TELEMANN, Georg Philipp: SELIGES ERWÄGEN


  • Georg Philipp Telemann (1681-1767):


    SELIGES ERWÄGEN
    DES BITTERN LEIDENS
    UND STERBENS JESU CHRISTI

    zur Beförderung heiliger Andacht, in verschiedene Betrachtungen,
    die aus dem Haupt-Inhalte der Passions-Historie zusammengezogen sind,
    abgefasset und im Hamburgischen Werck- und Zuchthause aufgeführet von Telemann


    Passionsoratorium in neun Betrachtungen - Uraufführung am 19. März 1722



    DIE BESETZUNG


    Die Andacht: Tenor (oder Sopran I und II*)
    Jesus: Bass
    Petrus: Tenor
    Kaiphas: Bass
    Zion: Sopran (oder Tenor*)
    Der Glaube: Sopran
    *Für eine spätere Aufführung wurden die ursprünglich dem Tenor zugewiesenen Arien der Andacht auf zwei Soprane verteilt, und Zions einzige Arie, ursprünglich für Sopran komponiert, dem Tenor zugewiesen.


    Ein Chor wird nicht verlangt; die als Tuttisätze anzusehenden Choräle übernehmen die Solisten.



    INHALTSANGABE


    Den neun Betrachtungen stellt Telemann eine zweiteilige, durch Taktwechsel voneinander getrennte (Andante-)Sonate voran. Die im ersten Teil auffällig pochenden Bässe könnten das Herzrasen des menschlich-ängstlichen Jesus symbolisieren. Der zweite Teil fällt durch den Einsatz von Oboen und zwei Chalumeaux, Vorläufer der Klarinette, gewichtig auf.


    Erste Betrachtung: Vom Abendmahle.


    Nach dem Johann-Franck-Choral „Schmücke dich, o liebe Seele“ (von dem das gedruckte Libretto [o.J., frühestens 1722, aber vor 1748] nur die erste Zeile zitiert, weil der Text als dem Publikum bekannt vorausgesetzt wurde) kündigt Jesus den Jüngern in einer Arie seinen baldigen Tod an:

    Gute Nacht, ihr meine Lieben, meine Zeit ist nun vollbracht.
    Ich muss ein Kleines von euch scheiden, es nähert sich mein schweres Leiden,
    das ich doch als ein Lamm ertrage, das keine Widerrede macht.

    Telemann legt im gesamten Oratorium den Jesus-Worten Sanftmut ausstrahlende Musik unter, bei den originalen Bibelzitaten von Streichern accompagniert.


    Es folgt rezitativisch Jesu Einladung zum Abendmahl, das die Jünger, wie er es formuliert, stets zu seinem Gedenken einnehmen sollen. Bei dem kurzen, wörtlichen Konsekrationszitat (Matthäus 26, Vers 26) „Nehmet, esset, das ist mein Leib“ wechselt die Musik zu einem ausdrucksstarken Arioso. Die folgende, die Einsetzungsworte reflektierende Arie singt die allegorische Figur der Andacht, und besteht aus zwei Strophen, die von einem Jesus-Rezitativ und einem Choral unterbrochen sind. Die erste Strophe nimmt auf Jesu Einsetzungsworte Bezug:


    Sollt ich deiner wohl vergessen? liebster Jesus, nein, ach nein!
    Wenn dein Leib mich pflegt zu speisen, muss ich dich herzinnig preisen,
    dass mir dieses Seelenessen will ein Pfand des Himmels sein.

    Die Musik, von zwei Flauti piccoli in synkopiertem Rhythmus begleitet, strahlt Zuversicht aus. Im anschließenden Rezitativ vollendet Jesus die Einsetzungsworte (Matthäus 26, 28) und bezeichnet sein Blut als Zeichen des neuen Bundes mit der Kraft der Sündenvergebung: „Trinket alle daraus, das ist mein Blut des Neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden“; auch hier ist das Zitat wieder als zartes Arioso gestaltet.


    Darauf erklingt der Choralvers (9. Strophe von „Wo soll ich fliehen hin?“ von Johann Heermann, Melodie „Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not“):


    Dein Blut, der edle Saft, hat solche Stärk' und Kraft, dass auch ein Tröpflein kleine
    die ganze Welt kann reine, ja gar aus Teufels Rachen frei, los und ledig machen.


