Seit meiner Registrierung bei Tamino (Juli 2006) bis heute hat sich hinsichtlich meiner Sicht auf Mozarts Musik und der Interpretation seiner Werke langsam aber doch stetig etwas geändert. Diese leichten Änderungen sind für mich selbst so erstaunlich, dass ich auf die Idee kam, etwas darüber bei Tamino zu schreiben.
Als Kind und Jugendlicher habe ich Mozart noch abgelehnt. Meine Helden hießen damals Bach und Beethoven (sie sind es ja heute auch noch…). Mit Mozarts Musik konnte ich eher wenig anfangen, vielleicht weil sie weder die bachsche Logik (sie ist ja auch logisch, aber eben auf mozartinische Weise) mit den bewegten Bässen des Bachstils beinhaltet, noch mir den beethovenschen Zorn und seine Wucht bot, auf den ein junger Mensch ja gut ansprechbar sein kann (meine männlichen Klassenkameraden hörten ja dann auch harten Rock, wie z.B. AC/DC ). „Mozart hören“ galt in meiner Schule als Mobbinggrund und wurde mit „Klassik hören“ gleichgesetzt.
Als Harnoncourt, Leonhardt und Brüggen in den 70ern mit ihren Bachaufnahmen herauskamen und ich es nach einer ersten Ablehnungsphase sehr sehr enthusiastisch aufnahm, war ein wichtiger Grundstein für meine Harnoncourt-Begeisterung gelegt. Das überzeugte mich viel mehr, als was ich vom Collegium aureum, Karl Richter oder anderen Interpreten kannte.
In den 80er-Jahren dann bekam Harnoncourt Anfragen von „normalen“ Symphonieorchestern, und er begann damit, in seiner von mir wahrgenommenen Aufnahmetätigkeit vom Bereich Alte Musik weiter in der Musikgeschichte voranzugehen und Mozart aufzunehmen. Das hat mich, der ich Mozart eigentlich nicht viel abgewinnen konnte, dazu gebracht, diese LPs zu kaufen. Mich konnten diese Aufnahmen der „Haffner“, der „Prager“ oder der „Jupiter“-Symphonie sehr begeistern, und ich begann mich zunehmend für Mozart zu interessieren. Dass es nicht mehr so „verzärtelt“, sondern so kraftstrotzend wie ein Beethoven klang, das mochte ich. In der Bielefelder Oekterhalle habe ich seinen Mozart auch live mit den Wiener Symphonikern gehört und war tief beeindruckt, ja betroffen von diesem Mozart. Also besorgte ich mir die Partituren und versuchte zu verstehen, wiese „der das da so macht“. Dazu kam ja, dass ich mich ja schon einige Jahre zuvor mit den Schulbüchern der alten Meister wie Mattheson, Quantz oder C.P.E. Bach begann auseinanderzusetzen. Im Klavierunterricht der Musikschule musste ich dann auch Mozart spielen und wurde damit auch als Ausübender besser mit ihm bekannt.
Möglicherweise ist einigen hier nicht entgangen, dass ich die Mozartinterpretationen Harnoncourt im Forum (es liegen nun viele Jahre dazwischen) meistens positiv beurteilte. Dennoch will ich nicht verhehlen, dass sich mein Mozartbild hinsichtlich der Interpretation gerade in den letzten Jahren erst unmerklich, aber dann doch erkennbar modifiziert . Erst neulich hörte ich in einen Mozart mit Harnoncourt hinein, erkannte natürlich sofort die vertraute Handschrift, kam ob der Heftigkeit selbst der leichten Akzente doch zunehmend ins Zweifeln. "Warum soll man denn auch die kleinen sFs oder andere Akzente, die vielleicht gar nicht in der Partitur stehen, aber sich aus dem klangrednerischen Zusammenhang ergeben, als kleine oder größere Explosionen spielen?" habe ich mich gefragt.
Was ist da geschehen? Lehne ich Harnoncourts Mozart jetzt etwa ab?
