"Ausdruck mit Risiko" oder (vermeintliche) Perfektion?

  • Kürzlich diskutierten wir an anderer Stelle anhand der neu entdeckten Aufnahme des "Lohengrin" unter Hans Knappertsbusch das Für und Wider von Live-Aufnahmen, die ganz dem Moment verpflichtet sind. Im genannten Thread wurden Pros und Contras von Interpretationen, die den Ausdruck über die fehlerfreie Exaktheit stellten, nebeneinander aufgezeigt.


    Eigentlich ist dies aber ein Themenkomplex, der eine ganz allgemeine Diskussionsgrundlage bietet, nämlich die Frage, ob risikofreudiges Spiel, wenn man so will "auf der Stuhlkante" (womit ein weiteres aktuell diskutiertes Feld angerissen wird), über echte oder vermeintliche Perfektion geht. Beim Begriff "Ausdruck mit Risiko" im Titel dieses Themas habe ich mich einer Formulierung des geschätzten Forenmitglieds Rheingold1876 bedient, die es treffend auf den Punkt bringt.


    Man sollte meinen, man könnte den Thread im weiteren Sinne vielleicht auch "Live-Mitschnitt oder Studioeinspielung?" nennen. Aber das wäre m. E. doch eine Verkürzung auf den Tonträger. Zudem gibt es da ja auch Überschneidungen. Eine Live-Darbietung kann ja auch auf Perfektion gedrillt sein. Und bekanntlich gab es auch im Studio Interpreten, denen die absolute Makellosigkeit nicht über alles ging. Kann es überhaupt Vollkommenheit in Hinblick auf Musik geben? Und wenn ja, äußert sich diese ausschließlich in buchstabengetreuer, fehlerfreier Interpretation?


    Mir scheint, als habe sich das Verständnis diesbezüglich grundlegend gewandelt. Musiker, die noch im 19. Jahrhundert sozialisiert wurden und in dessen Geiste verwurzelt waren, hatten nicht selten Probleme mit dem Gedanken einer makellosen Darbietung ohne den kleinsten Verspieler. Diese Diskussion wurde virulent mit der allgemeinen Etablierung der Tonaufnahme. Durch ständige "Überwachung" musste nun ein gewisser Teil der Darbietung darauf verwendet werden, bloß keine Patzer zu machen. Dies war ja nun für alle Ewigkeit nachhörbar.


    Hat dies nicht letzten Endes auch die Risikofreude gehemmt? Schon Joachim Kaiser äußerte einen diesbezüglichen Verdacht im Zusammenhang damit, warum die großen alten Interpreten für viele unerreicht seien. Einem Furtwängler, Mengelberg oder Knappertsbusch, aber auch einem Rubinstein und einer Ney, sah man diverse Schnitzer nach, hatte man doch das große Ganze im Blick. Alle genannten waren nun Interpretinnen und Interpreten, die sich ganz dem Ausdruck verpflichteten. Könnten diese heute überhaupt noch zu den Größten innerhalb ihres Faches aufsteigen?


    Über diverse Wackler in historischen Aufnahmen macht sich der Hörer des 21. Jahrhunderts zuweilen lustig und argumentiert, früher sei eben doch nicht alles besser gewesen. Die Orchester spielten heutzutage viel perfekter, die Dirigenten dirigierten viel genauer nach der Partitur, die Sängerinnen und Sänger sängen viel näher am Notentext. Doch geht dabei nicht auch ein Teil von künstlerisch-gestalterischer Freiheit verloren?


    Heute wird ein Dirigent, der sich nicht "historisch informiert" einem Werk nähert, scheel angesehen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Meistens sind es in Würde ergraute alte Herren, bei denen man noch ein Auge zudrückt. Die Jungen hätten sich hingegen gefälligst mit den exakten Metronomzahlen auseinanderzusetzen, weil es ja der Komponist genauso und nicht anders gewollt habe. Die Jagd nach dem Metronom förderte so manche verhetzte und gefühlskalte Aufnahme zu Tage, die dann trotzdem nicht wenigen als die vermeintliche Referenz gilt, die alles, was da gewesen ist, alt aussehen ließe.


    Was ist euch wichtiger? Risikofreude mit eigener, teilweise exzentrischer Note? Oder perfekte Vollkommenheit? Oder aber gibt es gar eine Symbiose von beidem?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo,


    interessantes Thema, danke für die Eröffnung. :)


    Was ist euch wichtiger? Risikofreude mit eigener, teilweise exzentrischer Note? Oder perfekte Vollkommenheit? Oder aber gibt es gar eine Symbiose von beidem?