    Die Andacht, die Partie mit den meisten Solo-Arien dieses Oratoriums, lobt Gott, der das Alte vergehen ließ, und durch Jesus den neuen Bund stiftete, der jedem Gläubigen Gerechtigkeit und Leben verheißt. Dann schließt die zweite Strophe der Andachts-Arie (Tenor oder Sopran II) die erste Betrachtung ab:


    Sollt ich deiner nicht gedenken? liebster Jesu , ja, ach ja. Wenn dein Blut will in mich rinnen,
    dank ich dir mit frohen Sinnen, dass durch dieses Gnadentränken meine Seligkeit nun da.


    Zweite Betrachtung: Petri Vermessenheit.


    Jesus ist mit Simon Petrus allein; er denkt rezitativisch an die prophetischen Worte des Zacharias, wonach der Hirte geschlagen und die Herde sich zerstreuen werde. Dann wendet er sich direkt an seinen Jünger und prophezeit ihm einen tiefen Fall, da er in Kürze bestreiten werde, ihn zu kennen. Das weist Petrus in einer furiosen Arie, die durch zwei (meist unisono geführte) Oboen das Bild eines aufgeregten Menschen zeichnet, weit von sich:


    Foltern, pechvermischte Flammen, Schwefel, Schwert, Strang, siedend Erz,
    ändern nicht mein treues Herz.
    Bratet mich auf heißen Pfählen, sinnt auf neue Art zu quälen,
    presst das Mark in mir zusammen, ich verlache solchen Schmerz.


    Doch Jesus weiß, und er sagt es dem von keinem Selbstzweifel geplagten Jünger auf den Kopf zu, dass Petrus ihn dreimal verleugnen wird - und zwar noch vor dem ersten Hahnenschrei. Doch dessen Reaktion unterstreicht sein großes Selbstwertgefühl: Er repetiert seine oben zitierte Arie.


    Dieser Eigensinn veranlasst die Andacht, Petrus zu ermahnen, seine Kräfte nicht zu überschätzen; stattdessen möge er Jesu Kampf auf Golgatha genau beobachten, und daraus lernen, dass „Fleisch und Blut nichts in des Geistes Kämpfen“ ausrichten können. Ihre Arie (Tenor oder Sopran I), die mit zwei konzertierenden Fagotten Nachdenklichkeit evoziert, verstärkt die Aussage des vorherigen Rezitativs, wonach der Mensch aus Staub und Erde besteht und Anfechtungen ohne Gottes Beistand nicht gewinnen kann.


    Die zweite Betrachtung schließt mit einem Choralvers (von Johann Heermann, Melodie „Freu dich sehr, o meine Seele“) „Gott, groß über alle Götter“ (im Librettodruck ebenfalls nur mit der ersten Zeile wiedergegeben). Dieser Liedvers vertieft die rezitativische Ermahnung durch die Andacht; er ist, wie alle anderen Choraleinschübe auch, durch den einfachen, vierstimmigen Satz als wichtiges Gegenstück zu den affektiv vertonten Arien zu verstehen:


    Gott, groß über alle Götter, heilige Dreieinigkeit,
    außer dir ist kein Erretter, tritt mir selbst zur rechten Seit'.
    Wenn der Feind die Pfeil' abdrückt, meine Schwachheit mir aufrückt,
    will mir allen Trost verschlingen, und mich in Verzweiflung bringen.


    Dritte Betrachtung: Der betende und blutschwitzende Jesus.


    Zu Beginn sehen wir Jesus in einer Gebetsszene in schwerer Bedrängnis: In einem (von der Solo-Oboe begleiteten) Arioso bittet er den himmlischen Vater, den bitteren Kelch von ihm zu nehmen, doch gleichzeitig äußert er mit Bestimmtheit, dass er des Höchsten Willen erfüllen will. Immer wieder und in immer kürzeren Abständen wird der von lastenden Streicherklängen begleitete mutlos wirkende Gesang durch rezitativische Einschübe unterbrochen: „Die Kräfte wollen mir gebrechen“ oder „Kaum weiß ich mehr zu sprechen“ und „Der Odem fällt mir schwer“, zuletzt dann „Ich kann nicht mehr“- der Hörer erlebt einen zutiefst menschlichen Jesus, der zu zerbrechen droht.


