung mit dem Kunstlied mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, als dies in der letzten Zeit hier im Liedforum der Fall war, habe ich mich in einer Art Tollkühnheit zum Start dieses Threads entschlossen.
Und nun ist meine große Hoffnung und mein sehnlicher Wunsch, dass die diesbezüglich wirklich urteilskompetenten Mitglieder des Forums hier „volle Pulle“ einsteigen.
(Ich selbst werde nur wenige Beiträge liefern können, weil ich mir zurzeit an dem Liedschaffen der "Neuen Wiener Schule" im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne ausbeiße.)