ZitatAlles anzeigenHallo,
der Gedichtzyklus heißt Winterreise (nicht Wintertag); es kann also davon ausgegangen werden, dass sich in den Gedichten (über einen Zeitraum von mehr als 1 Tag) ein/e äußere/r/s Bewegung, Fortgang, Fortschreiten
vollzieht. Nur äußerlich? In diesem Zeitraum werden sehr unterschiedliche Situationen durchschritten/erlebt; das geht vom Gedicht 1 bis zu Gedicht 16, zum hier aktuellen Gedicht 17 und dann weiter bis zu Gedicht 24. Ich gehe davon aus – und das erscheint mir alsein natürlicher Vorgang - der Winterreisende vollzieht nicht nur einenzeitlichen, räumlichen Fortgang, sondern auch eine innerliche, seelische, psychische Bewegung.
In den Zitaten wird
Müller unterstellt, dass er „Im Dorf“ die Gefühlsebene außen vor
lässt, er quasi ein Hauptwesensmerkmal der Romantik, die Gefühlskultur
der Empfindsamkeit, übergeht, er rührt weder das Herz noch erzeugt er
Rührung beim Leser. (Meine Folgerung aus den Zitaten: Er macht als
Dichter der Romantik einen ganz entscheidenden Fehler – ist er also
ein mit großen Fehlstellen in der romantischen Dichtung behafteter
Schreiber?).
Wird „Im Dorf“ als Bestandteil des Gedichtzyklus
verstanden, kann sich ein ganz andere Sichtweise ergeben: Die seelischen
Erschütterungen gehen so tief, dass dann für Gefühle kein Platz mehr
ist, der Winterreisende zeitlich begrenzt gefühllos wird/ist, zugleich
wird aber der Blick für die Realität geschärft; m. E. genau diesen
Zustand drückt Müller „Im Dorf“ aus.
Was das für Schuberts Vertonung bedeutet, darauf gehe ich nun jetzt nicht ein (siehe Beitrag Nr. 84)
Viele Grüße
zweiterbass
Lieber Horst,
das sind eine Reihe von wirklich wichtigen Aspekten, die Du da ansprichst. Ich beginne mal mit dem letzten! Starke seelische Erschütterung kann "stumm" machen - zu einer Reduktion emotionaler Äußerung führen. Dann bewegt sich der Ausdruck auf der Grenze von Sprache und Sprachlosigkeit. Dafür gibt es unter den Interpretationen von "Im Dorfe" vielleicht ein Beispiel - das ist die Aufnahme von Benjamin Britten und Peter Pears. Als junger Student - völlig unbedarft in Sachen Schuberts Winterreise - empfahl man mir diese Aufnahme u.a. mit den Worten: "Das ist die beste Klavierbegleitung in Sachen Winterreise". Gerade hier ist Benjamin Britten wirklich außergewöhnlich. Die gängige Art der Pianisten ist, hier mehr oder weniger tonmalerisch eine bedrohliche Stimmung zu erzeugen. Ganz anders Britten: Er transformiert das in seelischen Ausdruck. Da gibt es ein Zögern, Zaudern, wie einer, der mit Anstrenung nach einem Wort ringt und dieses dem Verstummen abringt. Peter Pears antwortet darauf mit verinnerlichtem, gedanklich reflektierendem Gesang. Das ist ein Wanderer, der sich aus Vereinsamung völlig von der Welt ab und nach innen gekehrt hat - statt unmittelbar zu erleben und auf Erlebtes zu reagieren sich mit seinen Vorstellungen, Erinnerungen und "Bildern" aus seinem Erfahrungsschatz beschäftigt. Entsprechend wird ihm auch diese "Szene" zum Bild - er reagiert nicht auf etwas, sondern die Außenwelt spiegelt umgekehrt die innere Seelenbewegung, wird zum "Anstoß" einer Reflexionsbewegung. Das ist von Pearce/Britten eine sicher extreme Sicht - aber für mich ungemein beeindruckend. Ich möchte sie nicht missen.