    Die Andacht wirkt angesichts des Leidenden in einem Accompagnato tief erschüttert; opernhaft drückt Telemann den Jammer, das Zittern und Zagen und den Todesschweiß mit expressiver Musik aus. Auch die anschließende Arie (von zwei konzertierenden Solo-Violinen begleitet) wirkt wie aus einer Oper stammend - vielleicht ein Zeichen dafür, dass „Seliges Erwägen“ in zeitlicher Nähe zu der Oper „Der Sieg der Schönheit“ entstand? Jedenfalls lassen die beiden Solo-Instrumente mit den akkordisch verlaufenden Passagen das Tropfen des Blutes und der „Tränen Perlenregen“ erahnen:


    Ihr blutgen Schweißrubinen, ihr sollet mir zum Mahlschatz* dienen,
    den Jesus mir als Bräutgam gibt. Was aber geb ich ihm dagegen?
    Ach, meiner Tränen Perlenregen, zum Zeichen, dass mein Herz ihn liebt.

    *Ein Schatz, den sich Verlobte schenken.
    Den Schluss dieser dritten Betrachtung bildet ein Choralvers (von Paul Gerhard, Melodie „Nun ruhen alle Wälder“ [Innsbruck, ich muss dich lassen] von Heinrich Isaac) der abermals nur mit der Anfangszeile abgedruckt ist, somit als bekannt vorausgesetzt wurde:


    Tritt her und schau mit Fleiße, sein Leib ist ganz mit Schweiße des Blutes überfüllt;
    aus seinem edlen Herzen für unerschöpften Schmerzen ein Seufzer nach dem andern quillt.


    Vierte Betrachtung: Der beklagte und verspeiete Jesus.


    Der Hohepriester Kaiphas stellt sich in seiner einleitenden Arie als hochmütiger Kleriker vor:


    Recht und Gerechtigkeit zu hegen, hat uns des Höchsten Mund bestellt.
    Wir sind die Götter dieser Welt, und unser Spruch ist nicht zu widerlegen.


    Rezitativisch wird er dann Jesus gegenüber deutlich: Er sieht in ihm einen Schänder des Sabbat, ein die Lehren des Moses ablehnenden Aufrührer und - todeswürdiges Verbrechen - einen sich selbst zum Gott erhobenen Menschen, der auch noch Salomos Tempel zerstören und - lächerlich - in drei Tagen wieder aufbauen will. „Ist dem also?“ fragt Kaiphas, erhält aber keine Antwort. Erst auf Nachhaken gibt der Angeklagte zu Protokoll: „Du sagst es, ja!“ Die anschließende Arie „Wenn die Gerichts-Posaune schallt“ zeigt plötzlich einen völlig anderen Jesus: Fiel er bisher mit Klängen der Sanftmut und Geduld auf, wird hier plötzlich majestätische Überlegenheit hörbar.


    Kaiphas ist nach Jesu Rede außer sich und erkennt auf Gotteslästerung, die den Tod zur Folge haben muss. Die allegorische Andacht will das verhindern und ruft zum Innehalten auf. Ihre Arie


    Menschenhände, Menschenlippen, tun, was nicht der Teufel tut.
    Denn sie schlagen und verspeien den, den doch die Teufel scheuen in dem Schlund der Höllenglut.

    zeigt Verständnislosigkeit gegenüber menschlicher Verhaltensweise mit kleinstimmiger, melodisch auseinandergerissener orchestraler Begleitung, die aus unisono geführten Violinen (ohne Viola und ohne Celli) und zwei Oboen besteht. Dann schließt die vierte Betrachtung mit dem Choralvers „Du edles Angesichte“ aus dem Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhard, wieder nur mit der ersten Zeile im Libretto abgedruckt, weil er bekannt war.


    Fünfte Betrachtung: Petri Buße.


    Petrus hat eine tiefgehende Wandlung durchgemacht: Er hat seine Schuld erkannt und gesteht sie in einem Accompagnato auch tränenreich ein. Seine ganze Zerrissenheit wird durch die kleingliedrige instrumentale Begleitung (nur Streicher mit B.c.) veranschaulicht: sind es zunächst schwer lastende Streicherakkorde, weichen sie plötzlich wilden Streicherpassagen und lassen den im Text erwähnten „Abgrund“ und „Luzifers“ Freude auf eine ihm zustehende Seele hörbar werden. Seine Erkenntnis drückt er in der Arie


    Mir ist die ganze Welt zu enge. Wo treff' ich Sünder Rettung an?
    Das Wasser, das die Augen quellen, vermehret nur die Glut der Höllen.
    Denn nichts kann mich zufrieden stellen, weil ich so schrecklich viel getan.

    aus. Hier sind es zwei Fagotte, die mit chromatischen Wendungen Petri Qual verdeutlichen.