Nun, in vielen wichtigen Aspekten durchaus nicht, aber manchmal hat sich mein Geschmack dann doch von ihm etwas entfernt, weil eben noch andere ebenfalls wichtige Aspekte seines Personalstils eine Rolle spielen, die mir im Falle Mozarts teilweise als Weg in den Irrtum vorkamen/vorkommen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die besonderen Vorzüge einer Persönlichkeit (sei es nun als Musiker/Interpret oder auch sonst im wirklichen Leben als Mensch) gleichzeitig -gerade in Spätphasen- zu Nachteilen werden können. Auch bei der Biografie und dem ebenfalls recht eigenen Stil Karajans kann man solche Dinge teilweise (nie generell!) beobachten.
Doch der Reihe nach:
Harnoncourt brachte in die Diskussion unglaublich wichtige Elemente in aufführungspraktischer Hinsicht ein. Damit meine ich jetzt nicht irgendeinen Zwang zu Originalinstrumenten, sondern vielmehr ein Ohren öffnendes Verständnis dieser Musik in der Verbindung zur Grammatik, zur Syntax und zu den Vokabeln einer Sprache. Mozarts Stil ist zwar einerseits so singulär, als wenn diese Super-Begabung vom Himmel gefallen wäre, andererseits jedoch auch sehr historisch im Barock und in der Frühklassik verwurzelt. Aus diesem Grund sind die Gestik und die Rhetorik (wie bei einem Redner) wichtige Elemente der Werke Mozarts. Diese Übertragung in den Bereichen Artikulation, Kleindynamik, Phrasierung und Gestik aus dem Barock in die Musik Mozarts und Haydns, ist einer seiner Verdienste. Für so manche Stelle konnte Harnoncourt einem Aha-Erlebnisse verschaffen, gerade wenn es um Phrasierungen und gestisch-sprachliche Zusammenhänge ging.
Doch was gäbe es denn da kritisch anzumerken? Für mich drei Dinge:
1. eine zeitweilig kantig-martialische Überschärfung von Kontrasten, Akzenten und kantigen Aufbrüchen, die Mozart an manchen Stellen als revolutionären Hau-drauf erklingen lassen. Es wird dann so, als ob man in Photoshop die Kontraste eines Bildes übertrieben hochfährt. Damit verbunden ist auch mein zweiter Punkt:
2. die ebenfalls in gewissen Fällen zu plakative und deshalb auch wenig natürlich fließende Darstellung von durchaus sehr richtig erkannten Dingen. Das kann sich auf die zu ruppigen Akzente beziehen oder auch auf manche Freiheiten im Agogischen. Durch diese Maßnahmen kommt als Hörer man im Resultat zu
3. dem zeitweiligen Eindruck, dass die Musik manchmal unorganisch-viereckig voranmarschiert und nicht genug fließt. Was dann auf der Strecke bleibt, ist Eleganz, Lieblichkeit und ein gewisser Zauber, der sich dann einstellt, wenn man nicht unbedingt als Interpret etwas „will“, sondern wenn dieser unangestrengt aus der Musik herausfließen darf.
Ich möchte betonen, dass ich das nicht bei allen Aufführungen Harnoncourts so höre und meine. Aber u.a. durch das Kennenlernen von anderen Mozart-Einspielungen kam ich oft zu der Erkenntnis, dass viele Dinge, die er macht (z.B. auch auf der DVD mit der Prager Symphonie und dem Concentus musicus Wien) eigentlich ganz wunderbar detailliert erkannt sind, ja dass er oft rechthat. Umso mehr ist es dann schade, wenn dieses "zuviel" oder "zu doll", "zu heftig" dann zuschlägt und sich eine Interpretation, die sehr oft die theoretischen Gene einer neuer Referenzeinspielung in sich hat, sich dann selbst wieder angreifbar macht und sich bildlich gesprochen selbst ein Bein stellt.
Es fehlt oft nur, dass die Akzente in einen natürlicheren organischen Gestus eingebaut würden und die Klangschönheit mehr berücksichtigt würde.