Ich habe in der Tat davon gesprochen, dass in diesem Gedicht von der Gefühlsebene abstrahiert wird. Dabei habe ich natürlich den literaturtheoretischen Hintergrund im Ungesagten gelassen. Zu den bedeutendsten Literaturtheoretikern des 20. Jahrhunderts gehört der polnische Philosoph Roman Ingarden. Er hat eine sehr wichtige - und für die Diskussion von solchen Interpretationsansätzen finde ich unentbehrliche - Unterscheidung germacht. Ein Kunstwerk ist für ihn nichts "Reales", sondern ein fiktives Sinngebilde. Für fiktionale Entwürfe ist charakteristisch, dass sie "Unbestimmtheitsstellen" aufweisen. Beispielsweise ist das Bild, was Romain Rolland von Paris zeichnet, sehr skizzenhaft schematisch. Der Leser "füllt" dann diese Unbestimmtheitsstellen, d.h. durch seine Phantasie ergänzt er das zu einem Ganzen. D.h. das vollständige Bild entsteht erst im Leser. Dem entspricht die Unterscheidung von "Aufbau" und "Konkretisation". Die "Konkretisation" ist der rezeptionsästhetische Gesichtspunkt, der etwas Eigenständiges darstellt. Das läßt sich nun sehr schön an der Liedvertonung von "Im Dorfe" zeigen. Die "Unbestimmheitsstelle" im Sinne von Ingarden ist hier die emotionale Beteiligung, diese füllt dann die Liedvertonung aus. Das ist eine produktive Leistung, so dass etwas Neues entsteht. Die Vertonung verdoppelt also nicht einfach den Gehalt der Dichtung - sie fügt etwas konkretisierend hinzu.
Meine Auseinandersetzung mit Helmut Hofmann war, dass er (so habe ich ihn verstanden) darauf insistiert hat, dass die vom Werk her einzige legitime Interpretation die der "Einfühlung" in die bäuerliche Lebenswelt sei - also Spott und Ironie wie bei Bostridge Schubert nicht gerecht werden. Hier sieht man, dass man manchmal eben auf die theoretische Ebene wechseln und ein wenig auf ihr verharren muß, um zu solchen Fragen der Bewertung von Interpretationen Stellung nehmen zu können. Helmut Hoffmanns Position ist, dass eine einfühlungsbetonte Interpretation mit Ingarden gesprochen zum sinnhaften "Aufbau" gehört und insofern vom Werk her gefordert ist. Meine Position ist, dass ich dagegen die Konkretisation, den rezeptionsästhetischen Gesichtspunkt, stark mache. Man kann dieses Lied wie Peter Pears völlig unironisch singen oder wie Bostridge mit Ironie und Spott. Es macht für mich keinen Sinn zu sagen, was vom Werk her eindeutig richtig oder falsch ist, weil es sich hier gar nicht um einen wekästhetischen, sondern eben rezeptionsästhetischen Gesichtspunkt handelt.
Die andere Frage ist die, wie man mit dieser Abstraktheit von Müllers Dichtung umgeht. Auch hier ist meine Auffassung nicht, dass hier das ländliche Milieu etwa nicht vorhanden sei. Es ist da - aber eben nur als unthematischer Hintergrund und nicht als thematischer Inhalt wie bei dem Schweizer Hirtenlied (Kühreihen), das Senancour diskutiert. Thematisch wird gar nicht auf die bäuerliche Lebenswelt abgehoben (es wird eben sprachlich nicht von Bauern, sondern abstrakt-allgemein von Menschen gesprochen), sondern eine existenzielle Befindlichkeit ist der Inhalt dieser Dichtung. Nun komme ich zur Beantwortung Deiner Frage. "Unromantisch" ist diese Dichtung selbstverständlich nicht. Natürlich ist diese Kargheit und Aussparung des Emotionalität merkwürdig wenn nicht gar verstörend. Da hilft finde ich weiter, wenn man nicht mit der Kategorie "Gefühl" arbeitet, sondern "Befindlichkeit" (für Philosophen: im Sinne von Heideggers "Sein und Zeit"). Der Bedeutungskontext von Befindlichkeit ist nämlich weiter - er enthält mehr als nur die emotionale Reaktion. Hier wird auf die existenzielle Situation der Unbehaustheit des Wanderers im Kontrast mit dem Wohnen der Menschen abgehoben. Was hier lyrisch zum Ausdruck gebracht wird, ist deshalb nicht primär das Gefühl, sondern die subjektive Einstellung, der Lebensentwurf des Wanderers, sich mit seiner Existenzweise zu identifizieren und die Abweisung als Form der Selbstbestätigung zu nehmen. Da geht es wenn man so will um den "Willen" - was will ich im Leben? Das bringt er zum Ausdruck - jedenfalls das sagt die Dichtung. In der Musik kommt dann die emotionale Ebene hinzu. So sehe ich das jedenfalls - grob skizziert!
Zu den anderen Fragen vielleicht später!
Schöne Grüße
Holger