    Nun kommt die allegorische Figur „Der Glaube“ mit einer trostspendenden Arie zu Wort, ihrer einzigen in diesem Passionsoratorium:


    Tränen, die der Glaube zeuget, greifen Gott an Seel' und Herz.
    Wenn man seine Rute küsst, und, für Reu und bittern Schmerz,
    durch und durch zerschlagen ist, wird er zu der Huld gebeuget.

    Darin spricht der Glaube zwar konkret Petrus an, meint aber alle Christen, denen er versichert, dass Gott echter Reue auch Erbarmen folgen lässt - denn der durch eigene Schuld Verzweifelnde wird vom himmlischen Vater getröstet. Die Musik, von zwei Piccoloflöten ausdrucksstark begleitet, hat eine beruhigende und friedvolle Wirkung auf den Hörer.


    Den Schlusspunkt setzt wieder ein Choralvers (von Johann Georg Albini d. Ä., Melodie von einem unbekannten Musiker, vielleicht Johann Rosenmüller), dessen Text in der Conclusio (Hat die Sünd dich entzündt) gegenüber der Originaldichtung abweicht - vielleicht hat ihn Telemann selbst umgetextet:


    Straf mich nicht in deinem Zorn, großer Gott, verschone.
    Ach, lass mich nicht sein verlorn, nach Verdienst nicht lohne.
    Hat die Sünd dich entzündt, lösch ab in dem Lamme deines Grimmes Flamme.


    Sechste Betrachtung: Der blutige Jesus.


    Diese sechste Betrachtung ist eine kleine Solo-Kantate für die Andacht (Tenor oder Sopran II), die zu Beginn im Rezitativ den Vers 25 aus Matthäus 27 „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“ zitiert, nach Telemanns Konzeption natürlich als streicherbegleitetes Arioso. Der Text geht auf Pilatus' Aussage zurück, wonach er Jesus für unschuldig hält und sein Blut nicht vergießen will; daher ruft er dem Volk zu: „Sehet ihr zu!“ Das antwortet darauf mit dem Zitat.


    Die Andacht wendet die blutrünstige Forderung des Volkes in einen Segen für sich (und damit allen Gläubigen) um: Ihr wolltet diesen Fluch auf euch nehmen, doch „mir wirds zum Segen kommen“. Die anschließende Arie (von zwei Corni da caccia begleitet)


    Droht der Satan meiner Seelen, sie dort in dem Pfuhl zu quälen,
    ach, so komme mir zu gut, JESU, dein gerechtes Blut.
    Wenn mich mein Gewissen naget, und den Himmel mir versaget,
    ach, so komme mir zu gut, JESU, dein gerechtes Blut.
    Wenn ich mich zum Grabe wende, und den Lebenslauf vollende,
    ach, so komme mir zu gut, JESU, dein Gerechtes Blut.

    ist als Bittgebet zu verstehen, dass der sündige, aber erkennende Mensch an Gott richtet.


    Vor der nächsten Arie (Ich treff auf deinen blutgen Rücken) steht ein Rezitativ, das der Andacht, über den durch die Geißelung verwundeten Jesus reflektierend, die Tränen in die Augen treibt. Doch dieses Leiden wird den Gläubigen Heil bringen, weil alle Sündenschuld „abgetan“ sein wird. Den Schluss dieser Betrachtung bildet der erste Choralvers des Passionsliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“. Auch hier weist der Librettodruck nur die erste Zeile aus, denn dieser Choral gehörte und gehört noch heute zu den bekanntesten Kirchenliedern von Paul Gerhard (die Melodie stammt von Hans Leo Haßler und wurde von Johann Crüger harmonisiert).


    Siebte Betrachtung: Der gekreuzigte Jesus.


    Im einleitenden Rezitativ kündigt Jesus, inzwischen gekreuzigt, an, sein Leben vollendet zu haben, womit auch sein eigenes Leiden endlich vorbei sei. Gleichzeitig muss er, wie er stockend sagt, aller Menschen Sünden „sterbend überwinden“. Das versichert er noch zusätzlich in der Arie


    Ich will kämpfen, ich will streiten, bis die Hölle wird besiegt.
    Will ich gleich den Kampfplatz färben, muss doch auch der Drache sterben,
    wenn der Löw' erblasset liegt.

    Es ist ein durch Dreiklangsfiguren und Koloraturen auffällig komponiertes Stück Musik, das aber den Herrn der Welt zu charakterisieren vermag. Diesen Eindruck kann auch nicht die sparsame Instrumentierung (unisono geführte Violinen und Oboe sowie Viola und der in der Barockmusik allgegenwärtige Basso continuo) wegwischen.