Welche Aufnahmen/Einspielungen haben mir ein anderes interpretatorisches Mozartideal aufgezeigt?
Da könnte ich z.B. Julia Fischer mit den Violinkonzerten anführen, die vom leider schon verstorbenden Yakow Kreizberg dirigiert wurden:
Sind diese Aufnahmen historisch informiert? Ja, natürlich. In der Zwischenzeit haben sich "normalen" Musiker dieses Kalibers längst mit den musikhistorischen Grundsätzen eines Mozartstils auseinandergesetzt und ließen das in die Spielweise einfließen. Dennoch verwenden sie weiter jene Instrumente, mit denen sie sich am besten ausdrücken können und nutzen auch deren Vorzüge aus.
Mitsuko Uchida hat an meiner geänderten Mozart-Sicht ebenso einen sehr wichtigen Anteil. Sie lässt der Musik das Wundervolle und Geheimnisvolle und zerschlägt sie niemals durch eine zu plakative Brutalität, weder als Pianistin, noch als Dirigentin der Klavierkonzerte (vom Flügel aus):
Unfassbar gut gelungen ist eine SACD, die ich vor kurzem erhielt, und die ich mit großer Sicherheit zu den schönsten und besten Aufnahmen meines gesamten Bestandes zähle:
Hier passt wirklich einfach alles. Es ist ein aktuelles Mozartspiel, wie es schöner nicht sein kann. Alle Vorteile der Dirigenten Krips, Haitink oder Harnoncourt scheinen irgendwie mitzuschwingen, die Nachteile indes nicht. Es ist das reine Mozart-Glück. Ich habe vor, dazu einmal mehr unter der Kategorie „unverzichtbare Aufnahmen“ zu sagen. Ja, ich versteige mich zu der Behauptung, dass ich hier eine meiner besten CDs überhaupt in den Händen halte.
Ebenso habe ich mittlerweile diese schöne Aufnahme des A-Dur Klarinettenkonzerts mit Sabine Meyer und Hans Vonk kennenlernen dürfen, die ich sofort als referenzwürdig ansah, auch gegenüber einer weiteren durchaus schönen Aufnahme Meyers mit Abbado und dem BPO:
Auf der Abschieds-CD Brendels befinden sich Klavierkonzerte mit Mackerras am Dirigentenpult. Auch diese begannen mich immer mehr zu überzeugen und für sich einzunehmen:
Angefangen hat mein leises Zweifeln am herrischen Mozart ironischerweise mit diesen beiden hervorragenden Harnoncourt-Aufnahmen, bei mit dem Pianisten Friedrich Gulda:
Hier fehlt das allzusehr Zeigende, das forcierte Übertreiben, das „Dreinhauen“. Wenn es heftigere Akzente gibt, dann sind sie aus meiner Sicht auch musikalisch geboten und in der dort zu hörenden Ausführung so auch vertretbar. Es ist hier eigentlich ein kongeniales herrliches Mozart-Musizieren zu hören, welches man sich bei anderen Harnoncourt-Aufnahmen auch in dieser fließenden Natürlichkeit so wünschen könnte. Hier gibt es eine Fülle von guten Ideen und Verständnis für die Zusammenhänge der Musik. Vor allem wirkt es nicht so gewollt, sondern strahlt eine natürliche Wärme aus. Beide Konzerte haben bei mir immer noch Referenzstatus, auch was die Leistungen Guldas anbelangt, der offenkundig und zum Glück nicht durchsetzen konnte, dass die Mikrofone direkt in das Klavier gesteckt wurden.
Und ja, einige werden es mit gewisser Genugtuung zur Kenntnis nehmen: Auch die Aufnahme des A-Dur Klarinettenkonzerts mit Böhm
und vor allem die überaus gelungene Zauberflöte
haben mich auch auf diesen Dirigenten, den ich lange Zeit als Antipoden meiner frühen Mozartauffassung ansah, neugierig gemacht.
