Leopold Stokowski — vergöttert und verkannt

  • Es gibt zwar bereits einen uralten Thread, der aber wenig liebevoll aufgemacht ist, kaum frequentiert wurde und auch sonst nicht unbedingt dazu beitrug, der Bedeutung Leopold Stokowskis Rechnung zu tragen. Daher an dieser Stelle ein neuer Versuch einer angemesseneren Würdigung.


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    Leopold Anthony Stokowski, geboren am 18. April 1882 in London als Leopold Antonin Stanisław Bolesławowicz Stokowski, gestorben am 13. September 1977 in Nether Wallop, Hampshire, war ein britischer, seit 1915 auch US-amerikanischer Dirigent, Organist und Arrangeur klassischer Musik.


    Stokowski machte zeitlebens ein Geheimnis aus seiner Herkunft. So behauptete er im Jahre 1950, 1887 in Krakau geboren worden zu sein, an anderer Stelle hingegen, seine Geburt habe 1889 in Pommern stattgefunden. Zudem hatte er einen für einen gebürtigen Londoner untypischen Akzent. Tatsächlich wurde er 1882 in 13 Upper Marylebone Street (heute New Cavendish Street) im Marylebone District in London als Sohn eines polnischstämmigen Vaters, Kopernik Joseph Boleslaw Stokowski, und einer irischen Mutter, Annie-Marion Moore, geboren.


    Er studierte ab 1896 am Royal College of Music in London, u. a. bei Sir Hubert Parry und Sir Charles Villiers Stanford, wurde 1903 Bachelor of Music am Queen's College in Oxford und vervollständigte seine Ausbildung später in Berlin, München und Paris. 1900 gründete er den Chor der St Mary's Church, Charing Cross Road, 1902 wurde er Organist und Chorleiter der St James's Church, Piccadilly. Zwischen 1905 und 1908 wirkte er als Organist an der der St. Bartholomew's Church in New York. Er kehrte kurzzeitig nach England zurück, siedelte allerdings bald darauf in die USA über.


    1909—1912 amtierte er als Musikdirektor des Cincinnati Symphony Orchestra in Ohio, bevor er 1912—1938 dem Philadelphia Orchestra als Musikdirektor vorstand. Ab 1936 unterstützte ihn sein späterer Nachfolger Eugene Ormandy als Co-Musikdirektor. Endgültig verließ er Philadelphia 1941, um erst 1960 als Gastdirigent zurückzukehren. Sein letztes Konzert mit dem Philadelphia Orchestra fand 1969 statt. Er formte das Philadelphia Orchestra zu einem der besten Orchester der Welt, prägte den legendären "Philadelphia Sound" und führte zahlreiche bedeutende Werke zum ersten Mal in den USA auf, darunter Mahlers 8. Symphonie, Bergs "Wozzeck", Stravinskys "Le sacre du printemps" und Schönbergs "Gurrelieder". Zudem setzte er sich für neue amerikanische Musik ein, etwa Ives. Er trat in zahlreichen Filmen auf und dirigierte die Musik in Disneys "Fantasia" im Jahre 1940.


    1939 gründete er das All-American Youth Orchestra, dem er bis 1941 vorstand. 1941—1944 war er, nach einem Streit zwischen Arturo Toscanini und der NBC, Chefdirigent des NBC Symphony Orchestra. 1944—1945 Gründer und Chefdirigent des New York City Symphony Orchestra. 1945 gründete er das Hollywood Bowl Symphony Orchestra. Zwischen 1946 und 1949 war er Erster Gastdirigent des New York Philharmonic, 1949—1950 neben Dimitri Mitropoulos Co-Chefdirigent. 1951 startete er eine neue internationale Karriere, die mit einer großen Tournee in England begann. Er dirigierte dort das Royal Philharmonic Orchestra sowie das Philharmonia Orchestra. Es folgten Reisen nach Deutschland, in die Niederlande, in die Schweiz, nach Österreich und Portugal. Nach diesem Schema agierte Stokowski in den folgenden zwei Jahrzehnten, wobei er während der Sommermonate in Europa dirigierte und während der Wintermonate in Amerika. Er dirigierte sämtliche bedeutenden Londoner Orchester, die Berliner und Wiener Philharmoniker, das Orchestre de la Suisse Romande, das Orchestre National de France, die Tschechische Philharmonie, diverse deutsche Rundfunkorchester und viele weitere Klangkörper.


    Nach der Auflösung des NBC Symphony Orchestra fungierte Stokowski zwischen 1955 und 1963 als Musikdirektor des daraus hervorgegangenen Symphony of the Air. 1955 wurde er zudem Musikdirektor des Houston Symphony, dem er bis 1961 vorstand. Ab dieser Zeit machte der stets der modernen Technik zugetane Stokowski vermehrt Stereoaufnahmen.


    Seine letzte feste Stelle bekleidete er zwischen 1962 und 1972 als Musikdirektor des von ihm gegründeten und in New York ansässigen American Symphony Orchestra. Erst mit 90 Jahren trat er von diesem Posten zurück. 1962 dirigierte er als Gastdirigent das Chicago Symphony Orchestra in einer Fernsehübertragung von WGN-TV. Es schlossen sich auch Gastdirigate beim Boston Symphony Orchestra sowie beim Cleveland Orchestra an. Damit dirigierte Stokowski alle "Big Five" der großen US-Orchester (Boston, Chicago, Cleveland, New York, Philadelphia).


    1951 debütierte er mit den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen, 1961 an der Metropolitan Opera in New York, 1963 bei den BBC Proms in London.


    Am 14. Mai 1974 dirigierte er zum letzten Mal live im Vereinigten Königreich, in das er sich 1972 zurückbegeben hatte. Sein letzter öffentlicher Auftritt als Dirigent erfolgte am 22. Juli 1975, als er das Kammerorchester Rouen mit einigen seiner eigenen Bach-Transkriptionen dirigierte. Dennoch blieb er bis in sein Todesjahr als Dirigent tätig und machte noch bis Juni 1977 Studioaufnahmen. 1976 unterzeichnete er einen Vertrag mit CBS Records, der ihn bis zum 100. Lebensjahr gebunden hätte.


    Leopold Stokowski starb am 13. September 1977 im Alter von 95 Jahren in Nether Wallop, Hampshire, England, an den Folgen eines Herzinfarktes.


    Er war dreimal verheiratet: Zwischen 1911 und 1923 mit der amerikanischen Konzertpianistin Olga Samaroff (geb. Lucy Hickenlooper) (1880—1948), zwischen 1926 und 1937 mit der Johnson & Johnson-Erbin Love Brewster Johnson (1897—1990) sowie zwischen 1945 und 1955 mit der Schauspielerin Gloria Vanderbilt (geb. 1924), mit welcher er zwei Söhne hatte: Leopold Stanislaus Stokowski (geb. 1950) und Christopher Stokowski (geb. 1952).


    Zwischen 1917 und 1977 schuf Stokowski über 700 Tonaufnahmen und beeinflusste technische Entwicklungen wie die Einführung der Stereophonie mit (erste Versuchsaufnahmen bereits 1931).


    Bedeutende Erstaufnahmen: Sibelius' 4. Symphonie (1932), Schostakowitschs 6. Symphonie (1940), Vaughan Williams' 6. Symphonie (1949).


    1979 wurde die Leopold Stokowski Society gegründet, die es sich zur Aufgabe machte, die Erinnerung an Stokowskis Lebenswerk aufrechtzuerhalten sowie seine zahlreichen Musikaufnahmen zu bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.


    1927 wurde Stokowski Ehrenmitglied der Royal Philharmonic Society in London. 1977 wurde ihm für seine Leistungen um die Musik der Grammy Trustees Award verliehen. Eine ihm angebotene Erhebung in den britischen Ritterstand (Sir) lehnte er ab.


    Besonders zu Lebzeiten wurde Stokowski als "Klangzauberer" gefeiert und für seine exzentrischen Interpretationen berühmt. Den ihm eigenen Klang vermochte er jedem von ihm dirigierten Orchester überzustülpen. Seine Eingriffe in die Partitur und die ursprüngliche Orchesteraufstellung wurden insbesondere in jüngerer Zeit im Zuge der Etablierung der historischen Interpretationspraxis teilweise sehr kritisch beäugt. Seinen Anhängern galt er als einer der bedeutendsten Dirigenten aller Zeiten, seinen Kritikern hingegen als unseriöser Scharlatan. Während er insbesondere in Amerika und Großbritannien den Status eines "Stardirigenten" erlangte, konnte er sich in Deutschland und insbesondere in Österreich nicht in diesem Maße etablieren, was sich bereits in den wenigen Aufnahmen aus dieser Region zeigt. Obwohl ihn auch die Wiener Philharmoniker an ihr Pult ließen (Salzburg 1951), mochte sich daraus keine dauerhafte Beziehung ergeben. Stokowskis Schwerpunkt war ganz eindeutig der anglo-amerikanische Raum. Seine berühmten Bach-Transkriptionen trugen nicht unwesentlich zur Wiederentdeckung dieses Komponisten bei.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Schöner Beitrag!
    Wie der Zufall so spielt habe ich vorgestern für 2 € eine rare frühe stereophone Stokowski-LP aus der Grabbelkiste gefischt. Die dort festgehaltenen Interpretationen zeigen Stoky at his best und mit Repertoire, das ihm wie kaum einem anderen lag:


    Prokofieff's Cinderella-Suite mit New York Stadium SO und Scriabin's Poeme de léxtase mit Houston SO.

  • Lieber Joseph,
    ganz herzlichen Dank für Deinen Beitrag!


    Der versucht, "Stoki" in all seinen Widersprüchen nahe zu kommen.
    In allen "Hollywood"- Attitüden neben der Seite an ihm, die höchst ernsthaft die Musik zu ergründen suchte.


    Und so kenne ich natürlich auch diese "Show-Seite", doch auch die ganz andere.


    Bei allem Klangzauber lagen ihm Werke oft sehr, oft sehr hörbar am Herzen, die man mit ihm gar nicht verbindet.
    Da erinnere ich an seine Brahms-Aufnahmen, die gar nicht im Klang "versickern", sondern sehr auf Struktur bedacht sind.
    Vor allem aber möchte ich seine Schostakowitsch-Aufnahmen nicht missen, die eine Art Gegenpol darstellen zu Mravinsky oder auch Kondrashin. Klanglich fülliger, weniger holzschnittartig, aber doch völlig emotionall erfüllt und damit um so vieles reicher als die Haitinks.
    Ich empfinde immer wieder beim Hören, dass Stokowski gerade hier "seine Welt" fand: im Klangsinn einerseits und andererseits in echter Emotion und beides genialisch verbindet- zumindest danach trachtet.
    Anders eben auch als Bernstein, dem manchmal der Effekt zu genügen scheint, dem der Affekt weniger am Herzen liegt.


    Eine Annäherung an Stokowski gelingt auch mir oft nicht: zu variabel sind seine Lesarten. Und wirken oft auf Show getrimmt, oft ganz ehrlich und tief empfunden...das Dazwischen lässt er aus.
    Das scheint er den Unentschlossenen zu überlassen.


    Auch für mich einer der Unterschätzten des vergangenen Jahrhunderts.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Im Folgenden einige m. E. herausragende Aufnahmen von Stokowski:


     


    Diese beiden Boxen erweisen sich als wahre Goldgrube. Sämtliche zwischen 1964 und 1975 entstandene Aufnahmen für Decca, vornehmlich mit Londoner Orchestern und der Tschechischen Philharmonie. Besonders erwähnenswert vielleicht Tschaikowskijs 5. Symphonie, Berlioz' Symphonie fantastique, Beethovens 9. Symphonie, Brahms 1. Symphonie und diverse Auszüge aus Wagner-Opern. Einen besseren Walkürenritt wird man vermutlich nie hören.



    Hier sind besonders nennenswert eine exzentrische 2. Symphonie von Mahler, eine mustergültige "Eroica" sowie diverse Bearbeitungen von Händel, aber auch die "Pathétique" von Tschaikowskij.



    Auf dieser Box ist das eigenwilligste 5. Klavierkonzert von Beethoven (mit Glenn Gould) enthalten. Desweiteren die letzten Aufnahmen, Sibelius' 1. Symphonie, Brahms' 2. Symphonie, Mendelssohns "Italienische" Symphonie und Bizets Symphonie.



    Und noch eine Box, die u. a. mit Holsts "Planets" und Glières 3. Symphonie "Ilja Murometz" aufwarten kann. Ferner enthalten: Schostakowitschs 1. und 11. Symphonie.



    Eine CD voller Kuriositäten, mit denen man Stokowski normal nicht verbindet: Eine extrem eigenwillige 2. Symphonie von Schumann, Haydns 53. Symphonie 'L'Impériale", Humperdincks Ouvertüre zu "Hänsel und Gretel" sowie zwei Walzer von Johann Strauß Sohn.


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    Unbedingt erwähnenswert auch diese Wagner-Aufnahmen, die 1959 und 1960 in exzellenter Tonqualität mit dem Houston Symphony entstanden. Symphonische Versionen von Wotans Abschied und einer "Synthese" von "Parsifal".




    Ein überzeugenderes "Halleluja" aus Händels "Messias" wird man auch schwerlich finden. Die sehr spätromantische Sichtweise mit geschickten Temporückungen in Formvollendung.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Wichtige Ergänzungen, bei denen - wie ich gerade sehe - auch die von mir oben erwähnten Stücke drauf sind.



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  • Wer sich ein Bild vom Stil Stokowskis bei einer Orchesterprobe machen will, dem kann ich nur nachfolgendes Video ans Herz legen, wo er 1968 86jährig mit dem American Symphony Orchestra Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 probt:



    Was fällt auf? Zunächst die sehr jugendlich klingende Stimme Stokowskis, seine legendäre Agilität, sein wohl noch immer tadelloses Gehör. Der Mythos vom rigorosen Pultdiktator wird eher entzaubert. Er weiß natürlich genau, was er vom Orchester will, und bekommt es auch, doch dazu bedarf er keines Gebrülls á la Toscanini, seines großen Antipoden in seiner New Yorker Zeit.


    Es gibt noch etliche weitere Videos von Proben und Interviews mit Stokowski auf YouTube. Alles sehr sehenswert.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Es gibt zwar bereits einen uralten Thread, der aber wenig liebevoll aufgemacht ist, kaum frequentiert wurde und auch sonst nicht unbedingt dazu beitrug, der Bedeutung Leopold Stokowskis Rechnung zu tragen. Daher an dieser Stelle ein neuer Versuch einer angemesseneren Würdigung.

    Das ist zwar nicht sehr nett formuliert, lieber Joseph II., aber als Stokowski-Fan freue ich mich natürlich über jede neue Nachricht, die sich mit dem Maestro auseinandersetzt.


    An dieser Stelle sei auch nochmals auf folgendes Buch hingewiesen:



    Ich halte dieses Werk für äußerst informativ und gut geschrieben. Eine gelungene sachliche Biographie - ohne sensationslüsterne Mätzchen - und eine entsprechende Würdigung des musikalischen Wirkens Stokowskis. Da dieser Band allerdings keine Diskographie enthält, sei noch auf folgenden Link hingewiesen, unter dem man die entsprechenden Aufnahmen finden kann:


    Stokowskis eigenes Buch "Music for all of us" ist übrigens seit längerem nicht mehr regulär lieferbar. Ich habe vor Jahren mal hineingelesen und fand es nach einem lockeren Einstieg in (s)eine Musiklehre doch recht trocken und lehrbuchhaft. Vielleicht muss ich dem Werk aber nochmal eine zweite Chance geben.