    Die Andacht berichtet, zunächst rezitativisch (für Tenor oder Sopran II), dann in einer Arie (Tenor oder Sopran I), von Jesu Kreuzigung: Der, der „das Holz des Lebens“ ist, wird nun an das „Holz geschlagen“. Sie erinnert weiter daran, dass der „Baum im Paradies“ alle Menschen in das „Elend“ stieß, denn dort hingen nicht nur die Früchte, sondern wartete auch die Schlange. Aber jetzt ist der „Schlangentreter“ in die Welt gekommen und hier, auf Golgatha, gestorben. Damit ist durch Jesus die Erbsünde getilgt.


    Die Betrachtung schließt mit dem als Gebet der Gläubigen zu verstehenden Choralvers


    Jesu, unter deinem Kreuz stehe ich und weine.
    Weil ich seh, dass allerseits, vom Haupt auf die Beine, fleußt dein Blut, der edle Saft,
    als der Leib zerbirstet;
    das gibt mir vollkommne Kraft, wonach mich sehr dürstet.


    Der Text (Paul Stockmann, Melodie Melchior Vulpius) ist im Librettodruck zur Gänze abgedruckt.

    Achte Betrachtung: Der sterbende Jesus.


    Jesus verabschiedet sich in einem Arioso mit den Worten „Es ist vollbracht“. Bevor er den Vater bittet, seine Seele gnädig aufzunehmen, lässt ein anderer Satz erkennen, dass jenes „vollbracht“ eine doppelte Bedeutung hat: Jesus wird zwar in wenigen Augenblicken sein Leben aushauchen, hat aber auch „Satanas überwunden“- und die Gläubigen aller Zeiten aus ewiger Verdammnis errettet.


    Der eingeschobene Choral (2. Vers von „O Traurigkeit, o Herzeleid“ von Johann Rist) bestätigt Jesu bitteres, zugleich aber für die Menschen triumphierendes Ende:


    O große Not! Gott selbst liegt tot!
    Am Kreuz ist er gestorben, hat dadurch das Himmelreich uns aus Lieb erworben.


    Nun meldet sich Zion, zunächst rezitativisch, dann mit einer Arie (ihrer einzigen), zu Wort und berichtet von einem Erdbeben schrecklichen Ausmaßes, weil „der Schöpfer nicht mehr lebt“. Der Text dient aber auch als Vergleich mit den „versteinerten Herzen“ der Menschheit, die, gleich der zerberstenden Welt, jetzt erzittern und erbeben werden.


    Der Schlusschor, zwei Verse aus dem so genannten „Klugschen Gesangenbuch“ (im Libretto vollständig wiedergegeben, weil sie nicht im Hamburgischen Gesangbuch standen), wird auf die Melodie des Passionschorals „Nun lasset uns den Leib begraben“ gesungen:


    Nun gibt mein Jesus gute Nacht, nun ist sein Leiden vollenbracht,
    nun hat er seiner Seelen Pfand geliefert in des Vaters Hand.
    Kommt, ihr Geschöpfe, kommt herbei, und machet bald ein Klaggeschrei,
    das grausam sei zur selben Frist, da Gott am Kreuz verschieden ist.


    Neunte Betrachtung: Der ins Grab gelegte Jesus.


    Der letzte Teil von Telemanns Passionsoratorium ist wieder als kleine Solokantate für die Andacht angelegt. Am Anfang steht die von einem Flauto traverso und einer Oboe konzertierend und die Singstimme imitierend begleitete Arie „Jesus spannt die Gnadenflügel nach den Sündern sterbend aus“. Telemann schreibt den Holzbläsern auf- und abschwingende Bögen in die Noten, die einen emphatischen Eindruck hervorrufen. Ein Rezitativ, das nach wenigen Takten einem Accompagnato weicht, beschreibt, dass Jesus - die Andacht nennt ihn jetzt „Osterlamm“ - nach seinem Tode vom Kreuz genommen und in einem Grab zur letzten Ruhe gebettet wurde. Mit einem Accompagnato verabschiedet sich die Andacht, Jesus „gute Nacht“ und von ausgestandenem Jammer jede Ruhe wünschend - um dann ihr Herz dem Heiland als „Ruhekammer“ anzubieten. Und, so Jesus im Herz tragend, will sie „deinen Tod bis an den Tod erwägen“.


    Das Oratorium klingt mit dem 10. Vers aus „O Haupt voll Blut und Wunden“ tröstend aus:


    Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod;
    und lass mich sehn zum Bilde in deiner Kreuzesnot,
    da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll,
    dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl.