Manche seiner Aufnahmen wirken auf mich auch noch in 2015 geradezu als ideal, bei einigen Stellen wünschte man sich mehr Flexibilität in der Einzeltondynamik und mehr bewegte Gestik. Das es das bei ihm noch nicht gab, hat interpretationshistorische Gründe, aber es fällt durchaus nicht bei allen Stücken auf (bei der Zauberflöte z.B. gar nicht) Mir gefällt bei ihm unter anderem, dass er sich verhasteten Tempi verweigert, sondern einen narrativen Tonfall favorisiert, den ich sehr mag.
Die heutigen guten Orchester und Dirigenten haben die wichtigen Impulse Harnoncourts für die Mozart-Interpretation so aufgenommen, wie die etablierten Parteien in Deutschland den Umweltschutzgedanken der Grünen assimilierten.
Stimme ich nun in den Chor der Harnoncourt-Basher ein? Nein, auf keinen Fall! Hoffentlich missverstehen diejenigen, die das gerne betreiben, mein Posting nicht als Einladung dazu. Ich finde nur - wie gesagt- , dass er sehr oft genau die richtigen Dinge erkannte, gute Interpretationsideen hatte, aber in der praktischen Ausführung an so mancher Stelle zu heftig zulangte. Das Klangbild ließ es dann an Wohlklang vermissen. Bei der TV-Übertragung der drei letzten Mozart-Symphonien (die Sache mit dem Oratorium) ging meine Frau spätestens beim ersten Satz der Jupiter-Symphonie aus dem Hörzimmer, mit der Begründung, dass es für sie einfach zu anstrengend wäre. Es klang auch für mich in der Tat nicht unbedingt nach harmonischen Frühlingslandschaften, sondern viel eher nach einem Katastrophenfilm i.S.v. „The Day After“, um es einmal plakativ auszudrücken. Wissend, dass bei dieser Musik keine Frühlingslandschaften dargestellt werden sollen, bringe ich dennoch das Bild, um meine Beschreibungen irgendwie zu illustrieren.
„Man soll den Mozart nicht misshandeln“ hat der greise Böhm damals gesagt. Damals nahm ich ihm den Ausspruch übel, aber heute finde ich, dass er durchaus berechtigt war. Man sollte als Dirigent das Zauberhafte dieses Komponisten nicht mit bloßen Fäusten zerschlagen. Das heißt ja nicht, dass man einen Akzent oder alle diese Dinge ignorieren oder – wie es vielleicht Karajan machte- alles zugunsten eines Klangstroms einebnen müsse. Auch damit würde Mozart reduziert. „Less is more“ möchte ich beim Hören eines Harnoncourt-Mozarts manchmal ausrufen - und doch bin ich froh, die Aufnahme zu haben, weil es dennoch so viel daran zu lernen gibt.
Die Frage dieses Threadversuchs, so er denn auf Interesse stößt, könnte also lauten:
Bin ich der Einzige, der seine Meinung oder auch seinen Geschmack zur Mozartinterpretation modifiziert/erweitert hat?
Gibt es auch andere Taminos, die im Laufe der Jahre vergleichbare Veränderungen erfahren haben? Wodurch ist das geschehen und warum?
Mein Mozartgeschmack war von Anfang an sehr durch Harnoncourt beeinflußt, aber bei anderen kann es ja Verschiebungen/Prägungen ganz anderer Art gegeben haben - oder auch nicht. Es wäre doch einmal interessant, etwas darüber zu erfahren, gerne auch mit CD-Beispielen oder anderen medialen Möglichkeiten.
Der Thread soll ja nicht zu einer einzigen Harnoncourt-Diskussion werden - davon gibt es ja schon viele. Dennoch wären natürlich auch Kommentare zu meinem -wieder einmal zu langem Posting - willkommen.
Gruß
Glockenton
PS.: ich glaube sagen zu können, dass ich jetzt Mozart viel mehr liebe, als früher. Auf 80% meiner letzten CD-Bestellungen stand der Name Mozart `drauf...