Die Wahrheit ist, ich erhielt eine Freikarte für das neue Musical im neuen Stage-Theater neben dem „König der Löwen“ gegenüber von den Landungsbrücken. Es war überwältigend, wie in Las Vegas. Der mehr als 2.000 Zuschauer fassende Innenraum mit steilem Rang leuchtete in Rot, im vorn zur Elbe verglasten Foyer mit grandioser Aussicht auf die Stadtsilhouette (von den St. Pauli Hochhäusern über die Kirchtürme der Stadt bis zur Elbphilharmonie alles zum Greifen nah) war alles weiß. Alles ist großzügig, alles klappt wie am Schnürchen, nicht nur im Theater, sondern auch die Überfahrt von den Landungsbrücken zum Theater, und danach die Rückfahrt in den wie Taxen nacheinander den Theateranleger anfahrenden Fähren. Jedes Jahr werden hier wohl mehr als 1 Million Theaterbesucher in die Stage-Bühnen geschaufelt; die Oper kann dagegen, selbst bei guten Aufführungen, ihr Haus nicht voll bekommen.
Zum einen ist es natürlich die prominente Lage der Stage-Theater, die Touristen in die beiden Musicaltheater zieht und nicht in die Oper. Zum anderen wird einem beim „Wunder von Bern“ eine Aufführung präsentiert, die vom Bühnenbild und von der Bühnentechnik her ihresgleichen sucht. Ich war schlichtweg hingerissen, was hier auf der sehr breiten Bühne geboten wurde. Schnellste Prospektwechsel, dreigestaffelte Bühnenbilder, tolle inszenatorische Ideen, akrobatische Fußballspiele auf der senkrechten Rückwand mit an Seilen hängenden Spielern, eine Bahnhofsszene wie von Manet gemalt, allerdings dreidimensional mit von der Seite her einfliegenden Bahnhofsdächern, einem in die Tiefe reichenden Hintergrundprospekt und einer frontal einfahrenden Lokomotivprojektion, ein Bergwerksfahrkorb, der von der Waschkaue nach unten in den Abbaubereich fährt (alles durch Hintergrundprojektion realistisch gestaltet). Überhaupt die Hintergründe: Mehrere große Stadtszenen mit rauchenden Schloten, die mittels Zoomtechnik vor- und zurückgefahren werden können.
Auf der Bühne sind ca. 30 Personen eingesetzt: Sänger, Tänzer und Schauspieler. Wovon handelt das Stück: Es hat drei miteinander verwobene Erzählstränge, zum einen geht um eine Frau mit drei Kindern, deren Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt und der mit dem neuen Leben und den Selbständigkeiten seiner Angehörigen nur schwer zu recht kommt, zum anderen geht es um einen Münchner Fußballreporter, der seine ihm frisch Angetraute statt auf Hochzeitsreise zur Fußballweltmeisterschaft 1954 nach Bern mitnimmt. Eingewoben ist Sepp Herberger mit seinen 11 Spielern, darunter Fritz Walter und Helmut Rahn. Die Geschichte ist nicht intellektuell anspruchsvoll, berührt aber emotional. Die musikalischen und gesanglichen Seiten des Stücks sind für sich allein
nicht tragfähig (es wird auch weniger professionell gesungen, als vielmehr eine Art Sprechgesang mit eingeschränktem Frequenzbereich vorgetragen). Richtig singen konnte nur ein, ich würde ihn als Bariton einstufen, mit Nebenrollen wie Putzfrau und Pfarrer eingesetzter Sänger. Das spielte aber insgesamt keine Rolle; denn die „Show“ war so überwältigend, dass sie von den Zuschauern am Schluss mit stehenden Ovationen gefeiert wurde. Man hat für sein vieles Geld (für den Eintritt bekommt man im Opernhaus in der Regel einen sehr guten Platz) einen Gegenwert erhalten.
Wenn man sieht, was in dieser nicht staatlich subventionierten Branche bühnentechnisch und illusionistisch möglich ist, fragt man sich nicht mehr, warum unsere Operninszenierungen immer häufiger keine genügenden Zuschauerzahlen erreichen. Vermutlich ist es in unseren Opernhäusern künstlerische Absicht, den Durchschnittsbesucher, der für sein schwer verdientes Geld auch einen optischen Gegenwert erhalten möchte, zu vergraulen. Meine Quintessenz: Wir Operngänger und -gängerinnen haben keinen Grund mehr, mild lächelnd auf die kommerziellen Musicaltheater herabzublicken.