    ______________


    ÄNDERUNGEN FÜR EINE BERLINER AUFFÜHRUNG


    Im Jahre 1763 hat der Kantor an der Berliner Petrikirche, Rudolf Dietrich Buchholz, Telemanns Oratorium aufgeführt. Ob dies die erste in Berlin war, lässt sich nicht mehr feststellen, kann aber angesichts der raschen Verbreitung von „Seliges Erwägen“ bezweifelt werden. Für seine Interpretation hat Buchholz am Ablauf Änderungen vorgenommen, die aus einer Partiturabschrift hervorgehen, die für die Prinzessin Amalie hergestellt wurde: So ist die Arie des Glaubens „Tränen, die der Glaube zeuget“ in der fünften Betrachtung gegen ein Accompagnato mit Terzett für Sopran, Tenor und Bass ausgewechselt worden, wobei nur das Terzett die Autorenangabe „von Hrn. Telemann componirt“ enthält. Der Text lautet


    Accompagnato
    (nur von Streichern begleitet, Tempo von Grave über Poco allegro zu Andante wechselnd):
    Sopran: So teuer kauft man dich, unselge Brut der Hölle, dich, o Sünde,
    und quält in deinem Dienste sich, dass man einst mühsam Trost für deine Foltern finde.

    Tenor: Wie wütet sie im Innersten der Brust.
    War ihre Schuld doch nicht des Trosts bewusst, wünsch ich, ich wäre nie!

    Bass: Da stehet der Sünder Tröster Christ. Ein Blick von seiner Huld hemmt Petri Zähren.
    Er wird, wenn unsre Trän gleich ernstlich ist, uns gleiche Rettung auch gewähren.


    Terzetto (nur Streicherbegleitung, mit „Mäßig“ überschrieben):
    Rette mich, ich flehe dir, Gott der Menschen, Gott der Götter.
    Die mich liebten, fliehn zurück, mächtig sind sie, die mich hassen, schwach bin ich.
    Offne Gräber drohen mir, Stürme, Fluten, Donnerwetter rüsten sich.
    Sieh, wie mich des Todes Strick und der Höllen Band umfassen, rette mich.

    Auffällig ist in diesem Terzett die deutsche Schreibweise der Tempoangabe (Mäßig für Andante) und der dynamischen Zeichen mit „gelinde“ für piano, bzw. „st“ (stark) für forte und „etwas stark“ für mezzoforte.


    Eine weitere Änderung betrifft die der siebten Betrachtung vorangestellte „Cavata“ (Cavatina) des Jesus aus Telemanns Matthäus-Passion von 1758. Auch hier sind die dynamischen Zeichen in deutscher Sprache notiert. Der Text der Cavata, die nur von Streichern begleitet wird, lautet


    Mein Gott! Dein Sohn bin ich! Und du verlässest mich?
    Du halfst den Vätern meiner Seele, du halfst, sie hofften nur auf dich.
    Mein Gott! Dein Sohn bin ich!
    O sieh, wie ich mich schmachtend quäle! Nicht mehr ein Mensch, ein Wurm bin ich.
    Wie Wasser bin ich ausgegossen; die Zunge klebt am dürren Gaum,
    mein Herz ist wie ein Wachs zerflossen, und mein Gemein erhebt sich kaum!
    Mein Gott! Dein Sohn bin ich!
    Ich werd erboster Mäuler Raub, du legst mich in des Todes Staub.
    O sei nicht weiter fern von mir! Die Angst ist nah! Kein Helfer hier!
    Mein Gott, dein Sohn bin ich, und du verlässest mich.


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Das hier vorgestellte Werk gehört zu jener neuen Art, die sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts im protestantischen Deutschland herausgebildet hatte: Biblische Berichte, darunter natürlich auch die Passionsgeschichte wegen ihres unbestreitbar dramatischen Inhalts, wurden nicht mehr wörtlich vertont und vorgetragen, sondern paraphrasiert nacherzählt. Das bot den Literaten und Komponisten nach dem Vorbild „Oper“ die Möglichkeit, affektgeladene Szenen zu formen. Natürlich gab es, überwiegend formuliert von der konservativen Geistlichkeit, Protest gegen diese neue Form, aber das Ergebnis war nicht das Verbot des Neuen, sondern die Etablierung einer neuen Art neben dem Gewohnten. Immerhin erreichten die Proteste, hier bezogen auf Hamburg, die Verbannung von Oratorien aus den Kirchen hin in den öffentlichen Konzertsaal.