    Glücklicherweise muss man sich bei der heutigen Vielfalt der Möglichkeiten in aller Regel nicht entscheiden, sondern hat die Wahl zwischen Alternativen, die man auch gleichzeitig im CD-Regal stehen haben kann.
    Mich stören bspw. Live-Aufnahmen überhaupt nicht, selbst wenn dort nicht immer alles perfekt gelingt. Nicht selten schafft das eben auch eine authentischere, lebendigere Atmosphäre und man erfährt beim Hören immerhin, dass die ausführenden Künstler offenkundig auch nur fehleranfällige Menschen sind. ;)



    Zitat

    Mir scheint, als habe sich das Verständnis diesbezüglich grundlegend gewandelt. Musiker, die noch im 19. Jahrhundert sozialisiert wurden und in dessen Geiste verwurzelt waren, hatten nicht selten Probleme mit dem Gedanken einer makellosen Darbietung ohne den kleinsten Verspieler. Diese Diskussion wurde virulent mit der allgemeinen Etablierung der Tonaufnahme. Durch ständige "Überwachung" musste nun ein gewisser Teil der Darbietung darauf verwendet werden, bloß keine Patzer zu machen. Dies war ja nun für alle Ewigkeit nachhörbar.

    Klar, die mit diesem Druck zusammenhängende Erwartungshaltung bildet heute die grundlegende Basis für den individuellen Ausdruck. Das Niveau ist halt in der Fläche deutlich höher und wenn "Fehler machen" vor Jahrzehnten vielleicht noch ein (!) Unterscheidungskriterium war, so wurde dieses nahezu "wegnivelliert". Ein Differenzierungskriterium ist somit weitestgehend schlicht entfallen.


    Mir persönlich sind Ausdruck und emotionale (nicht unbedingt individuelle) Ansprache durch den Interpreten sehr wichtig. Wichtiger als Perfektion bis ins Letzte. Der Rahmen dessen, was jeder für sich als zulässig erachtet, in Sachen Individualität, ist sicher sehr dehnbar. Ich lehne sie ab, wenn ich Individualität als Selbstzweck (Marketing) wahrnehme und / oder ich den Eindruck gewinne, dass ein Werk sinnentstellt wird, durch die Aufführung. Als grenzwertige Beispiele mag man hier die HIP-Bemühungen von Anima Eterna bei romantischem Repertoire oder auch die Vorstellungen hinsichtlich der Wahl des Tempos seitens Celibidache ansehen.


    Viele Grüße
    Frank

  • In den Besprechungen der Interpretationen von Artur Schnabel der beethovschen Klaviersonaten wird oft erwähnt, dass sich der Pianist erlaubt hat Noten wegzulassen oder falsche Töne sich in sein Spiel eingeschlichen haben. Man darf nicht vergessen, die Aufnahmen entstanden in der Zeit der Schellackmatrize, die nur einmal bespielt werden konnte. Die technischen Möglichkeiten des Herausschneidens oder der Wiederholung einzelner Passagen standen den Aufnahmetechnikern nicht zur Verfügung. Gleichwohl werden diese Aufnahmen trotz ihres verrauschten Zustandes und der Schnitzer hoch gelobt.


    Die Makellosigkeit und Perfektion sind heute auch in Live Aufnahmen gefordert. Sie sind vielleicht auch ein Feind der guten Interpretation. Fehler dürfen passieren.


    Es kommt mir der Nudelsketch von Loriot in den Sinn, wo ein Mann seiner Angebeteten im Restaurant einen Hochzeitsantrag macht und sich eine Nudel auf sein Gesicht verirrt. Als Zuschauer schaut man nur noch auf die Nudel und ist vom Dialog abgelenkt. Menschen schauen aufs Detail und achten zu wenig auf den Gesamteindruck. Über die beiden Aussagen "Oft bedarf es nur einer Kleinigkeit und alles sieht anders aus." - "Es kann, aber es darf nicht vorkommen." kann man philosophieren.


    Ich bin für Lebendigkeit anstelle von steriler Perfektion.


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ja, man muß sich dessen bewusst sein, daß in der Vergangenheit nicht nur andere (im Sinne von schlechtere) technische Gegebenheiten herrschten, sondern auch ein anders System von Beurteilung. Klinische Perfektion war keine Voraussetzung für eine Aufführung die vom Publikum geschätz wurde - mit Ausnahmen von einigen "Virtuosen" deren künstlerischen Wert man dafür HEUTE in Frage stellt, weil man der Meinung ist, fehlerfreies Spiel sei die Grundlage jeglicher Interpretation - eine Selbstverständlichkeit gewissermaßen. Teilweise wird au höchste "Neutralität" dem Notenmatereial gegenüber gefordert, in früheren Zeiten geschätze Individualismen werden heute teilweise als "Unarten" gegeisselt.....