    Telemanns „Seliges Erwägen“ ist nach den Vorstellungen der Zeit ein Passionsoratorium und wurde in öffentlichen Räumen (in Hamburg auch in Nebenkirchen) als Konzert aufgeführt. Dagegen ist die liturgische Passion, die den Bibelbericht wörtlich wiedergibt, eine in Kirchen aufzuführende Musik (in Hamburg waren das die Hauptkirchen St. Michaelis, St. Petri, St. Katharinen, St. Jacobi und St. Nicolai).


    Telemann hat sich bei seinem Passionsoratorium auf etablierte und erfolgreiche Vorlagen stützen können, so z.B. Christian Friedrich Hunolds „Der blutige und sterbende Jesus“ (Hamburg 1705) und natürlich Barthold Hinrich Brockes „Der für die Sünde der Welt leidende und sterbende Jesus“ (Hamburg 1712, von Telemann 1716 in Musik gesetzt). Diesen ambitionierten Libretti setzte er aber eine betont einfache, jedes Pathos meidende Dichtung entgegen, bleibt dabei lyrisch und lässt, bis auf zwei Ausnahmen (Jesus-Petrus, Kaiphas-Jesus), keine direkten Dialoge zu. So spricht Jesus zwar in der ersten Betrachtung seine Jünger an, doch bleibt eine Antwort aus. Weil der Komponist auf einen Chor verzichtet (die Turbae sind von den sich zusammenstellenden Solisten zu singen), gibt es auch keine Volksmenge. Kurz gesagt: Telemann zeigt keine Handlung, er reflektiert und regt die Zuhörer zur Reflexion an.


    Diesem Konzept folgend, also Mitfühlen und Mitleiden erreichen wollend, ist die „Hauptperson“ die allegorische Figur der „Andacht“, gefolgt von „Glaube“ und „Zion“, die jedoch nur jeweils eine Arie erhalten. Ihnen kommt die Aufgabe des Beschreibens, des Vermittelns und Betrachtens von Ereignissen zu. Als „historische“ Personen sind nur Jesus, Petrus und Kaiphas präsent.


    „Seliges Erwägen“ ist nach heutigen Erkenntnissen in Hamburg komponiert und am 19. März 1722 im „Hamburgischen Werck- und Zuchthause“ uraufgeführt worden. So hat es jedenfalls Telemanns Enkel, Georg Michael, mitgeteilt: Der Großvater hat die Musik „entweder a[nno] 1721 oder [17]22, wenigstens gleich in den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Hamburg verfertiget“. Auch Telemann selbst erwähnt es in seiner Autobiographie von 1740 als zu den in Hamburg entstandenen Werken gehörig. Eine andere Meinung hat noch 1987 Werner Menke (Georg Philipp Telemann - Werküberlieferung, Edition und Interpretationsfragen) vertreten: Er schrieb von einer in Frankfurt entstandenen Frühfassung. Menke hielt die Aussage von Telemanns Enkel für nicht gesichert - möglicherweise, weil ihn eine Stelle in Caroline Valentins „Geschichte der Musik in Frankfurt am Main vom Anfange des XIV. bis zum Anfange des XVIII. Jahrhunderts“ (Frankfurt am Main 1906) auf die falsche Fährte gelockt hatte. Dort heißt es: „Sein ganz eigenes damaliges Passionsoratorium was das Selige Erwägen in acht [sic] Betrachtungen, das er 1719 noch in Frankfurt gedichtet und komponiert hatte; über die Aufführung liegen keine Nachrichten vor.“ Weil Valentin von acht Betrachtungen schrieb, hat Menke vielleicht auf eine „Frühfassung“ geschlossen, wobei die neunte Betrachtung dann in Hamburg komponiert wurde und das Werk damit komplettierte.


    Auf das Datum der Erstaufführung weist eine öffentliche Ankündigung (zumindest als Indiz) hin, wonach am 19. März 1722 „eine gantz neue von dem Hrn. Telemann componirte Passion“ im Werk- und Zuchthaus zur Aufführung kommen werde. Der Titel des Werkes wird zwar nicht genannt, es kann aber nach Lage der Dinge nur das „Selige Erwägen“ gewesen sein. Die erste Erwähnung mit Titelangabe erfolgte in einer Zeitungsankündigung vom 14. März 1724 für den 16. März des Jahres.


    Bei der Uraufführung 1722 wurde in der o.e. Ankündigung (wie damals üblich) darauf hingewiesen, dass ein Libretto „an der Pforte gegen eine Erkäntlichkeit denen Armen zum Besten“ erworben werden muss - als Eintrittskarte. Die Herausgeberin der Partitur, Ute Poetzsch, nennt als weiteres Indiz für die Erstaufführung im Jahre 1722 ein musikalisches: „Die musikalische Sprache, derer sich Telemann bedient, ist die der Oper 'Der Sieg der Schönheit', die im Sommer 1722 erstmals aufgeführt wurde.“



    © Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2015
    unter Hinzuziehung des Librettodrucks aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg
    und der Partitur aus dem Bärenreiter-Verlag, 2001

    .


    MUSIKWANDERER

    Einmal editiert, zuletzt von musikwanderer ()

  • Bei dem Tamino Werbepartner jpc gibt es Telemanns Oratorium nur in zwei Boxen, nicht aber als einzelnes Werk zu kaufen:



    Bei dieser Kassette verschweigt jpc die Interpreten; sie sind, nach Aufzählung der vorhandenen Werke, nur summarisch bei den mitwirkenden Künstlern genannt, was natürlich keinen Rückschluss auf das "Selige Erwägen" zulässt.


    Die Beschreibung beim nebenstehenden Angebot nennt die Ausführenden zu jeder Komposition. Hier werden die Namen Locher, Vandersteene, Dörr, Freiburger Vokalensemble, L'Arpa festante München, Schäfer, angegeben.

    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • lieber Musikwanderer,
    danke für Deine Zeilen.
    Als "Melante" folge ich ihnen gern.
    Und kenne das Werk und schätze es.
    Aber was möchtest Du sagen?


    Du schreibst einen Bericht und es gibt keinen Anlass, irgendwo einzuhaken.
    Ist nicht erschreckend schön, wie Telemann im Eingangschor polnische Harmonik verwendet?
    Quinten fallen und finden sich nur gleich in Händels "Saul", in "Oh, Jonathan".


    Ist nicht Telemanns Art, Passionen zu komponieren, der Bachschen gleich?
    Sicher, mit anderen Mitteln, weitaus subjektiver.


    Also: wie hast Du das Werk erlebt?
    Denn darum geht es Telemann, glaube ich zumindest.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • und es gibt keinen Anlass, irgendwo einzuhaken.


    Nein, und dies ist hier auch nicht gewollt. Opern- bzw. Oratorienführer haben bewußt lexikalischen Charakter. Also lediglich Inhaltsangabe und ggf. diskografische Hinweise. Für Gespräche über die Werke kann aber gern ein eigener Thread aufgemacht werden.

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Lieber Melante,


    obschon, Reinhard hat's richtig beschrieben, in diesen lexikalisch gedachten Threads keine Diskussionen erwünscht sind, will ich doch aus "Höfligkeit" auf Deinen Beitrag antworten:


    Dass mein Versuch, eine inhaltliche Beschreibung von Telemanns Passionsoratorium abzugeben, Dir gefallen hat, freut mich natürlich - deute ich Deinen Nicknamen als Anagramm richtig, bin ich sogar etwas stolz.


    Dennoch werde ich des Moderators Anregung für einen gesonderten Thread nicht aufgreifen - vielleicht machst Du das?! Im Moment fühle ich mich dazu überfordert, weil noch so viele Themen für den Opern- und für den Oratorienführer (darunter noch einige "Telemänner") der Erledigung harren.


    Danke also für Deine ermunternden Worte.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Lieber Musikwanderer,


    ja, mein "Melante" kommt nicht von "ohngefähr".
    Also nochmals Dank an Dich, dieses eher entlegene Werk hier vorgestellt zu haben.


    Ob ich mich entschließe, einen Thread aufzumachen - oder gar weiterzuführen? - weiß ich noch nicht.
    Darum hier kurz zur Einspielung: sie erschien ursprünglich beim kleinen Label Amati, das seinen Odem wohl inzwischen ausgehaucht hat.
    In dieser Form, also auf zwei CDs, besaß ich das Werk ehedem und würde es womöglich auf einer meiner Festplatten auch wiederfinden.


    Ich erinnere mich noch, es mal mit einer sehr religionsfeindlichen Bekannten gehört zu haben, die daraufhin mit sich haderte: "Wieso schreiben die alle die schönste Musik immer dann, wenn's um Jesus geht?!?"


    Jetzt aber möchte ich die Form hier dann doch wirklich nicht sprengen.


    Herzliche Grüße,
    Mike