    Aber - alles kommt mal wieder. Es gibt auch heute Pinisten, die auf Grund spezieller "Eigenheiten" - teilweise auch aussermusikalischen - zu Ruhm gelangen und von der staunenden MENGE bejubelt werden. (Schnellster Pianist des Weltalls etc etc...)

    Riskofreudiges oder fehlerfreies Spil simd aber nur zwei Aspekte - es gibt deren mehrere, so zum Beispiel "geglättete" Interpetationen (vor allem beri Dirigaten)

    Das war lange Zeit durchaus in Mode. Zahreiche Dirigenten "verbesserten" Werk durch Änderung an der Instrumentation oder glätteten Risse, besserten "Fehler" des Komponisten aus und machten die Werke "aufführungsreif und "publikumskompatibel"

    All das wird unterschiedlich beurteilt, wobei ich die Wertschäzung von beispielsweise Glenn Gould nicht nachvollziehen kann - freundlich formuliert

    (Diskussionen zu diesem Statement - gerne - aber bitte im Glenn Gould-Thread)


    mfg aus Wien

    Alfred


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Eine falsche Note zu spielen ist unwichtig,

    aber ohne Leidenschaft zu spielen, ist unverzeihlich.


    Ludwig van Beethoven (1770-1827)


    .

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  • Eine falsche Note zu spielen ist unwichtig,

    aber ohne Leidenschaft zu spielen, ist unverzeihlich.


    Ludwig van Beethoven (1770-1827)

    Na, da hat er ja Schnabel qauasi einen Freibrief ausgestellt,

    den dieser gerne benutzt hat----:hahahaha::untertauch:

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hier steht S. 208:


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    "Die Tatsache, daß er bei Konzerten und sogar bei Schallplattenaufnahmen falsche Noten nicht vermeiden konnte, spricht nicht gegen seine Technik, sondern ist darauf zurückzuführen, daß er sich ausschließlich auf die Musik konzentrierte. Niemals gestattete er sich, irgendein Detail der Artikulation oder des Ausdrucks einer Spielweise zu opfern, die nur auf Sicherheit bedacht war. Er machte sich oft über jene Pianisten lustig, die mit einem >Not-Maestoso< ihre technische Unsicherheit verdeckten (zum Beispiel am Ende des Capriccios op. 116 Nr. 1 von Brahms) und auf Kosten des musikalischen Schwungs richtige Noten zu treffen hofften."


    Zu den Schallplattenaufnahmen gibt es die folgende Anmerkung: "Sie sind alle vor der Verwendung von Schnittechniken entstanden."


    Schnabel war ein "Expressionist" - für ihn war Ausdruck wichtiger als Perfektion. Und deshalb hat er oft lieber "ohne Netz und doppelten Boden" gespielt, als einen langweiligen Perfektionismus zu pflegen. Die Sichtweise hat sich m.A. durch die Verbreitung der Schallplatte (mit Schnitttechniken!) verändert. Die Perfektion, die man auf der Platte erwartet, wurde dann auch in den Konzertsaal getragen. Die Generation von Schnabel und Gieseking spielte noch im Studio bei der Aufnahme so risikofreudig wie im Konzert - später kehrt sich das dann um: Man spielt selbst im Konzert mit so einer Perfektion, wie man sie im Tonstudio erwartet. Martha Argerich z.B. sagt, dass es für sie schon in jungen Jahren selbstverständlich war, ohne auch nur eine einzige falsche Note zu spielen. Wobei gerade Martha Argerich mit ihrer spontan-intuitiven Spielweise belegt, dass Perfektion nicht auf Kosten von Lebendigkeit gehen muss. Es hat sich einfach die musikalische Denkweise geändert.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Wobei gerade Martha Argerich mit ihrer spontan-intuitiven Spielweise belegt, dass Perfektion nicht auf Kosten von Lebendigkeit gehen muss. Es hat sich einfach die musikalische Denkweise geändert.

    Wie jede Medaille, so hat auch diese eine Kehrseite.

    Das führt allerdings dazu, daß nur ausgesprochen stabile Gemüter den Beruf des Konzertpianisten ergreifen werden.

    Das führt dann zu einer gewissen Einschränkung des Angebots. Vom heutigen Künstler wird fehlerfreies Spiel, makelloses Aussehen verlangt, und daß sie "pflegeleicht" sein sollen und auch Repertoire spielen sollen, das sie gar nicht wollen.

    Wenn man die Geschichte der Interpreten der Vergangenheit betrachte, so würden hier zahlreiche Ikonen der Vergangenheit durch den Raster fallen....


    Aber es ist nun mal so....


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !