Anton Webern. Der Lyriker unter den Liedkomponisten der „Neuen Wiener Schule“

  • Für den Start dieses Threads gibt es, unabhängig von den Neigungen und Interessen desjenigen, der ihn in die Wege leitet, einen rein sachlichen Grund. Die sog. „Neue Wiener Schule“ ist in Sachen Liedkomposition mit den Namen Arnold Schönberg und Alban Berg hier im Kunstlied-Forum bereits vertreten. Fehlt noch der „Dritte im Bunde“: Eben Anton Webern. Ihn hier nicht zu berücksichtigen, wäre ein Unding, ist er doch von diesen Dreien von seinem künstlerischen und kompositorischen Wesen her der eigentliche „Lyriker“. Rein vordergründig ist dies daraus abzulesen, dass mehr als die Hälfte seines publizierten, 31 Opera umfassenden musikalischen Werkes Vokalkompositionen sind.


    Aber, wie so oft, diese „Wiener Schule“ betreffend, ist Theodor W. Adorno wieder einmal zum Kern, zur Quelle des vordergründig zu konstatierenden Sachverhalts vorgestoßen, indem er aufzeigt, dass Weberns gesamtes musikalisches Werk den „Gesetzen musikalischer Lyrik“ gehorcht: „Ziel seiner Musik ist einzig und unausweichlich der lyrische Augenblick, in dem die Zeit sich drängt und verschwindet: darum ist sie entwicklungslos, im Gang von Werk zu Werk nicht anders als im Einzelwerk“.


    Der „Gang von Werk zu Werk“ kann natürlich hier nicht vollzogen werden. Gegenstand ist das „Einzelwerk“, das Lied also. Und es soll versucht werden, das Wesen der Liedsprache Weberns, so gut es einem musikwissenschaftlichen Laien eben möglich ist, anhand der Vorstellung und Besprechung einzelner Lieder aufzuzeigen. Mit dem Begriff „lyrischer Augenblick“ hat Adorno wohl in der ihm eigenen und manchmal schlaglichtartig erhellenden Sprachlichkeit eben dieses Wesen getroffen. Das ganz und gar Eigenartige, das einem in Weberns Liedern begegnet, ist die Tatsache, dass bei ihm die Melodik zu einer Struktur von Intervallen wird und zusammen mit einem ganz und gar eigenständigen Klaviersatz ein musikalisch autonomes Gebilde darstellt, in das der lyrische Text nicht die Funktion eines die Klanglichkeit bestimmenden Faktors hat, sondern in seiner lyrischen Sprachlichkeit zusammen mit Melodik und Klaviersatz die Substanz der Liedkomposition bildet.


    Webern hat sowohl Klavierlieder komponiert, wie auch Lieder mit Orchester- und Kammermusikbegleitung. Er begann damit im Alter von sechzehn Jahren, - jedenfalls stammt das früheste als Manuskript erhaltene Lied „Vorfrühling“ auf ein Gedicht von Ferdinand Avenarius) aus dem Jahr 1899. Seine frühen Liedkompositionen wollte Webern später nicht gelten lassen. Er sah sie – zu Recht – als tastende Versuche zur Entwicklung einer eigenen Liedsprache auf der Grundlage dessen, was ihm seine großen Vorbilder Brahms, Hugo Wolf, Richard Strauss und Richard Wagner vorgelegt hatten. Diesen Liedern denen Texte von Avenarius, Dehmel, Greif, Goethe, Nietzsche, Liliencron u.a. zugrunde liegen, haftet zweifellos in vielen Fällen etwas Epigonales an.


    Immer wieder blitzt aber schon sehr früh, und im Laufe dieser frühen Jahre der Liedkomposition immer mehr, das auf, was später zu einem spezifischen Merkmal der Liedsprache Weberns werden sollte: Ihre auf die Miniatur angelegte und sich darin konkretisierende musikalische Aussage. Insofern ist es nicht ganz verständlich, warum er gerade die frühen, in den Jahren 1906 bis 1909 entstandenen Liedkompositionen auf Gedichte von Stefan George und Richard Dehmel nicht gelten lassen wollte und ihnen eine Opusziffer verweigerte. Sein Biograph Hanspeter Krellmann hat zweifellos recht, wenn er dazu anmerkt:
    „Sowohl die Beziehung zwischen Wort und Klang als auch die kaum noch oder nicht mehr ableitbare Harmoniefolge in den Dehmel-Liedern bereiten die Qualität des Gestisch-Geronnenen vor, das Weberns Musik über die Klangstenogramme von Opus 6 bis Opus 11 (…) ausgetragen hat.“
    Krellmann nimmt dabei Bezug auf Weberns „Sechs Stücke für großes Orchester“ und seine „Drei kleinen Stücke für Violoncello und Klavier“, aber ich denke, dass er mit diesen Begriffen „Gestisch-Geronnenes“ und „Klangstenogramm“ auch Wesensmerkmale von Weberns Liedsprache in ihrer letztendlich gültigen Form angesprochen hat. Ich meine darin Adornos Diktum vom „lyrische Augenblick, in dem die Zeit sich drängt und verschwindet“ wiederzuerkennen. Im übrigen ist er der Meinung, dass Weberns Lieder zum „Vollkommensten“ gehören, „was der neuen Musik überhaupt beschieden war.“ Worin man ihm wohl zustimmen kann.


    Was das Nicht-gelten-lassen-Wollen der frühen Liedkompositionen anbelangt, so darf man vermuten:
    Es ist wohl so, dass Anton Webern in seiner Verehrung für seinen Lehrer Arnold Schönberg und in der menschlichen und künstlerischen Identifikation mit dessen kompositorischem Grundkonzept nur jene Liedkompositionen mit der Auszeichnung einer Opus-Ziffer versehen wollte und konnte, die in ihrer Liedsprache „zeitgemäß“ waren, das heißt die Tonalität transzendierten. In seinen Worten:
    „Die Zeit war einfach reif für das Verschwinden der Tonalität. – Das war natürlich ein heißer Kampf, da waren Hemmungen der fürchterlichsten Art zu überwinden, eine Angst: >Ist denn das möglich?< - Und so kam es, daß allmählich fest und bewußt ein Stück dann nicht mehr in einer bestimmten Tonart geschrieben wurde.“


    Anton Weberns Liedschaffen stellt sich heute wie folgt dar:
    An Klavierliedern sind insgesamt 43 überliefert, davon 20, denen er eine Opus-Ziffer verliehen hat, und 23, bei denen das nicht der Fall ist. Die Zahl der Lieder mit Orchester-, bzw. Kammermusikbegleitung beträgt 30.


    Klavierlieder:
    Op.3: Fünf Lieder aus „der Siebente Ring“ (Stefan George), entstanden 1908/09
    Op.4: Fünf Lieder auf Gedichte von Stefan George (1908/09)
    Op.12 Vier Lieder für Gesang und Klavier (1915-1917)
    Op.23: Drei Gesänge aus „Viae Inviae“ von Hildegard Jone (1934/35)
    Op.25: Drei Lieder nach Gedichten von Hildegard Jone (1934/35)


    Lieder mit Orchester-, bzw. Kammermusikbegleitung:
    Op.8: Zwei Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke für Singstimme und acht Soloinstrumente (1910)
    Op.13: Vier Lieder für Gesang und Orchester (1914-18)
    Op.14: Sechs Lieder nach Gedichten von Georg Trakl für Gesang und Kammerensemble(1917-22)
    Op.15: Fünf geistliche Lieder für Gesang und Kammerensemble (1917-22)
    Op.17: Drei Volkstexte für Gesang und Kammerensemble (1924)
    Op.18: Drei Lieder für Gesang und Kammerensemble (1925)


    In diesem Thread soll – jedenfalls von meiner Seite – nur auf das Klavierlied-Werk eingegangen werden. Der Grund ist der gleiche wie in den Threads zu Arnold Schönberg und Alban Berg. Neben dem Aspekt einer möglichen Überfrachtung des Threads ist es vor allem die Tatsache, dass man die spezifische Eigenart der Liedsprache am besten im komplexen Zusammenspiel von melodischer Linie der Singstimme und Klaviersatz erfassen kann. Und eben dieses soll ja doch, neben der Vorstellung der Lieder als musikalische Werke, die eigentliche Zielsetzung des Threads sein.

  • Folgende Aufnahmen wurden für die Arbeit an diesem Thread herangezogen:





    1. Anton Webern, Lieder. Christiane Oelze, Eric Schneider. Newton classics 2011 (auf dieser CD finden sich alle hier besprochenen Lieder)


    2. Anton Webern, Lieder. Dilec Gecer, Claudia Barainsky, Christoph Israel u. Axel Bauni (Piano). Orfeo 1995



    3. Webern, Complete Songs with Piano. Svetlana Savenko, Yuri Polubelov (Piano)




    4. Webern / Berg, Lieder. Roswitha Trexler, Rolf-Dieter Arens u. John Tilbury (Piano). Berlin classics 1995

  • Ferdinand Avenarius: „Vorfrühling“


    Leise tritt auf …
    Nicht mehr in tiefem Schlaf,
    in leichtem Schlummer nur
    liegt das Land:
    und der Amsel Frühruf
    spielt schon liebliche
    Morgenbilder ihm in den Traum



    Anton Webern: „Vorfrühling“

    Dies ist die früheste Liedkomposition Weberns, deren Notentext erhalten ist. Sie entstand im Jahre 1899, er war also gerade mal sechzehn Jahre alt. Das Lied steht in Es-Dur, weist einen Sechsachteltakt auf, und die Vortragsanweisung lautet: „Durchweg zart“. So sehr diese Komposition auch noch in der Tradition Schuberts und Schumanns steht, - sie weist bereits typische Strukturmerkmale und Eigenarten der Liedsprache Weberns auf: Eine in enger Wortbindung linear geführte Melodik, ein klanglich transparenter, nicht in dominanter Weise auf dem Akkord sondern auf dem Einzelton aufgebauter Klaviersatz und ein Grundton der Eindringlichkeit über klangliche Zartheit, nicht über Mächtigkeit anstrebt.


    Mit zwei glockenhaft wirkenden triolischen Figuren im Klavierdiskant setzt das Lied ein. Es ereignet sich dabei der Sprung eines Achtels über ein hohes „D“ zu einem viergestrichenen „B“, wobei die Tonart von „As“- im zweiten Fall nach Es-Dur rückt. Auch die melodische Linie der Singstimme beschreibt in der ersten kleinen Melodiezeile eine Sprungbewegung, allerdings nur über eine Quarte zu einem hohen „Es“, das bei dem Wort „auf“ eine kleine Dehnung trägt. Eine Pause im Wert von drei Achteln folgt, gleichsam die lyrische Pause reflektierend, die auf den ersten Vers folgt.


    Auch auf den nächsten drei Versen liegt jeweils eine Melodiezeile, der eine Pause folgt. Jedoch greifen diese Zeilen nun melodisch ineinander. Die erste senkt sich zu einem tiefen „Des“ ab, die zweite bewegt sich ruhig um ein „F“ in tiefer Lage, und die dritte vollzieht eine ähnliche Aufwärtsbewegung zu einem hohen gedehnten „Es“ wie die Eingangszeile. Eine fast dreitaktige Pause folgt nun für die Singstimme, in der sich im Klavier eine Modulation von As-Dur über eine kurze Moll-Zwischenstufe nach F-Dur ereignet, mit dem die melodische Linie des zweiten Liedteils einsetzt.


    Der Klaviersatz ist in seiner Struktur einfach. Er besteht durchgehend aus zwei- bis dreistimmigen Akkorden in Bass und Diskant und der ruhigen, gleichförmigen, also nicht rhythmisierten Bewegung von Achteln, und er unterstützt die liebliche Melodik mit einer reizvollen Klanglichkeit. In beeindruckender Weise ist das zum Beispiel zu vernehmen bei den Worten „in leichtem Schlummer nur liegt das Land“. Hier wird im Bass ein Des-Dur-Akkord über zwei Takte gehalten, und im Diskant werden in hoher Lage Viertel- und Achteloktaven angeschlagen. Die Harmonik meidet jegliche schroffe Modulation. Sie bewegt sich in einem engen Rahmen des Quintenzirkels: Im ersten Teil des Liedes von Es- über Des- nach As-Dur, im zweiten von F- über Es- nach B-Dur.


    Auch im zweiten Teil des Liedes, der mit dem Vers „und der Amsel Frühruf“ einsetzt, entfalten Melodik und Klaviersatz große klangliche Zartheit und Lieblichkeit. Zunächst fällt die melodische Linie zwar bei dem Wort „Frühruf“ über eine Quarte bis zu einem tiefen „C“ ab, das aber nur, um den nachfolgenden schwungvollen Aufstieg zu einem hohen „Es“ bei den Worten „spielt schon liebliche Morgenbilder“ umso eindrucksvoller werden zu lassen. Hier vermeint man leisen Jubel in der Melodik zu vernehmen. Und wie schön Webern die Musik das lyrische Bild reflektieren zu lassen vermag, das kann man beim letzten Vers vernehmen. Die melodische Linie steigt, nun in B-Dur harmonisiert, in langsamen Schritten von dem hohen „Es“, das sie in einer gedehnten Form auf der ersten Silbe des Wortes „Morgenbilder“ eingenommen hat, zu einem tiefen „B“ herab. „Immer langsamer“ lautet hier die Anweisung. Und am Ende, bei dem tiefen „B“ auf dem Wort „Traum“, das eine Fermate trägt, heißt es im Notentext: „ganz verklingen“. Das Klavier ist dieser Abwärtsbewegung der melodischen Linie zunächst mit Achteln im Diskant und dann mit zweistimmigen Akkorden gefolgt und lässt zu dem ausklingenden „B“ der Vokallinie einen vierstimmigen B-Dur-Akkord erklingen.


    Das Lied ist aber noch nicht zu Ende. Nach einer in ihrer Wirkung fast ganztaktigen, weil fermatierten Pause wiederholen Singstimme und Klavier wortgetreu das Vorspiel und die erste Melodiezeile auf den Worten „Leise tritt auf“. „Sehr zart“ und „so zart wie möglich“ soll der Vortrag hier ausgeführt werden. Im dreifachen Piano verklingt ein in seiner Zartheit höchst beeindruckendes lyrisches Gebilde

  • Vom ersten Lied eines Komponisten geht für den, der sich mit seinem Liedschaffen beschäftigt, immer eine ganz besondere Faszination aus. Man fragt sich, wie viel an liedsprachlich Eigenem hier wohl schon zu finden sein könnte und welche Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung der Liedsprache schon zu erkennen sind. Bei jedem Liedkomponisten sind es ja im wesentlichen zwei Faktoren, die hauptsächlich auf diese Entwicklung einwirken. Da ist einerseits in die Haltung, mit der er dem lyrischen Text begegnet, ihn rezipiert und in Musik umzusetzen versucht. Sie ist in hohem Maß von seiner allgemein menschlichen Grundhaltung in existenziellen Grundfragen abhängig. Lyrik-Rezeption ist schließlich ein genuin subjektives Ereignis. Es wirken sich aber auch die Einflüsse aus, die sich aus der Tradition des Kunstliedes und aus dem Schaffen seiner kompositorischen Zeitgenossen ergeben. Dies freilich in sehr unterschiedlichem Maß und in wechselnden Formen.


    Bei den ganz frühen Jugend-Kompositionen, wie bei diesem Lied, das Webern im Alter von gerade mal sechzehn Jahren schrieb, ist der Einfluss der Klavierlied-Tradition natürlich noch übermächtig. Die Begegnung mit Arnold Schönberg hat noch nicht stattgefunden. Hier ist, gleichsam unterschwellig, sehr viel Johannes Brahms, aber vielleicht noch mehr Richard Strauss zu vernehmen. Und doch meint man, wie in gleichsam keimzellenhafter Weise, schon den späteren musikalischen Lyriker Anton Webern anzutreffen: Im liedkompositorisch miniaturhaften Grundkonzept, in der Reduktion auf das liedsprachlich Relevante und in der konsequenten Ausrichtung von Vokallinie und Klaviersatz auf die musikalische Interpretation des lyrischen Wortes.


    Das lyrisch zentrale Wort ist „leise“. Es bildet den Rahmen des Gedichts, und die lyrischen Bilder dazwischen füllen ihn in seinem Sinne aus. Weberns kleine Komposition setzt dies in vollkommen adäquater Weise in Liedmusik um. Den Rahmen bildet die klangliche Figur, die, weil sich in ihr aus einem triolischen Sechzehntel ein Sprung zu einem viergestrichenen „B“ ereignet, überaus zart wirkt und darin als klangliche Suggestion der Semantik des Wortes „leise“ sinnlich erfahrbar werden lässt. Die Singstimme greift diese Figur am Anfang auf und wiederholt sie am Ende des Liedes noch einmal. Die Bewegungen, die die melodische Linie dazwischen beschreibt, reflektieren in ebenso voll adäquater Weise die jeweilige lyrische Aussage. Bei den Worten „Schlaf“ und „leichtem Schlummer“ senkt sie sich langsam in tiefe Lage ab, bzw. verharrt dort in ihren Bewegungen. Bei dem Bild vom „lieblichen Morgen“ schwingt sie sich hingegen über das Intervall einer Septe zu einem hohen „Es“ auf, wobei sich in der Harmonik auch eine klangliche Frische ausstrahlende Rückung von F- nach Es-Dur ereignet. Bei dem Wort „Traum“ am Ende ist die melodische Linie dann in einer überaus ruhigen Abwärtsbewegung wieder bei dem tiefen „Des“ angelangt, auf dem sie schon einmal, bei dem Wort „Schlaf“ am Ende der zweiten Zeile, einen ersten Ruhepunkt fand.


    Erfreut habe ich festgestellt, dass es all das in einer Aufnahme von diesem Lied bei Youtube zu hören gibt. Die Sopranistin, die mit dem merkwürdigen Namen ljIEYw ist mir zwar völlig unbekannt, sie macht ihre Sache aber nicht schlecht. Das Lied ist in dem melodisch-klanglichen Zauber, der ihm innewohnt, in ihrer gesanglichen Interpretation sehr wohl vernehmbar.



    https://www.youtube.com/watch?v=1PlzfGZvSB4

  • Richard Dehmel: „Nachtgebet der Braut“


    O mein Geliebter - in die Kissen
    Bet ich nach dir, ins Firmament!
    O könnt ich sagen, dürft er wissen,
    wie meine Einsamkeit mich brennt!


    O Welt, wann darf ich ihn umschlingen!
    O laß ihn mir im Traume nahn,
    mich wie die Erde um ihn schwingen
    und seinen Sonnenkuß empfahn


    und seine Flammenkräfte trinken,
    ihm Flammen, Flammen wiedersprühn,
    o Welt, bis wir zusammensinken
    in überirdischem Erglühn!


    O Welt des Lichtes, Welt der Wonne!
    O Nacht der Sehnsucht, Welt der Qual!
    O Traum der Erde: Sonne, Sonne!
    O mein Geliebter - mein Gemahl –



    Anton Webern: „Nachtgebet der Braut“

    Webern komponierte dieses Lied am 10. April 1903. Es ist nicht das erste, in dem er sich liedkompositorisch mit Richard Dehmel auseinandersetzte. Schon im April 1901 entstand das Lied „Tief von fern“ auf ein Gedicht dieses Lyrikers, und es werden in dieser Phase des frühen Liedschaffens noch weitere sechs Lieder folgen. Neben Avenarius (sieben Lieder) und George (vier Lieder) bildet die Lyrik Dehmels einen Schwerpunkt in Weberns frühem Liedschaffen.


    Dieses Lied ist von der Liedsprache, wie sie Webern später in der für ihn charakteristischen Weise ausbildete, noch weit entfernt. Hier übte er sich offensichtlich im liedkompositorischen Konzept eines Richard Strauss, und man meint, in der Art und Weise, wie er mit dem lyrischen Pathos Dehmels umgeht, Einflüsse von Richard Wagner zu vernehmen. Ein Dreivierteltakt liegt dem Lied zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet: „Sehr erregt und leidenschaftlich“. Die Harmonik moduliert sehr stark. Moll-Tonarten dominieren, das Tongeschlecht. Dur klingt zwar auch auf, wirkt dabei aber so, als könne es sich nicht behaupten und werde immer wieder von leidenschaftlicher Chromatik überwältigt.


    Das kann man schon gleich im dreitaktigen Vorspiel vernehmen. Ein fortissimo angeschlagener E-Dur-Akkord klingt auf, aber er zerfällt schon im zweiten Takt zu einem e-Moll, und dieses moduliert dann weiter, so dass sich dann die Harmonisierung der melodischen Linie während der ganzen ersten Strophe und auch noch beim ersten Vers der zweiten in diesem Tongeschlecht, bzw. in verminderter Harmonik bewegt. Erst mit den Worten „O laß ihn mir im Träume nahn“ tritt – allerdings nur vorübergehend – H-Dur in das Lied. Schon im nachfolgenden Vers drängt sich aber wieder Moll-Harmonik in dieses hinein, und immer mehr empfindet der Hörer diesen Sachverhalt zusammen mit der spezifischen Struktur der melodischen Linie der Singstimme als musikalischen Ausdruck tiefer, aus unerfüllten Wünschen kommender leidenschaftlicher Erregung des lyrischen Ichs.


    De melodische Linie der Singstimme bewegt sich zwar ruhig, bringt aber in jeder Phase des Liedes dadurch, dass sie immer wieder in hoher Lage aufgipfelt und sich dort langen Dehnungen überlässt, in klanglich beeindruckender Weise die Leidenschaftlichkeit des Begehrens zum Ausdruck. Das Klavier steigert die Expressivität der Melodik durch den Einsatz von lang gehaltenen, fortissimo angeschlagenen mehrstimmigen Akkorden und – auf dem Höhepunkt – akkordischer Tremolos. Ohnehin hat Webern dem Klavier in diesem Lied eine wichtige Rolle zugewiesen. Zwar ist der Klaviersatz selbst relativ einfach strukturiert, weil er weitgehend aus der Aufeinanderfolge von Akkorden besteht, diese übergreifen aber häufig in ihrer Mehrstimmigkeit Bass und Diskant und werden, mit Ausnahme der letzten Strophe, forte, fortissimo, ja sogar im dreidachen Forte artikuliert. Überdies entfaltet das Klavier in den Pausen der Singstimme starke Aktivität. Zwischen der dritten und der vierten Strophe erstreckt sich die Pause über sechs Takte.


    Mit einem leicht schmerzlich angehauchten Sehnsuchts-Ruf setzt die melodische Linie ein. Ein Sekundfall geht in eine Dehnung über, und dann ereignet sich zur letzten Silbe des Wortes „Geliebter“ hin ein verminderter Septfall. Moll-Harmonik herrscht vor. Und schon beim zweiten Vers beschreibt die melodische Linie ihren ersten Aufstieg in hohe Lage. Bei „bet ich nach dir“ steigt sie bis zu einem hohen „Cis“ auf und vollzieht dort einen gedehnten kleinen Sekundfall. Am Ende der ersten Strophe macht sie bei den Worten „mich brennt“ einen Septsprung zu einem hohen „A“, und dieser Ton wird dann fortissimo lange gehalten (Fermate). Diese Art der auf hohe Expressivität ausgerichteten Entfaltung der melodischen Linie ist typisch für das ganze Lied. Immer dann, wenn der lyrische Text in seinen Bildern und Aussagen ein hohes affektives Potential aufweist, ereignen sich solche Aufgipfelungen der Melodik in hoher Lage, also bei den Worten „O laß ihn mir im Traume nahn“, „o Welt“, „in überirdischem Erglühn“, „Welt der Wonne“ und bei den Ausrufen „O mein Geliebter, mein Gemahl“.


    Bei den beiden ersten Versen der dritten Strophe (die mit der zweiten eine melodische Einheit bildet) steigt die melodische Linie in geradezu dramatischer Weise aus tiefer Lage zu einem hohen „Gis“ (bei „-sprühn“) auf, und hier setzen nun sforzato die ersten akkordischen Tremoli ein, die die expressive, lang gedehnte Aufgipfelung der melodischen Linie bei dem Ruf „o Welt“ begleiten. Nur bei dem zweiten und dritten Vers der letzten Strophe („o Nacht der Sehnsucht…“) tritt das Piano in das Lied und die melodische Linie verbleibt bei ihren ruhigen Bewegungen, nun in C-Dur harmonisiert, auf der tonalen Ebene eines „C“ in mittlerer Lage. Aber mit dem doppelten „Sonne“, das im zweiten Fall auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene deklamiert wird, tritt schon wieder ein Crescendo in das Lied, und akkordische Tremoli bilden die Begleitung.
    Das zehntaktige Nachspiel endet freilich mit einem lang gehaltenen fünfstimmigen E-Dur-Akkord im dreifachen Piano.

  • Dieses Lied ist vom liedkompositorischen Geist und der zugehörigen Liedsprache, wie sie das spätere, mit Opus-Ziffern versehene Liedschaffen Anton Weberns prägen und auszeichnen, geradezu unendlich weit entfernt. Was mag ihn dazu bewogen haben, ein Lied zu komponieren, bei dem man von einem regelrechten Sich-Suhlen in der expressiven Klanglichkeit der Musik Richard Wagners sprechen möchte? Gewiss, das Pathos der lyrischen Sprache Dehmels und die Schwülstigkeit ihrer lyrischen Bilder schaffen geradezu einen Anreiz dazu? Warum aber hat Webern damals, im Oktober 1903, zu diesem lyrisch-sprachlich doch so schwachen Gedicht Dehmels gegriffen? Vielleicht, um eben diesem liedkompositorischen Bedürfnis nachzukommen?


    Eine derartige Fülle von - im Grunde vordergründig anmutenden - Ausbrüchen in klangliche Expressivität sowohl in der Melodik, wie auch im Klaviersatz stellt im von Webern hinterlassenen Corpus an Liedern ein tatsächlich singuläres Phänomen dar. Unablässig, und dies vom Anfang an, bricht die melodische Linie in ihren Bewegungen in große tonale Höhen aus, und dies forte, gar fortissimo. In der ersten Strophe schon bei den Worten „in die Kissen“ (ein Quintsprung zu einem hohen „Gis“), bei „nach dir“ (ein Sextsprung zu einem extrem hohen „Cis“) und bei den Worten „mich brennt“ ein Septsprung zu einem hohen „A“, das fortissimo und mit einer Fermate vorzutragen ist.


    In der zweiten Liedstrophe ereignet sich dann dieses unüberhörbar von Wagner inspirierte, auf extreme klangliche Expressivität angelegte Umsetzen des lyrischen Textes in Liedmusik: In der Wiederkehr der Fallbewegung auf den Worten „Erde um ihn schwingen“ bei den Worten „Sonnenkuß empfahn“; im so ganz und gar wagnerisch anmutenden, weil geradezu dramatisch wirkenden chromatischen Anstieg der melodischen Linie bei den Worten „Und seine Flammenkräfte trinken, ihm Flammen, Flammen wiedersprühn“; in der gedehnten Aufgipfelung der melodischen Linie bei den Worten „Welt“ und „Erglühn“ (dies fortissimo); und schließlich in der regelrechten Häufung von akkordischen Tremoli im Klaviersatz, der in seiner bis ins Forte-Fortissimo sich steigernden Klanglichkeit im siebentaktigen Zwischenspiel wirkt , als wolle er die Expressivität der melodischen Linie regelrecht übertrumpfen.


    Vielleicht ist, so denke ich, was die Frage nach dem Warum anbelangt, Weberns Wagner-Erlebnis dafür verantwortlich zu machen. Nach bestandenem Abitur spendierte ihm sein Vater eine Bayreuth-Reise, die er 1902 mit Ernst Diez zusammen unternahm. Seine Eindrücke davon hielt er schriftlich fest. Sein Biograph Friedrich Wildgans bezeichnet diese Notizen als „ein flammendes, leidenschaftlich-ekstatisches Bekenntnis zum Geist Richard Wagners und seines Musikdramas.“ In dieser Begeisterung für Wagners Musik verstieg sich der junge Webern gar zur Komposition einer Ballade für Bariton und großes Orchester auf einen Text von Ludwig Uhland mit dem Titel „Siegfrieds Schwert“. Sie blieb unveröffentlicht.


    Die Begeisterung für Wagner muss wohl eine sehr jugendliche gewesen sein, denn sie hatte keinen Bestand. Von Wagner ist in seinem späteren, wirklich liedkompositorisch relevanten Liedschaffen – und auch in seinen übrigen musikalischen Werken - keine Spur mehr zu vernehmen. Im Gegenteil: Seine Liedsprache steht in all ihren konstitutiven Elementen in einem fundamentalen Gegensatz zu der Art und Weise, wie Wagner musikalisch mit dem lyrischen Wort umgegangen ist.



    Auch dieses Lied ist glücklicherweise bei YouTube wieder in der Interpretation durch die Sopranistin mit dem rätselhaften Namen „ljIEYw“ zu vernehmen. Und sie macht es sängerisch-interpretatorisch auch hier, wie ich finde, recht gut.



    https://www.youtube.com/watch?v=Of2V51qfZpQ

  • in der Interpretation durch die Sopranistin mit dem rätselhaften Namen „ljIEYw“ zu vernehmen


    Ich denke eher, daß „ljIEYw“ der Nutzername desjenigen ist, der die Lieder bei Youtube hochgeladen hat. Über den Namen der Sängerin ist leider überhaupt nichts zu entnehmen.

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Vielen Dank für diesen Hinweis, lieber Reinhard. Das wäre eine plausible Erklärung für dieses rätselhafte Kürzel. Ich selbst bin nicht draufgekommen.
    Aber welche Sopranistin da auch immer singen mag, sie interpretiert dieses Lied zweifellos sehr gut. Die Expressivität der Melodik kommt in der genau angemessenen Weise, aber sie nimmt sich auch dort genau so zurück, wo der Notentext einen "zarten" Vortrag verlangt, - etwa bei den Worten "O lass ihn mir im Träume nahn." Der von mir oben erwähnte chromatische Anstieg der melodischen Linie, der so sehr wagnerisch anmutet, wird von ihr stimmlich so gestaltet, dass die leichte Dramatik vernehmlich wird, die das Lied hier annimmt. Und wenn sich bei den Worten "Welt des Lichtes" die Vortragsanweisung "in Extase" findet, dann vernimmt man sie bei ihr auch. Der Pianist macht übrigens seine Sache ebenfalls sehr gut, - gerade an dieser Stelle zum Beispiel, wo er ebenfalls mit arpeggierten Akkorden so etwas wie klangliche Estase zum Ausdruck bringen soll.


    Ich habe übrigens den starken Verdacht, dass es sich bei der Sängerin um Christiane Oelze handelt (und um den Pianisten Eric Schneider). Die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit der Aufnahme, die ich selbst als Grundlage für meine Liedbesprechungen benutze (Cover s. oben, Beitrag 2), sind jedenfalls sehr groß. Sie sind so ungewöhnlich groß, dass ich mir in dieser Vermutung fast sicher bin.

  • Richard Dehmel: „Tief von fern“


    Aus des Abends weißen Wogen
    taucht ein Stern;
    tief von fern
    kommt der junge Mond gezogen.


    Tief von fern,
    aus des Morgens grauen Wogen,
    langt der große (Dehmel: „blasse“) Bogen
    nach dem Stern.



    Anton Webern: „Tief von fern“

    Dieses Lied entstand am 21. April 1901. Es steht in E-Dur, ein Viervierteltakt liegt ihn zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet: „Langsam“. Im Unterschied zu „Nachtgebet der Braut“ weist es eine größere Nähe zu dem auf, was sich später als Weberns spezifische Liedsprache entwickeln wird. Die melodische Linie der Singstimme setzt sich aus einzelnen Elementen zusammen, die sich in enger Anbindung an die Struktur und die Semantik des lyrischen Textes entfalten, und der Klaviersatz ist in seinem Aufbau auf das klanglich Wesentliche reduziert. Diese Reduktion von Melodik und Klaviersatz auf das jeweils expressiv relevante Detail wird sich später als das dominante Merkmal der Webernschen Liedsprache herausstellen, und es ist hier in Anfängen bereits ansatzweise zu erkennen.


    Der Klaviersatz besteht durchgehend aus der Abfolge von – z.T. länger gehaltenen – Akkorden, die durch einzelnen Viertel wie in Gestalt von kleinen Brücken miteinander verbunden werden, mit der zweiten Strophe zu arpeggierten werden und erst am Ende, bei den Worten „dem Stern“ wieder zu ihrer Grundform zurückkehren. Die Harmonik verbleibt weitgehend im Dur-Bereich. Nur vorübergehend wird die melodische Linie von Moll- und verminderter Harmonik gestreift. Weit ausholende Modulationen gibt es nicht. Das Lied setzt mit E-Dur ein, und die Harmonisierung der melodischen Linie bewegt sich dann über A-Dur und D-Dur in den Bereich von Cis-Dur, das bei den Worten „Wogen, langt der große Bogen“ zu cis-Moll und kurz zu verminderter Harmonik moduliert. Die drei letzten Schritte der melodischen Linie sind dann in all der wunderbaren Ruhe, die von ihrer Fallbewegung über eine Quinte ausgeht, in der Tonika, der Dominante und wieder der Tonika harmonisiert. Weite und Ruhe der lyrischen Bilder, dieses „Tief von fern“, das sie prägt, schlägt sich also auch in der Struktur des klanglich wesenhaft statischen Klaviersatzes nieder.


    Ohne Vorspiel setzt die melodische Linie in tiefer Lage ein und beschreibt eine ruhige, aber wie zögerlich wirkende Aufwärtsbewegung. Zögerlich nicht deshalb, weil sie in irgendeiner Form rhythmisiert wäre. Das auf keinen Fall: Ihre Bewegung ist von großer gleichförmiger Ruhe durchströmt. Der Eindruck von Zögerlichkeit stellt sich ein, weil sie zwei Mal in der gleichen Weise ansetzt, und erst beim zweiten Mal den Weg weiter nach oben verfolgt, wobei sie dann bei den Worten „taucht ein Stern“ in einen gedehnten (halbe Noten) Sekundfall übergeht, dem ein Quartsprung zu einem „A“ in mittlerer Lage folgt, das lange gehalten wird. Verbunden ist dieser melodische Schritt mit einer Rückung nach A-Dur, die ihn in seinem Gewicht besonders hervorhebt. Die melodische Linie ist erst einmal zur Ruhe gekommen. Diese Melodiezeile wirkt in dem ihr eigenen Gestus wie eine kleine Ouvertüre.


    Die Worte „tief von fern“ , die auf einem Quartsprung deklamiert werden, bei dem das Wort „fern“ eine Dehnung trägt, werden, darin ihrem lyrischen Gewicht entsprechend, melodisch exponiert. Eine halbe Pause geht dieser kleinen Melodiezeile voraus, eine Viertelpause folgt nach. Beim vierten Vers der ersten Strophe beschreibt die melodische Linie, nun in Moll- und verminderter Harmonik stehend, eine ruhige, leicht rhythmisierte Abwärtsbewegung über das Intervall einer Quinte in mittlerer Lage. Auf der letzten Silbe des Wortes „gezogen“ schlägt das Klavier einen D-Dur-Akkord an. Man empfindet diese Melodiezeile in der Art ihrer Bewegung, eben weil diese am Ende in einen aufwärts gerichteten kleinen Sekundschritt mündet, wie eine klangliche Konkretion des lyrischen Bildes vom „jungen Mond“, der „gezogen“ kommt.


    Beim zweiten „tief von fern“ am Anfang der zweiten Strophe wird ein anderer melodischer Akzent gesetzt. Zwar setzt die melodische Linie mit einem Quartsprung ein, der geht aber dann in einen Sekundfall mit Dehnung über. Und die Bewegung der melodischen Linie auf den Worten „aus des Morgens grauen Wogen“ wirkt so, als würde sie diese Figur auf „tief von fern“ in etwas ausführlicherer Form wiederholen. Wieder geht das anfängliche Cis-Dur zunächst in cis-Moll über, und wieder empfindet man diese Harmonisierung der melodischen Fallbewegung als musikalischen Ausdruck der Zartheit des lyrischen Bildes und des ihm zugrundeliegenden Gestus des „tief von fern“.


    Bei dem Wort „Wogen“ hält die melodische Linie in ihrer Bewegung erst einmal inne, indem beide Silben auf demselben gedehnten Ton deklamiert werden (einem Gis in mittlerer Lage). Ein lang gehaltener arpeggierter Cis-Dur-Akkord begleitet das, der aber schon auf der zweiten Silbe in cis-Moll übergeht. Cis-Moll-Arpeggien begleiten auch die Fallbewegung der melodischen Linie, die sich in relativ großen Intervallen (Quarte, Terz) ruhig auf den Worten „langt der große“ ereignet. Und klanglich bestechend wirkt dann der neuerliche Fall der melodischen Linie bei den Worten „Bogen nach dem Stern“: Noch mehr Ruhe, weil nur noch halbe Noten, und nun auch nur noch Dur-Harmonik, die sich zwischen Dominante und Tonika bewegt. Und am Ende der Quintfall, der in den gedehnten Grundton mündet.

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  • In diesem Lied ist – im Unterschied zu dem vorangehend vorgestellten – der spätere Liedkomponist Anton Webern schon eher zu vernehmen, - vor allem in der Art und Weise, wie die Liedsprache den lyrischen Text in seiner sprachlichen Struktur, seiner Semantik und seiner Metaphorik aufgreift und in Musik umsetzt. Es sind eher strukturelle Ansätze als Anklänge, denn das Lied ist ja in seiner ungebrochenen Tonalität harmonisch noch weit weg von den späteren Lied-Opera. Aber man vernimmt und erkennt – ansatzweise – den für Webern typischen liedkompositorischen Umgang mit dem lyrischen Text. Er zielt nicht ab auf die extensive klangliche Auslotung der emotionalen Dimensionen der Metaphorik lyrischer Sprache, sondern vielmehr auf die Umsetzung ihrer Struktur und ihres semantischen Kerns in Liedmusik.


    Dehmels Gedicht ist in seinen Bildern aus dem lyrisch-sprachlichen Zentrum „Tief von fern“ heraus entwickelt und aufgebaut. Diese Wortkombination suggeriert eine Bewegung aus kosmischer Ferne hin zu gleichsam himmlischer Nähe. Die sprachliche Partikel „von“ bewirkt dies. Und die Bilder der beiden Strophen konkretisieren das ja auch. In ihnen ereignet sich ein Hereinholen von kosmisch fernen Gebilden – Mond und Stern – in die Sphäre lebensweltlicher Natur: Des Abends „weiße“ und des Morgens „graue Wogen“. Man kann dieses Gedicht verstehen als metaphorische Evokation einer Einheit von kosmischer Ferne und menschlich-lebensweltlicher Nähe. Wobei bemerkenswert ist, in welch lyrisch-sprachlicher Gestalt sich diese ereignet. Dehmels Sprache verbleibt durchweg im Gestus geradezu sachlich wirkender lyrischer Deskription und vermeidet dabei jegliche emotional aufgeladene Metaphorik.


    Und Weberns Liedmusik entspricht ihr darin voll und ganz. Die melodische Linie folgt in der Art ihrer Bewegung genau der lyrischen Sprache und reflektiert dabei in ihrer Struktur deren Semantik. Sie mutet im Bereich von Melodik und Klaviersatz klanglich so direkt und strukturell so einfach an, wie auch Dehmels lyrische Sprache in ihrer Struktur und ihren Bildern daherkommt. Beim ersten Vers beschreibt die melodische Linie zwei ähnlich geartete ruhige Aufstiegsbewegungen aus tiefer Lage und geht dann bei den lyrisch gewichtigen Worten „taucht ein Stern“ ebenfalls zur gewichtigen, weil in Gestalt von melodischen Schritten im Wert von halben Noten über. Auf dem Wort „Stern“ liegt gar ein den ganzen Takt ausfüllendes „A“, zu dem die melodische Linie einen Quartsprung beschreibt, der mit einer Rückung in die Subdominante verbunden ist. Dieses Wort erhält auf diese Weise den musikalischen Akzent, der ihm vom lyrischen Text her zukommt. Die Mittel, die Webern dafür auswendet, sind kompositorisch minimal, treffen aber genau den lyrisch relevanten Punkt. Das ist ein ganz wesentliches Merkmal seiner Liedkomposition, das er später, wie darin einer Leitlinie folgend, zur Perfektion entwickeln wird.


    Da die Faktur der Komposition oben beschrieben wurde, soll hier nur noch an einem weiteren Beispiel eben diese für Webern so typische, gleichsam minimalistische Beschränkung und Konzentration auf das musikalisch relevante Detail aufgezeigt werden.


    Das lyrisch zentrale „Tief von fern“ musste ihm von diesem seinem liedkompositorischen Grundkonzept her besonders wichtig sein. Da es aber in zwei unterschiedlichen lyrischen Kontexten vorkommt, weist er ihm auch eine variierte melodische Linie mitsamt eigener Harmonisierung zu. Im ersten Fall leitet das „Tief von fern“ das Bild vom „jungen Mond“ ein. Die melodische Linie beschreibt hier einen Quartsprung und verharrt danach auf der damit erreichten tonalen Ebene Gestalt einer Dehnung. Die ist aber mit einer Rückung in das Tongeschlecht Moll verbunden. Eine Pause folgt nach, - die wie eine Öffnung zu diesem überaus große Ruhe ausstrahlenden Bild vom aus der Ferne her ziehenden Mond wirkt. Die Rückung nach Moll stellt dabei eine harmonische Brücke zum klanglichen Chroma dar, in das die melodische Linie dieses Bildes gebettet ist.


    Das zweite „Tief von fern“ leitet aber zu einem lyrischen Bild anderer Art über. Es ist stärker aktivistisch geprägt als das vom ruhig aufziehenden Mond: Der „große Bogen“ des „grauen Morgens“ „langt“ nach dem Stern. Das hat zur Folge, dass die melodische Linie auf dem „Tief von fern“ nun mit einem verminderten Quartsprung einsetzt und danach nicht auf der damit erreichten tonalen Ebene verharrt, sondern in einen Sekundfall übergeht, der überdies auch noch mit einer Rückung nach dem harmonisch weitab liegenden cis-Moll verbunden ist. Und genau so, wie der als lyrischer Fixpunkt so gewichtige „Stern“ in der ersten Strophe mit melodischem Gewicht versehen wurde, so ist er das auch am Ende der zweiten. Auch hier bewegt sich die Vokallinie klanglich gewichtig im Wert von halben Noten und beschreibt darin einen Quintfall, der mit einer Rückung über die Dominante zur Tonka verbunden ist.


    Das alles ist melodisch und harmonisch von geradezu schlichter Einfachheit, und es wirkt doch – und gerade deshalb – als dem lyrischen Text musikalisch vollkommen gemäß.

  • Richard Dehmel: „Aufblick“


    Über unsre Liebe hängt
    Eine tiefe Trauerweide.
    Nacht und Schatten um uns beide.
    Unsre Stirnen sind gesenkt.
    Wortlos sitzen wir im Dunkeln.
    Einstmals rauschte hier ein Strom,
    einstmals sah´n wir Sterne funkeln.
    Ist denn alles tot und trübe?
    Horch – ein ferner Mund – vom Dom –
    Glockenchöre … Nacht … Und Liebe …



    Anton Webern: „Aufblick“

    Dieses Lied entstand am 12. August 1903. Wieder, wie bei „Nachtgebet der Braut“, liegt ihm ein Dehmel-Gedicht zugrunde, dessen lyrische Aussagen ein hohes affektives Potential aufweisen. Aber in der Art, wie Webern damit liedkompositorisch umgeht, wirkt er hier weitaus mehr bei sich selbst seiend, als dies bei jener sich stark Wagner orientierenden Komposition der Fall ist. Auch dieses Lied ist zwar auf musikalische Expressivität hin angelegt, und diesbezüglich bezeichnend ist die große Zahl der Vortragsanweisungen: Es sind insgesamt sechzehn. Aber Webern geht dieses Mal viel zurückhaltender und behutsamer vor. Es gibt nur einen, in den Fortebereich vordingenden expressiven Ausbruch, - bei den Worten „Ist denn alles tot und trübe?“ Hier lauten die Anweisungen für die Singstimme: „Auffahrend“, „voll Verzweiflung“, und für das Klavier, das in Diskant und Bass Oktaven zu artikulieren hat; „Hervortretend“. Aber ansonsten verbleiben melodische Linie der Singstimme und Klaviersatz im Piano- Bereich und klingen beide im dreifachen Piano aus.


    In seiner still-expressiven Klanglichkeit, in der es die nächtliche Ruhe der lyrischen Bilder reflektiert, in deren Mitte das Wortlos-im-Dunkeln-Sitzen des Ichs mit dem Du steht, ist dieses Lied zweifellos beeindruckend. Webern hat hier, in dieser Liedkomposition, ein frühes, beachtliches Dokument seiner Fähigkeit hinterlassen, die lyrische Sprache in ihrer Struktur und ihrer Metaphorik mit einer sparsamen, gleichsam reduktionistischen, aber darin den Punkt treffenden Liedmusik auf- und einzufangen. Darin wird er später eine singuläre Meisterschaft entwickeln.


    Der Notentext weist keine Vorzeichen auf. In der Harmonisierung der melodischen Linie gibt es keine dominante Tonart. Zwar ist dieses Lied nicht atonal angelegt, aber die Tonalität ist auf eine bemerkenswerte Weise instabil. Und das gilt auch für das Tongeschlecht. Moll-Tonarten herrschen zwar vor, aber immer wieder drängt sich für einen Augenblick ein Dur in sie hinein, und einmal beherrscht es die melodische Linie sogar über eine längere Passage, - dort nämlich, wo im lyrischen Text die Perspektive des „einstmals“ vorherrscht.


    Wehmütig, zwei Mal in kleinen Sekunden chromatisch fallend, setzt die melodische Linie ein. Im Klavierdiskant wird sie dabei von ihrerseits fallenden kleinen Sexten begleitet. Chromatische Fallbewegungen prägen die Melodik der ersten vier Verse durchgehend, wobei die Harmonisierung mit Ausnahme einer einzigen Stelle im Mollbereich verbleibt (vorwiegend g-Moll): Bei dem Wort „Schatten“ klingt –seltsamerweise – kurz Dur Harmonik auf. Die lyrischen Bilder von der „Trauerweide“ und den „gesenkten Stirnen“ werden mit dieser abwärts gerichteten Chromatik auf klanglich beeindruckende Weise musikalisch umgesetzt. Ein kleiner Sekundfall bei „Trauerweide“, bei „uns beide“ und bei „Stirnen“ ist gleichsam die Vorstufe zu dem Quintfall, der dann am Ende auf den Worten „sind gesenkt“ liegt. Diese kleine Melodiezeile ist in markanter Weise durch eine Pause davor und danach hervorgehoben.


    In diesem Lied begegnet einem dieses in auffallender Häufigkeit, - diese Exposition von Melodiezeilen durch vor- und nachgeschaltete Pausen. Ganz offensichtlich ist das für Webern ein kompositorisches Mittel zur Steigerung der Expressivität. Bei den Worten „Wortlos sitzen wir im Dunkeln“ verharrt die melodische Linie auf der tonalen Ebene eines tiefen „F“, beschreibt am Ende einen Terzfall, und dann folgt eine halbtaktige Pause. Bei allen nachfolgenden Versen ist die auf ihnen liegende Melodiezeile durch eine Pause von der nachfolgenden abgesetzt, wobei die Pausen immer länger werden. Nach Vers sieben, der mit dem Wort „einstmals“ eingeleitet wird, nimmt die Pause fast drei Takte in Anspruch, derweilen im Klavierdiskant wieder die fallenden kleinen Quinten des Liedanfangs aufklingen. Diese beiden Verse sechs und sieben ragen klanglich heraus, weil hier der Klageton wie ausgelöscht erscheint. Zwar beschreibt die melodische Linie auch hier Fallbewegungen, diese sind aber nicht chromatisch, und die Harmonisierung bewegt sich in Cis-Dur, das am Ende zu F-Dur moduliert. „Sehr ausdrucksvoll“ lautet hier die Vortragsanweisung.


    Hochexpressiv begegnet einem die melodische Linie bei der Frage: “Ist denn alles tot und trübe?“ Nach einem Anstieg über eine Terz und eine kleine Quarte, der mit triolisch ansteigenden Oktaven begleitet wird, fällt sie chromatisch rapide in die Tiefe, - ganz und gar in fis-Moll getaucht. Dann aber – nachdem die Anweisung gerade noch lautete „voll Verzweiflung“ – kehrt auf klanglich faszinierende Weise Ruhe und Stille in das Lied ein. Melodik und Klaviersatz verbleiben im dreifachen Piano, lang gehaltene Akkorde begleiten die Singstimme, und die Harmonik bewegt sich von Es-Dur über G-Dur nach C-Dur. Nur einmal klingt noch kurz ein d-Moll auf, bei dem Wort „Nacht“ nämlich. Aber das nachfolgende Wort „Liebe“ steht harmonisch ganz und gar in G-Dur.


    Nur kleine Melodiezeilen erklingen noch, - ganz dem lyrischen Text entsprechend, der am Ende ja von Gedankenstrichen und Pünktchen beherrscht ist. Lange Pausen liegen zwischen diesen melodisch gleichsam klanglich insularen Gebilden. Das Wort „horch“ trägt ein einsames „G“, die Worte „vom Dom“ werden auf einem tiefen „C“ deklamiert, auf „Glockenchöre“ liegt ein kleiner Terzfall, und das Wort „Nacht“ wird auf einem einsamen, von langen Pausen isolierten tiefen „A“ deklamiert. Aber zu dem Wort „Liebe“ am Ende beschreibt die melodische Linie einen hoch expressiven Sextsprung zu einem hohen „Fis“, das in einen gedehnten Sekundfall übergeht.

  • In der vorangehenden Vorstellung charakterisierte ich dieses Lied als eine auf Expressivität hin angelegte Komposition. Das ist zwar nicht falsch, aber missverständlich, weil dieser Begriff in nicht hinreichender Differenzierung verwendet wurde. Das Bemerkenswerte an diesem Lied ist ja doch, dass ihm eine Expressivität eigen ist, die aus der Stille kommt. Damit ist gar nicht mal so sehr die Tatsache gemeint, dass es an nur einer einzigen Stelle den Piano-Bereich verlässt, beim „auffahrenden“ (wie die Vortragsanweisung hier lautet), über das Intervall einer kleinen Sexte erfolgenden Anstieg der melodischen Linie bei den Worten „“Ist denn alles tot und trübe“ und ihrer chromatischen, in fis-Moll harmonisierten Fallbewegung danach, die das Klavier mit Oktaven im Diskant mitvollzieht. Dieser eigenartige Eindruck einer Expressivität der Stille kommt eher – und viel stärker! - aus der melodisch gleichsam insularen Struktur des Liedes.


    Was sich am Ende, in der Melodik der beiden letzten Verse, einsetzend mit dem appellativen „Horch“, ereignet, ist im Grunde das Zu-seinem-Wesen-Kommen des Liedes: Kleine Melodiezeilchen reihen sich aneinander, durch lange Pausen voneinander getrennt und auf diese Weise jede ihrem eigenen klanglichen Wesen überlassen. Das aber ist die Grundstruktur der Melodik von Anfang an, - nur dass die Zeilen zunächst größer und die Pausen kleiner sind. Aber der Eindruck einer Synthese von melodisch singulären Gebilden, die über den Klaviersatz miteinander verbunden sind, stellt sich alsbald ein. Er gründet nicht nur in der Struktur der jeweiligen Melodik, sondern auch in ihrer Harmonisierung.


    Was die Struktur anbelangt, so kann man zwei Grundtypen ausmachen: Die chromatische Fallbewegung und das deklamatorische Verharren auf der jeweiligen tonalen Ebene. Sie reflektieren darin die Struktur des lyrischen Textes: Das Nebeneinander von Situationsschilderung („Nacht und Schatten um uns beide“) und Klage über den Verlust der in Liebe gründenden emotional-kommunikativen Bindung („Wortlos sitzen wir im Dunkeln“). Inmitten der Aufeinanderfolge dieser beiden Grundtypen nimmt die melodische Linie aber mit einem Mal – auch das wie ein singuläres Ereignis anmutend – bei den Worten „Einstmals rauschte hier ein Strom, / einstmals sahn´n wir Sterne funkeln“ einen in Cis-Dur-Harmonik gebetteten überaus lieblichen Ton an.


    In seiner Melodik, die wie eine durch Pausen unterbrochene Aufeinanderfolge von Zeilen wirkt, die nicht nur strukturell, sondern auch in ihrer Harmonisierung singuläre Gebilde darstellen – die Harmonik wirkt ja nicht nur im Wechsel des Tongeschlechts, sondern auch hinsichtlich ihrer Verortung im Quintenzirkel höchst divergent - , reflektiert die Liedmusik den im Grunde lyrisch-sprachlichen Grundcharakter des Gedichts von Richard Dehmel. Ihm wohnt ein gleichsam konstatierender Gestus inne, besteht es doch durchweg aus der Abfolge von zwar in den Fluss des trochäischen Metrums gebetteten, gleichwohl sprachlich hart gefügten lyrischen Feststellungen.
    Weberns Lied reflektiert dies in seiner liedmusikalischen Binnenstruktur und in seiner Klanglichkeit. Das macht es kompositorisch so gewichtig und beeindruckend.

  • Johann Wolfgang Goethe: „Blumengruß“


    Der Strauß, den ich gepflücket,
    Grüße dich vieltausendmal!
    Ich habe mich oft gebücket,
    Ach, wohl eintausendmal,
    Und ihn ans Herz gedrücket
    Viel (Goethe „Wie“) hundertausendmal.



    Anton Webern: „Blumengruß“

    Ob Webern seine Vorgänger bei dieser 1903 entstandenen Liedkomposition auf diese lyrische Miniatur Goethe kannte, - Reichardt, Zelter, Wolf…? Was letzteren angeht, so würde ich mir sicher sein, freilich ohne es zu wissen. Aber etwas scheint mir, während ich mir das Lied von Hugo Wolf gerade vergegenwärtige, bemerkenswert: Der noch junge Webern hat hier zu einer durchaus eigenen, Goethes Verse musikalisch interpretierenden und sich darin von Hugo Wolf abhebenden Liedsprache gefunden. Herausgekommen ist dabei eine klanglich beeindruckende Komposition. Beeindruckend ist sie, weil sie ihre musikalische Aussage aus der melodischen und klaviersatzmäßigen Miniatur bezieht. Das ist Weberns liedkompositorische Stärke, und darin gründet das Wesen seiner Lieder.


    Wann immer er sich in wagnerisch inspirierter Klanglichkeit ergeht - bei „Nachtgebet der Braut“ etwa, oder dem noch zu besprechenden Lied „Heimgang in der Frühe - , er ist in diesen Fällen liedkompositorisch nicht so ganz bei sich selbst. Hier aber, bei „Blumengruß“ ist er es. Und das ist nicht weiter verwunderlich: In seinem ganz auf das lyrisch-sprachliche und metaphorische Detail ausgerichteten liedkompositorischen Selbstverständnis musste er sich von diesen Versen Goethes unmittelbar angesprochen fühlen.


    „Innig“ lautet die Vortragsanweisung. Der Viervierteltakt, der dem Lied zugrundeliegt, wird durchgehend dadurch rhythmisiert, dass die Begleitung der Singstimme aus der Aufeinanderfolge von je zwei Achtel-Akkorden und einem Viertel-Akkord besteht. Sie soll „zart und durchweg sehr gebunden“ ausgeführt werden. Da die melodische Linie der Singstimme dazu neigt, sich ruhig auf einer tonalen Ebene zu entfalten und sich dort immer wieder einmal Dehnungen zu überlassen, entsteht der Eindruck, als würde sie schweben. Ein lieblicher, von leichter Wehmut eingefärbter Grundton ist ihr eigen. Schon die erste Melodiezeile, die den ersten Vers umfasst, lässt erkennen, wie er zustande kommt. Die melodische Linie verharrt, mit einer Dehnung auf dem Wort „Strauß“, erst einmal auf der tonalen Ebene eines „D“, wobei sie nur anfänglich in G-Dur harmonisiert ist. Bei „gepflücket“ aber geht sie in einen Sekundsprung über, der in einen Terzfall mündet. Und hier ereignet sich eine Rückung nach a-Moll, - was eben diese klangliche Suggestion von leichter Wehmut bewirkt.


    Ganz in C-Dur steht die melodische Linie auf den Worten “grüße dich vieltausendmal“. Hier fehlt der wehmütige Unterton ganz und gar. Nach einer kurzen Sekundfallbewegung ereignet sich eine lange Dehnung auf dem Wortteil „tausend“, und danach steigt die Vokallinie in zwei Schritten zu einem „C“ empor, auf dem sie lange verharrt. Eine anderthalbtaktige Pause folgt, die wirkt, als solle diesem Gruß nachgesonnen werden. Mit den Worten „ich habe mich oft gebücket“, denen im nächsten Vers ein anfängliches „Ach“ folgt, ist er aber schon wieder da. E-Moll dominiert, und der verminderte Quintsprung zu dem Wort „oft“ hin, der diesem einen starken melodischen Akzent verleiht, verstärkt ihn sogar noch, zumal wieder eine Fallbewegung in kleinen Sekunden folgt.


    Ein wenig kläglich kommt dann das „Ach“: Es wird auf einem hohen „D“ im Wert einer Viertel-Note deklamiert, die ihm eine leichte Dehnung verleiht, und begleitet wird das mit einer Rückung nach d-Moll. Bei dem Wort „eintausendmal“ verharrt die melodische Linie vielsagend auf der tonalen Ebene eines A“ in mittlerer Lage. Hier moduliert das d-Moll nach D-Dur, um die positiven Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die mit dieser Geste des „Bückens“ verbunden sind.


    „Immer wärmer“ und „steigernd“ lauten dann die Anweisungen für den Vortrag der beiden letzten Melodiezeilen, die nur durch eine Achtelpause getrennt sind und eine musikalische Einheit bilden. Zu dem Wort „Herz“ hin macht die melodische Linie einen höchst expressiven, aus einer vorangehenden Fallbewegung erfolgenden kleinen Septsprung, der vom Klavier mit einem verminderten Akkord begleitet wird. Aber, und das ist typisch für den Geist dieses Liedes, er ist bei aller stillen Wehmut einer von verhaltener Freude, denn die nachfolgende Fallbewegung der melodischen Linie bei dem Wort „gedrücket“ ist in Dur harmonisiert (D-Dur).


    Und so endet das Lied auch. Der Quartfall, der sich auf der ersten Silbe von „hunderttausendmal“ ereignet, ist zwar noch in g-Moll harmonisiert, dann aber verharrt die melodische Linie auf der damit erreichten tonalen Ebene und endet, nun in G-Dur stehend, mit einem in eine Dehnung mündenden Terzfall.
    Ein siebentaktiges Nachspiel folgt, in dem das Klavier sich „ganz still“ in den klanglichen Figuren ergeht, die den rhythmischen Charakter des ganzen Liedes prägen.

  • Von den Vertonungen, die diesem kleinen – und darin doch so großen! – Goethe-Gedicht zuteilwurden, ist mir die von Hugo Wolf ganz besonders ans Herz gewachsen, - weil Wolf es vermochte, die Verdichtung der großen emotionalen Emphase zu einer lyrischen Miniatur, wie sie sich hier in der sprachlichen Eskalation des Wortes „tausend“ ereignet, in eine der Schlichtheit der lyrischen Sprache und ihrer dichterischen Aussage voll adäquate Liedmusik einzubringen.
    Im Thread „Hugo Wolf und Goethe“ meinte ich dazu u.a.:
    Eine lyrisch-musikalische Idylle ist das, was einem in diesem Lied begegnet Und ihr ganz spezifischer klanglicher Reiz wurzelt letzten Endes in dem äußerst zarten und höchst delikaten Zusammenspiel von melodischer Linie der Singstimme und Klaviersatz. Diesem wohnt klanglich-rhythmisch so etwas wie ein ruhiges, gleichförmiges Ein- und Ausatmen inne, - der Geist Schubertscher Klavierbegleitung eben. Eigentlich ist es eine Art gleichmäßig zweimal pro Takt sich ereignende harmonische Fallbewegung. – in der Aufeinanderfolge von sich im Intervall jeweils verengenden Akkord-Paaren. In diese rhythmische Gleichförmigkeit, der eine permanent fallende Tendenz innewohnt, will sich die melodische Linie der Singstimme aber zunächst nicht einfügen. Sie neigt dazu, in der Deklamation des lyrischen Textes auf einer tonalen Ebene zu verharren. Aber, obgleich sie am Ende des zweiten und des fünften Verses (bei „viel tausendmal“ und „gedrücket“) sogar einmal nach oben tendiert und sich ohnehin bei der Art ihrer Bewegung über den vom Klavier vorgegebenen Takt hinwegsetzt, wird sie am Ende ihrer kleinen, jeweils von Pausen eingehegten Melodiezeilen von der fallenden Tendenz des Klaviersatzes eingefangen. Sie beschreibt immer wieder Fallbewegungen, - von einer Sekunde über eine Quinte (bei „gebücket“) bis zu einer über mehr als eine Oktave fallenden Linie (bei „Ach, wohl eintausendmal“). Und am Ende ereignet sich das, was man wie ein Ausatmen und ein Sich-Einstellen von wunderbarer Harmonie empfindet. Gerade noch hat sich die Dynamik in einem Crescendo bis zum Forte gesteigert, da erklingt der letzte Vers „ruhiger und immer abnehmend“ in vollkommener rhythmisch- deklamatorischer Einheit zwischen melodischer Linie und Klaviersatz. Und natürlich ist es dieses Mal eine ruhige, weil ohne Achtel-Unruhe und überdies zweimal gedehnt erfolgende, also gleichsam einvernehmliche Fallbewegung, die am Ende auf dem Grundton ausklingt.


    Kann, so muss ich mich nun fragen, der junge Anton Webern mit seiner Komposition auf dieses Gedicht neben der von Hugo Wolf bestehen? Vermochte auch er den Geist dieses kleinen lyrischen Gebildes musikalisch adäquat einzufangen, - auf seine Weise, und mit einer Liedsprache, wie sie ihm, 15 Jahre später und damit zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als dem lyrischen Text gemäß erschien? Er hätte das vermutlich verneint, hielt er doch das Lied nicht einer Veröffentlichung und einer Opus-Auszeichnung für würdig. Aber das ist kein Grund, dieser Frage nicht nachzugehen, stand doch Weberns Urteil über seine „Frühen Lieder“ ganz unter der Maßgabe der liedkompositorischen Qualitätskriterien, wie sie sich für ihn aus der Begegnung mit Arnold Schönberg ergaben.


    Ich neige dazu, diese mir selbst gestellte Frage zu bejahen. Was Weberns Lied abgeht, ist die für die Komposition Hugo Wolfs so charakteristische, auf dem gebundenen Ineinandergreifen der einzelnen Zeilen beruhende innere Geschlossenheit der melodischen Linie, die aber darin gleichwohl die jeweilige lyrische Aussage zu reflektieren vermag. Worin es sich von dem Wolfs strukturell unterscheidet, das ist die melodische und harmonische Binnendifferenzierung. Das macht Weberns Komposition so interessant und so ansprechend, und darin erweist er sich auch als der modernere Liedkomponist, - auch wenn er hier noch weit vom späteren Niveau seiner liedkompositorischen Modernität entfernt ist. Sie ist aber – sozusagen ansatzweise – erkennbar im Ablassen vom traditionellen Gebot der gebundenen Melodik, wie es Wolf auf höchst gelungene Weise realisiert und Weberns Zeitgenosse Gustav Mahler wieder aufzugreifen und – mit großem Erfolg! - neu zu beleben versuchte.


    Diese Liedkomposition Weberns begegnet einem in all ihrer miniaturhaften Kleinheit als strukturell höchst differenziertes musikalisches Gebilde. Er verfolgt darin wieder das für ihn als Liedkomponisten so typische und ihn kennzeichnende Konzept der Konzentration auf die einzelne Melodiezeile in ihrer Reflektion der zugehörigen lyrischen Aussage. Jedem Vers ist eine eigene Melodiezeile gewidmet, die eine ganz eigene Struktur und eine eigene Harmonisierung aufweist und durch unterschiedlich lange, von einem Achtel bis zu fast zwei Takten reichende Pausen voneinander abgehoben sind, - gleichwohl aber eine musikalische Einheit bilden, die auch ganz wesentlich durch den Klaviersatz mit gestiftet wird.


    Das Lied ist in seiner Faktur oben zu beschreiben versucht worden. Deshalb hier nur noch ein Blick auf ein Detail, das dieses liedkompositorische Konzept Weberns zu konkretisieren vermag. Es ist das lyrisch so zentrale und von Goethe lyrisch-sprachlich so meisterhaft schlicht und souverän zugleich gehandhabte „tausendmal“. Bei Webern weist es – anders als bei Wolf – jedes Mal eine deutlich andere melodische Struktur, eine andere Harmonisierung und damit eine andere musikalische Aussage auf. Beim ersten Mal geht die melodische Linie aus einer langen Dehnung in eine Aufwärtsbewegung über und ist am Ende in C-Dur harmonisiert. Will vernommen werden als: Das ist ein inniger und liebevoller Gruß.


    Beim zweiten Mal, bei dem dieses „tausendmal“ lyrisch-sprachlich ja mit einem „ach“ eingeleitet wird, dem der Hinweis darauf vorausgeht, dass das lyrische Ich sich „oft gebücket“ hat, beschreibt die melodische Linie erst einen Sextfall, bevor sie auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage verharrt, wobei sich eine Rückung von d-Moll zu D-Dur ereignet. Will vernommen werden als: Möge doch all meine tausendfältig sich um Ausdruck bemühende Liebe die Resonanz finden, die sie sich wünscht.


    Und beim dritten Mal, ihm geht das emphatische, in einem melodischen Septsprung mit anschließender gedehnter Fallbewegung sich artikulierende Bekenntnis „Und ihn ans Herz gedrücket“ voraus, beschreibt die Vokallinie einen Quartsprung zum höchsten Ton des Liedes und kehrt von dort wieder zu ihrem Ausgangston zurück, um dort in silbengetreuer Deklamation zu verbleiben, wobei sich am Ende eine Rückung von g-Moll nach G-Dur ereignet. Das nun will vernommen werden als Nachklang der Vergegenwärtigung des vorangehenden Bildes vom „Ans Herz-Drücken“ in der sehnsüchtigen Hoffnung, dass dieser „Blumengruß“ bei dem Geliebten in eben dieser innigen Herzlichkeit ankommen möge. Deshalb lässt Webern nicht, wie Wolf das tut, die melodische Linie auf dem Grundton enden, sondern auf der Terz. Und das für dieses so kurze Lied ungewöhnlich lange, nämlich sechstaktige Nachspiel spinnt dann diesen offenen Schluss der Melodik weiter.

  • Martin Greif: „Bild der Liebe“


    Von Wald umgeben
    ein Blütenbaum –
    so lacht ins Leben
    der liebe Traum,
    ihm nah verbunden
    und fern zugleich,
    bis er entschwunden
    dem Zauberreich.



    Anton Webern: „Bild der Liebe“

    Wieder eine – für Weberns Liedkunst so typische – musikalische Miniatur: Vier Melodiezeilen, aus jeweils zwei Versen gebildet und nur einmal durch eine Dehnung, ansonsten aber durch lange Pausen voneinander abgehoben und getrennt, entfalten sich in einem klanglichen Feld, das mit einem siebentaktigen Vorspiel einsetzt, dann die ersten beiden Melodiezeilen begleitet und trägt, danach in einem dreitaktigen Zwischenspiel wieder in den Vordergrund tritt, in einem etwas kleineren (eineinhalb Takte) Zwischenspiel vor der letzten Melodiezeile das noch einmal tut und schließlich in einem zweitaktigen Nachspiel das Lied verlässt. Das alles ereignet sich in großer Stille. Das Pianissimo herrscht vor. Nur einmal wagt sich das Klavier mit einem Akkord ins Piano vor, ansonsten aber führen die dynamischen Bewegungen ins Piano-Pianissimo. Alle Vortragsanweisungen – und es gibt wieder einmal sehr viele – lauten auf „ganz leise“, „noch leiser“ und „ganz leise und zögernd“.


    Weber komponierte dieses Lied am 11. September 1904. Ein Zweihalbetakt liegt ihm zugrunde, und die Hauptanweisung für den Vortrag lautet „voll Innigkeit“. Vorzeichen gibt es nicht, und die Harmonik ist wieder, darin den liedkompositorischen Interessen des jungen Webern entsprechend, auf das Ausloten des harmonischen Raumes zum Zwecke der klanglichen Akzentuierung der melodischen Linie der Singstimme angelegt. Dabei ereignen sich von Melodiezeile zu Melodiezeile harmonisch geradezu kühne Rückungen. Bei der ersten und zweiten Zeile dominiert Ces-Dur (in B-Dur mündend), bei der dritten fis-Moll und bei der vierten C-Dur. Dieser Dominanz der jeweiligen Tonart sind aber vielerlei Modulationen beigegeben. Unüberhörbar und zweifellos den starken Eindruck, den das Lied macht, mitbedingend, ist, dass der Harmonik und dem sie klanglich realisierenden Klaviersatz eine große Bedeutung hinsichtlich der Aussage der melodischen Linie zukommt.


    Schon das Vorspiel lässt dieses kompositorische Konzept Weberns deutlich vernehmen. Zwei Mal ereignen sich triolische Aufwärtsbewegungen von Achteln und Vierteln, die in einen lang gehaltenen Akkord münden, beim dritten Mal sind es – wiederum nach oben steigende – dreistimmige Akkorde. Am Ende steht hier ein fermatierter siebenstimmiger B-Dur-Akkord, im ersten Fall ereignet sich eine Rückung von einem F-Dur-Akkord zu einem in G-Dur, der ebenfalls eine Fermate trägt. Schon im Vorspiel geschieht also harmonisch sehr viel.


    Alle vier Melodiezeilen wirken klanglich überaus zart. Das liegt daran, dass es in ihnen zwar Sprung- und Fallbewegungen gibt, die jedoch nur an jeweils einer Stelle, und zwar dort, wo ein lyrisch bedeutsames Wort akzentuiert werden soll. Ansonsten aber neigt die melodische Linie dazu, in ihren Bewegungen innerhalb eines kleinen Intervalls auf nur einer tonalen Ebene zu verbleiben. Und zu diesem Eindruck der Zartheit trägt auch wesentlich bei, dass die nachfolgenden Pausen den Melodiezeilen Raum zum Ausklingen lassen.


    Selbst bei der ersten Zeile, die die beiden ersten Verse umfasst, ist das so, obgleich hier der einzige Fall vorliegt, dass ihr keine Pause folgt. Sie setzt bei den Worten „Von Wald“ mit einem veritablen Oktavsprung ein, geht aber dann nach zweimaligem Terzfall zur Bewegung auf der tonalen Ebene eine „B“, bzw. „H“ über, auf der sie auch dann mit einer Dehnung (auf der letzten Silbe von „Blütenbaum“) endet. Auch in der zweiten Melodiezeile (Verse drei und vier) gibt es eine markante Sprungbewegung: Es ist wieder ein Oktavsprung der melodischen Linie hin zu dem Wort „Liebe“, das auf diese Weise einen starken Akzent erhält, denn es ist der höchste Ton des ganzen Liedes, der hier erklingt (ein hohes „B“). Eine dreitaktige Pause folgt dem dreimaligen Sekundfall der melodischen Linie hin zu dem Wort „Traum“. Hier erklingen im Piano-Pianissimo modulatorisch reiche akkordische Bewegungen, die – wieder einmal – in einen siebenstimmigen fermatierten D-Dur-Akkord münden. Er löst sich in drei Bewegungen von Oktaven im Diskant auf, die „sehr leise und sehr gebunden“ vorzutragen sind.


    Bei den beiden letzten Melodiezeilen setzt sich die Tendenz der Melodik, auf einer tonalen Ebene in ruhiger Bewegung zu verharren, endgültig durch. Nur zweimal noch ereignet sich ein Sprung. Zunächst bei dem Wort „fern“, das von seiner lyrischen Bedeutung her einen Akzent erhalten muss. Der zweite Sprung akzentuiert das letzte Wort: „Zauberreich“ (ein verminderter Terzsprung). Davor aber hat die melodische Linie längst zur Ruhe gefunden. Die Worte „bis er entschwunden dem“ werden ausschließlich auf einem Ton deklamiert, einem „C“ in mittlerer Lage, - mit einer Dehnung auf der zweiten Silbe von „entschwunden“ allerdings.

  • Martin Greif, der mit bürgerlichem Namen eigentlich Friedrich Hermann Frey hieß und von 1829 bis 1911 lebte, verfasste zwar auch – unbedeutende, weil epigonale - historisch-patriotische Dramen, eine gewisse Bedeutung errang er aber mit seiner Lyrik, die in ihren besten Erzeugnissen zu metaphorisch-impressionistischer Dichte finden konnte. Und genau darin hat er wohl Anton Webern anzusprechen vermocht, dem selbst ja auch dieser Hang zur liedkompositorischen Konzentration auf den lyrischen Augenblick eigen war, - und dies ganz offensichtlich von Anfang an, wie dieses Lied, das er im Alter von 21 Jahren schrieb, sehr schön erkennen lässt.


    Mit Blick auf seine Lieder hat man von „Klangstenogrammen“ gesprochen, und darin entsprechen sie voll und ganz den Intentionen, die seinem kompositorischen Gesamtwerk zugrundeliegen. Erkennbar ist seine Neigung zur gleichsam reduktionistischen Konzentration auf die lyrische Metapher und den Kern der lyrischen Aussage, die eine miniaturhafte Verdichtung der Liedmusik zur Folge hat, nicht erst in seinem Opus 3, sondern ansatzweise auch schon, wie ich meine, bei den Liedern, die diesem zeitlich vorausgehen. Darauf wurde gerade beim vorangehend vorgestellten Lied „Blumengruß“, hingewiesen.


    Auch in „Bild der Liebe“ ist wieder dieses liedkompositorische Konzept der gleichsam insular konzipierten, gleichwohl in einen melodischen Kontext eingebundenen Melodiezeile zu erkennen. Hier sind es vier Liedzeilen, die jeweils zwei lyrische Verse umfassen und durch Pausen voneinander abgesetzt sind. Obgleich der Pause für diese auf die Herausarbeitung der einzelnen Zeile abgestellte Struktur der Melodik eine wichtige Funktion zukommt, ist sie nicht der einzige relevante Faktor. Der andere, und vielleicht der wichtigere, ist die Harmonik. Und vielleicht, so meine Vermutung, ist darin ein wesentlicher Grund für Weberns spätere Abwendung vom regulativen Prinzip der Tonalität zu finden.


    Dieses Lied ist natürlich noch sehr weit weg davon. Auffällig – und durchaus seinen klanglichen Zauber mit generierend – ist aber seine Harmonik, die in ihren Modulationen so weit ausgreift, dass dem Lied kein harmonisches Zentrum zuzuordnen ist. Schon das Vorspiel mit seiner Kombination aus flüchtigen Achtel-Bewegungen, die in wie statisch anmutende, weil aus großen Notenwerten (halbe und ganze Note) bestehende Akkorde münden, streift in seinen Modulationen vier harmonische Schwerpunkte. Nur zwei der vier Melodiezeilen sind harmonisch relativ stabil. Die erste moduliert von B-Dur nach Ces (oder H-)-Dur, die zweite kehrt von dort wieder zu B-Dur zurück, die dritte verbleibt – nach einem kurzen harmonisch wiederum modulatorisch reichen Zwischenspiel – im wesentlichen im Bereich von fis-Moll, und in der vierten dominiert C-Dur. Das aber, wie auch das Nachspiel vernehmen lässt, nicht als Grundtonart im Sinne einer Kadenz, sondern eher als modulatorisch instabile Dominante, - einen harmonisch offenen Schluss suggerierend.


    Klangliche Offenheit suggeriert ja auch die Melodik. Die letzte Melodiezeile verharrt in ihren deklamatorischen Schritten - mit Ausnahme eines einzigen kleinen Terzsprungs zu einem hohen „Es“ – auf einem „C“ in oberer Mittellage. Hier – wie durchweg bei allen vorangehenden Melodiezeilen auch – reflektiert die Melodik die lyrische Aussage. Das „Bild der Liebe“ wird lyrisch an der Metapher vom „Blütenbaum“ festgemacht. Wie dieser vergeht, ist auch sie vergänglich. Sie ist ihm darin „nah verbunden“ und „fern zugleich“, denn „der Liebe Traum“ gehört einem „Zauberreich“ an, aus dem er „entschwinden“ kann.


    Diese metaphorisch fundierte lyrische Aussage reflektiert die Melodik des Liedes in einer klanglich durchaus beeindruckenden Weise, wobei der Harmonik eine wesentliche Funktion zukommt. Ihre modulatorisch schweifende Instabilität suggeriert klanglich Vergänglichkeit. Bei der zweiten Melodiezeile – auf die Worte: So lacht ins Leben der Liebe Traum“ weist die melodische Linie in ihrem bogenförmigen Aufschwung zum höchsten Ton des Liedes die Anmutung tiefer Beglückung auf, - und die Modulation der Harmonik nach B-Dur bestärkt sie darin. Am Ende aber entschwindet alles in diesem Verharren der melodischen Linie auf nur einem Ton in einem harmonisch instabilen, weil modulatorisch gestörten C-Dur „im Zauberreich“.

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  • Wilhelm Weigand: „Sommerabend“


    Du Sommerabend! Heilig, goldnes Licht!
    In sanftem Glühen steht die Flur entzündet.
    Kein Laut, der dieses Friedens Lauschen bricht,
    in ein Gefühl ist alles hingemündet.


    Auch meine Seele sehnt sich nach der Nacht
    und nach des Dunkels taugeperltem Steigen
    und will nur lauschen, wie in Rosenpracht
    die dunklen Himmelsstunden leuchtend schweigen.




    Anton Webern: „Sommerabend“

    „Voll heiligster Ruhe“, so lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied, das am 7. September 1903 entstand. Ein Sechsachteltakt liegt ihm zugrunde, Vorzeichen gibt es nicht. Die schwärmerische Metaphorik des Gedichts von Wilhelm Weigand hat Webern zu einer Liedkomposition inspiriert, in der sich eine zauberhaft schwebende Klanglichkeit entfaltet, die sich durch eine höchst beeindruckende emphatische Innigkeit auszeichnet, Sowohl die Melodik, wie auch der Klaviersatz und die Harmonik leisten dazu einen gewichtigen Beitrag. Letztere mutet wegen der weit ausgreifenden Modulation schweifend an. Schweifend wirkt aber auch die melodische Linie in der Art ihrer Bewegung. Diese erfolgt zwar durchgehend ruhig, steigert sich dabei aber immer wieder einmal in eine emphatische Aufgipfelung, aus der heraus sie dann ausklingt. Das kann sie, weil sie sich aus kleinen Zeilen zusammensetzt, denen – mit Ausnahme der beiden letzten Verse – allemal eine mehr oder weniger lange Pause folgt. Und all dem liegt ein schweifender Klaviersatz zugrunde. Fast durchgängig ist er rhythmisch-klanglich beherrscht von einer Figur, in der drei akkordische Achel legato in einen punktierten Viertel-Akkord münden.


    Der expositionelle Charakter der beiden Ausrufe des ersten Verses schlägt sich in zwei kleinen Melodiezeilen nieder, die durch eine lange (dreitaktige) Pause voneinander getrennt sind, in der eine Achtelkette aus dem Klavierbass nach oben in den Diskant schweift und in einen Akkord mündet. Die erste Melodiezeile endet in einem Oktavfall auf der Silbe „-abend“, die zweite verbleibt auf der tonalen Ebene eines hohen „B“, bzw. „C“ und mündet in eine lange Dehnung eine Sekunde höher. Wieder folgt eine längere Pause (fast zwei Takte).


    In dieser Weise entfaltet sich die melodische Linie weiter. Meist bewegt sie sich in großer Ruhe auf der am Zeilenanfang eingenommenen tonalen Ebene. Es ist immer ein Vers, der der Melodiezeile zugrunde liegt, und am Ende folgt eine Pause für die Singstimme, die nur ein Mal, am Ende des dritten Verses der ersten Strophe, nur den Wert eines Viertels hat, ansonsten sind es bis zu zwei Takte, in denen das Klavier seine in der beschriebenen Weise rhythmisierten Figuren artikulieren und zur nächsten Tonart modulieren kann, mit der die melodische Linie einsetzt.


    Aus diesen harmonischen Modulationen bezieht die Melodik des Liedes einen wesentlichen Teil ihrer musikalischen Aussage. Bei dem Wort „Flur“ zum Beispiel gipfelt sie, um diesem lyrischen Bild des zweiten Verses Nachdruck zu verleihen, mit einem Oktavsprung auf, und die Harmonik rückt von e-Moll nach D-Dur. Das wirkt klanglich überaus effektvoll. Beim dritten Vers der ersten Strophe verharrt die melodische Linie, die Ruhe des lyrischen Bildes reflektierend („kein Laut…“), nach einem Quintfall auf der tonalen Ebene eines tiefen „D“. Am Ende aber, bei dem Wort „bricht“, ereignet sich wieder eine höchst expressive Modulation von Gis-Dur nach G-Dur. Die Worte „in ein Gefühl“ am Anfang des vierten Verses erhalten durch eine Kombination aus Sextsprung und Oktavfall einen starken melodischen Akzent, der durch einen lang gehaltenen siebenstimmig arpeggierten H-Dur-Akkord eine expressive Steigerung erfährt. Aber, und das ist typisch für dieses Lied, danach findet die melodische Linie wieder zur Ruhe auf der tonalen Ebene eines tiefen „Es“, auf dem sie in eine fast dreitaktige Pause ausklingt.


    Vier weitere Aufgipfelungen ereignen sich in der Melodik noch. Und in allen Fällen folgt ihnen wieder melodische Ruhe: Bei den Worten „des Dunkels“ (2.Vers, 2.Strophe) eine Kombination aus Quartsprung und Sextfall, bei dem Wort „Steigen“ (Ende zweiter Vers) ein Oktavfall, bei dem Wort „Rosenpracht“ (Ende dritter Vers) eine in hohe Lage ausgreifender melodischer Bogen und bei den Worten „dunklen Himmelsstunden“ (letzter Vers) eine Kombination aus Sextsprung mit Oktavfall. Alle diese melodisch expressiven Bewegungen sind mit harmonischen Rückungen verbunden, die im Quintenzirkel weitab liegen und auf diese Weise einen starken, die Melodik in ihrer Aussage steigernden Effekt entfalten.


    Aber das alles ereignet sich in seliger Ruhe und im äußersten Piano. Und so klingt das Lied auch aus: Mit einem Oktavfall im Pianissimo auf dem Wort „schweigen“, Es ist in helles H-Dur gehüllt, das das Klavier mit Achtel-Quinten im Diskant ausklingen lässt.

  • Man muss, von diesem Lied ausgehend, nicht in eines aus den späten, 1933/34 entstandenen Opera 23 und 24 auf Gedichte von Hildegard Jone hineinhören, um den ungeheuren liedkompositorischen Weg zu ermessen, den Anton Webern zurückgelegt hat. Es genügt, wenn man einen hörenden Einblick in die nur drei Jahre später entstandenen Lieder auf Gedichte von Richard Dehmel (die Webern einer Opus-Auszeichnung nicht für würdig hielt) oder die des fünf Jahre später komponierten Opus 3 nimmt. Die im Jahre 1904 angetretene Schülerschaft bei Arnold Schönberg muss ganz offensichtlich tiefgreifende, geradezu revolutionäre Auswirkungen auf seine Grundhaltung als Liedkomponist gehabt haben, - was sowohl die Wahl des lyrischen Textes, wie auch die Umsetzung von dessen sprachlicher Struktur, seiner Metaphorik und seines dichterischen Gehalts anbelangt.


    In diesem Lied schwelgt er - noch unberührt von Schönbergs pädagogischen Einflüssen, also gleichsam unschuldig - auf geradezu exzessive Weise in traditioneller Liedsprache. Das Resultat ist ganz ohne Zweifel klanglich überaus beeindruckend, aber man könnte sich gut vorstellen, dass er sich schon zwei Jahre später seiner geschämt hätte, so er denn von jemandem darauf angesprochen worden wäre. Aber, so sehr liedsprachlich traditionell dieses Lied auch anmuten mag, und das mehr noch als das vorangehend vorgestellte „Bild der Liebe“, - man vernimmt auch hier so etwas wie einen Drang hin zu liedsprachlicher Innovation. Und das wieder in der Neigung zur kompositorischen Konzentration auf die einzelne Melodiezeile in Kombination mit der Ausschöpfung des klanglichen Potentials der harmonischen Modulation.


    In der obigen Vorstellung des Liedes sollte das deutlich geworden sein. In Ergänzung dazu sind - mit Blick auf das Verhältnis von lyrischem Text und liedsprachlicher Umsetzung - vielleicht noch diese kurzen Anmerkungen angebracht. Das Gedicht des 1949 verstorbenen, von der Spätromantik herkommenden und stark dem poetischen Realismus zuneigenden, den Naturalismus hingegen radikal ablehnenden Dramatikers, Erzählers, Essayisten und Lyrikers Wilhelm Weigand beschwört die Stille eines „Sommerabends“, in der „kein Laut“ des „Friedens Lauschen bricht“, und der die Seele sich nach der Nacht sehnt, um lauschen zu können, wie „die dunklen Himmelstunden leuchtend schweigen“. Man vernimmt die Inspiration durch das Lebensgefühl der Romantik in diesen Versen. Sie verraten sich aber – hinter ihrer epigonalen lyrischen Sprachlichkeit - in der Fixierung der lyrischen Aussage auf das lyrische Ich selbst als ein poetisches Gebilde der Moderne.


    Die immense Fähigkeit des jungen Anton Webern, lyrische Sprache in engster Anlehnung an ihre Prosodie, ihre Semantik und ihre Metaphorik in Musik zu setzen, wird hier vor allem darin deutlich, dass er das lyrische Zentrum, die Stille nämlich, in höchst beeindruckender Weise mit seiner Liedmusik klanglich zu evozieren vermag. Das geschieht mittels einer Melodik, die sich in ruhiger Bewegung im Raum von einzelnen Zeilen entfaltet, die allesamt in mehr oder weniger lange Pausen münden, die über dem klanglichen Fundament des sich in triolischen Achtelfiguren ununterbrochen wiegend entfaltenden Klaviersatzes tatsächlich Stille generieren.


    Die – im Grunde urromantische - Sehnsucht des lyrischen Ichs nach der lauschenden Teilhabe an der Stille des Sommerabends und der darauf folgenden Nacht vermag die Liedmusik auch deshalb in so überzeugender, und den lyrischen Text dabei auf ein gleichsam höheres künstlerisches Niveau hebender Weise zum Ausdruck zu bringen, weil der Melodik eine modulatorisch weit ausgreifende, sich schweifend gebärende und damit klanglich Entgrenzung suggerierende Harmonik zugrunde liegt: Von H-Dur über e-Moll, D-Dur, Dis-Dur, Gis-Dur, G-Dur, ja sogar C-Dur und Cis-Dur und über vorübergehende d-Moll-Klänge und harmonische Verminderungen über ein g-Moll zurück nach G-Dur am Ende.


    Was ich mich frage:
    Das ist ein klanglich so wunderschönes Lied. Was nur mag in einem jungen Musiker und Komponisten vorgegangen sein, sich zu seiner Zeit damit nicht zufrieden zu geben, diese liedkompositorische Linie also nicht weiter zu verfolgen, sondern sich auf ein liedmusikalisches Terrain vorzuwagen, auf dem ihm kaum noch Resonanz bei den von der traditionellen Liedmusik geprägten Hörerschaft beschert sein konnte, - statt dessen Einsamkeit?


    Wird vielleicht Weberns von diesem frühen Liedschaffen her so radikal anmutender Schritt in die herbe, von Atonalität geprägte und auf das Stenogramm reduzierte Klanglichkeit seiner späteren Liedmusik allererst verständlich als Folge der Erkenntnis, dass die traditionelle Liedsprache, wie sie in diesem Lied „Sommerabend“ auf so faszinierende Weise klangliche Gestalt angenommen hat, nicht in der Lage ist, den Geist der eigenen Lebenszeit, den der Moderne also, einzufangen?
    Dieser Gedanke wird weiter zu verfolgen sein.

  • Friedrich Nietzsche: „Heiter“


    Mein Herz ist wie ein See so weit,
    drin lacht dein Antlitz sonnenlicht
    in tiefer, süßer Einsamkeit,
    wo leise Well´ an Well´ sich bricht.


    Ist´s Nacht, ist´s Tag? Ich weiß es nicht.
    Lacht doch auf mich so lieb und lind
    dein sonnenlichtes Angesicht,
    und selig bin ich wie ein Kind.



    Anton Webern: „Heiter“

    Das zentrale lyrische Bild, das vom „lachenden sonnenlichten Antlitz“, das das lyrische Ich beseligt, ist von Weberns Liedmusik in wahrlich großartiger Weise eingefangen. Es strahlt eine beseelt heitere Klanglichkeit aus. Daran ist nicht nur die bei eben diesem Bild zwei Mal strahlend aufgipfelnde Melodik beteiligt, sondern auch das Klavier. Der Sechsachteltakt ist auf eine heiter und beschwingt anmutende Weise rhythmisiert. Eine Grundfigur prägt den Klaviersatz: Eine Kombination aus punktiertem Achtel, Sechzehntel und Achtel. Und wenn sie in der kurzen Pause der Singstimme zwischen der ersten und der zweiten Melodiezeile (erster und zweiter Vers) aufklingt, so meint man darin das Lachen zu vernehmen, von dem die Singstimme gleich darauf spricht.


    Das Lied ist nicht genau zu datieren. Man weiß nur, dass es 1904 entstanden sein muss. Die Grundtonart ist zwar A-Dur, aber zur Eigenart dieses Liedes gehört es, dass sie erst am Ende erreicht wird. Die Beschwingtheit der melodischen Linie ist so groß, dass sie von G-Dur über H-, und Gis-Dur alle möglichen Tonarten durchschweift, bis sie schließlich zur Ruhe auf dem Grundton „A“ finden kann. Das geschieht bei dem letzten Wort: „Kind“. Als habe ihr die rhythmische Begleitfigur, mit der das Lied einsetzt, Schwung verliehen, beginnt die melodische Linie der Singstimme mitten in ihr mit einem Terzsprung auf den Worten „Mein Herz“. Der Bekenntnischarakter der beiden ersten Verse schlägt sich in einer Melodik nieder, die in ihrem lebhaften Auf und Ab ganz auf das jeweilige Ende der Zeile zugeschnitten zu sein scheint. Beide Melodiezeilen münden in ein fermatiertes Viertel, dem eine Viertel-Pause folgt. Ouvertürenhaft muten diese Zeilen an, zumal der letzte Schritt, der gleichsam auftaktig erfolgt, mit einer harmonischen Rückung verbunden ist.


    Beim dritten und vierten Vers der ersten Strophe bewegt sich die melodische Linie, ganz dem lyrischen Bild entsprechend („in tiefer, süßer Einsamkeit“), ganz und gar in tiefer Lage. Das Wort „Einsamkeit“ wird ausschließlich auf einem tiefen „D“ deklamiert. Erst bei den Worten „Well´ an Well´“ ereignet sich in dieser Lage ein kleiner Terzsprung mit nachfolgendem Sekundfall. Obgleich sich die melodische Linie tatsächlich nur um eine Terz kurz aus dieser tiefen Lage erhebt, um am Ende wieder zu ihrem Ausgangston zurückzukehren, gewinnt man den Eindruck eines langsamen Aufsteigens in höhere Lage. Der Grund dafür liegt in den permanenten harmonischen Rückungen, die sich hier ereignen: Von H-Dur über G- und Fis-, zu D-Dur am Ende. Dort, bei dem Wort „bricht“ erklingt „ppp“ ein lang gehaltener siebenstimmiger D-Dur-Akkord (fermatiert), dem eine eineinhalbtaktige Pause für die Singstimme folgt.


    Die Verwirrtheit des lyrischen Ichs, mit der die zweite Strophe einsetzt, reflektiert die melodische Linie mit zwei Sprungbewegungen (Quinte und Quarte), die jeweils zu einem Verharren in Gestalt einer Dehnung auf der erreichten tonalen Ebene führen. Das Klavier ist hier von seiner rhythmischen Grundfigur abgegangen und folgt der Deklamation mit Terzen im Diskant, was dieser in ihrer melodischen Aussage starken Nachdruck verleiht. Bei den Worten „lacht doch auf mich“ ist die beschwingte Rhythmisierung im Klaviersatz aber schon wieder da. Hier verharrt die melodische Linie zunächst auf der tonalen Ebene eines „C“ in mittlerer Lage, geht aber dann, um die jeweiligen Worte zu akzentuieren bei „lieb“ und „lind“ zu Fall- und Sprungbewegungen über eine Quarte und eine Sexte über.


    Zu einer emphatischen Steigerung kommt es bei den Worten „dein sonnenlichtes Angesicht“ (3.Vers, 2. Strophe). Mit einem Quartsprung schwingt sich die melodische Linie zum höchsten Ton des Liedes auf, einem „Gis“ in hoher Lage, und senkt sich dann erst in Sekundschritten, dann aber mit einem doppelten Terzfall, der leicht rhythmisiert ist, bei „Angesicht“ zu einem tiefen „Gis“ ab. Das Klavier folgt dieser Fallbewegung der melodischen Linie auf klanglich beeindruckende Weise mit dreistimmigen Akkorden im Diskant, wobei die Harmonik zwischen Gis-Dur und Cis-Dur moduliert.


    Wunderbar der Schluss des Liedes. Zwei kleine Melodiezeilen, die eine auf den Worten „und selig bin ich“, die andere auf „wie ein Kind“ wirken klanglich wie ausrufartige Bekenntnisse glückhafter Beseligung. Die Deklamation erfolgt jeweils nur auf einem Ton, einem „Gis“ und einem „A“ in mittlerer Lage, wobei der erste eine Dehnung trägt, so dass die Worte „selig“ und „wie“ melodisch herausgehoben werden. Zwischen beiden Melodiezeilen liegt eine Pause im Wert von drei Achteln. Auch das verleiht ihnen jeweils ein großes Gewicht. Das Klavier begleitet mit seiner rhythmischen Grundfigur, und die Harmonik moduliert von Gis-Dur über die Dominante D-Dur zur Tonika A-Dur.


    Man hat an der musikalisch beschwingten, weil von innerem Jubel beseligten Artikulation glückhafter Erfahrungen eines lyrischen Ichs teilgenommen, die nun zur Ruhe gekommen sind.

  • Das „Heiter-Sein“, von der Nietzsches Verse sprechen, ist weit entfernt von vordergründig-oberflächlicher Heiterkeit. Es ist ausweislich der lyrischen Sprache und der Metaphorik, in der der große Philosoph sich wieder einmal als genuiner Lyriker erweist, von tiefgründigem Wesen. Es hat seinen Quell in der Begegnung mit einem anderen Menschen, die, weil sie als die mit einem „lachenden“, „sonnenlichten Angesicht“ erfahren wird, in das Glück und die Seligkeit eines reflexiv noch ungebrochenen Kind-Seins zu münden vermag.


    Auch in diesem Lied erweist sich Webern wieder als hochgradig sensibel für lyrische Sprache, - eben weil er seinerseits in seinem Wesen musikalischer Lyriker ist. Er vermag auf der Ebene der Musik eben diesen Quellgrund der seelischen Befindlichkeit, von der Nietzsches Gedicht spricht, sinnlich erfahrbar werden zu lassen. Und der Weg dazu ist wieder die kompositorische Konzentration auf die einzelne Melodiezeile, die diese in ihrem evokativen musikalischen Potential zu einem - darin dem lyrischen Vers entsprechenden - gleichsam singulären klanglichen Ereignis werden lässt, das gleichwohl dabei in einen musikalischen Kontext eingebunden bleibt.


    Wie tief Webern mit diesem liedkompositorischen Konzept in die lyrische Aussage von Nietzsches Versen einzudringen vermochte, das wird, so wie ich das sehe, ganz besonders an der liedmusikalischen Exposition der beiden letzten Verse der ersten Strophe deutlich. Die Worte „in tiefer, süßer Einsamkeit, wo leise Well´ an Well´ sich bricht“ schließen sich bei Nietzsche unmittelbar an den zweiten Vers an („drin lacht dein Antlitz sonnenlicht“) und bilden mit ihm eine syntaktische Einheit. Webern aber löst diese Einheit auf und widmet diesen beiden Versen eine eigene Melodiezeile, die klanglich in einem geradezu auffälligen Kontrast zu jenen Melodiezeilen steht, die auf den beiden Anfangsversen liegen.


    Nach dem Verharren der melodischen Linie auf dem mit einer Fermate versehenen hohen „Dis“, auf dem alle Silben des Wortes „sonnenlicht“ deklamiert werden und durch die damit einhergehende Rückung nach H-Dur die klangliche Anmutung von lichter Helligkeit gewinnen, kommt eine Viertelpause in die melodische Linie. Nicht nur dieses, sondern auch die Tatsache, dass sie danach um eine Dezime tiefer neu ansetzt, löst die Verse drei und vier aus der syntaktischen Bindung, die Nietzsche ihnen verliehen hat. Was sich melodisch-klanglich nun ereignet, steht in einem sehr deutlich ausgeprägten Kontrast zum klanglichen Charakter der beiden ersten Verse. In – mit einer Ausnahme – syllabisch exakter Deklamation bewegt sich die melodische Linie von einem tiefen „H“ unter mehrfacher Repetition einzelner Töne, also sehr träge wirkend, in Sekundschritten aufwärts zu einem „D“, verfällt in eine kleine Dehnung auf der letzten Silbe des Wortes „Einsamkeit“, beschreibt danach einen kleinen Terzsprung zu dem Wort „Well´“ hin und kehrt danach wieder zu dem tiefen „D“ zurück, das ihr eigentlicher Ort ist, von dem sie sich nicht wirklich zu lösen vermag.


    Bei diesen sich durchweg in tiefer Lage ereignenden melodischen Bewegungen ereignen sich insgesamt sechs harmonische Rückungen: Von H-Dur über ein G- und ein entferntes Fis- bis hin zu D-Dur, in dem der lang gehaltene siebenstimmige Akkord steht, mit dem das Klavier die melodische Linie bei den Worten „sich bricht“ begleitet. Danach folgt eine neuerliche, dieses Mal noch längere, nämlich mehr als einen Takt umfassende Pause für die melodische Linie.


    Was ist hier liedkompositorisch geschehen? Indem Webern – darin die Syntax Nietzsches verlassend und ihn auf diese Weise interpretierend - diese Melodiezeile auf den Versen drei und vier so eigenständig gestaltet und darin von den beiden vorangehenden Zeilen abhebt, lässt er liedmusikalisch erfahrbar werden, warum das lyrische Ich durch die Erfahrung des „sonnenlichten Lachens“, das ihm im Antlitz des gelliebten Du begegnet, in die Seligkeit eines wiedergewonnenen Kind-Seins versetzt wurde. Der faszinierende klangliche Jubel, den er gegen Ende des Liedes in die bis zu einem hohen „Gis“ ausgreifende Bogenbewegung der melodischen Linie bei den Worten „dein sonnenlichtes Angesicht“ legt, wirkt dann wie ein diese Interpretation in ihrer Berechtigung bestätigender Kommentar und verleiht der Komposition ihre innere Geschlossenheit.

  • Matthias Claudius: „Der Tod“


    Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
    tönt so traurig, wenn er sich bewegt
    und nun aufhebt seinen schweren Hammer
    und die Stunde schlägt.



    Anton Webern: „Der Tod“

    „Voll schmerzlicher Trauer“, so lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied, das am 24. November 1903 entstand. Webern musste wohl damals von trister Novemberstimmung erfasst worden sein, denn Melodik und Klaviersatz wirken, als würde eine schwere Last auf ihnen liegen, die sie niederdrückt und daran hindert, sich von der Erstarrung zu lösen, die sie bei dem langen Klageton „Ach“ befallen hat, mit dem das Lied einsetzt, - einem gedehnten tiefen „Des“, dem eine halbtaktige Pause folgt, in der das Klavier einen lang gehaltenen c-Moll-Akkord erklingen lässt. Aber es ist natürlich das lyrische Bild von „des Todes Kammer“, das diese Liedmusik generiert hat, von der in ihrer schweren Moll-Gebundenheit wahrlich etwas Bedrückendes ausgeht.


    Es ist nicht so, dass die melodische Linie sich nicht aus dieser tiefen Lage, in der sie einsetzt, erheben und sich zu höherer hinaufbewegen könnte. Sie erreicht sogar einmal ein hohes „Es“, und dies im dreifachen Forte, bei den Worten „schweren Hammer“ nämlich. Nicht das Verharren in tiefer Lage ist es, was ihr die Anmutung von Schwere und Lähmung in ihrer Bewegung verleiht, es ist vielmehr die Tatsache, dass sie eine ausgeprägte Neigung hat, auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene zu verbleiben, den Anfangston zu repetieren. Schon die erste, den ersten Vers beinhaltende Melodiezeile lässt dies vernehmen. Die Worte „Ach, es ist so“ werden ausschließlich auf einem tiefen „Des“ deklamiert, „dunkel“ auf einem „As“, „in des“ auf einem „F“, und auch auf dem Wort „Todes Kammer“ liegt ein kleiner Sekundfall, der jeweils zwei Töne beinhaltet. Diese lastende Schwere der Melodik entfaltet durch eine zwischen des-Moll und c-Moll modulierende Harmonisierung eine starke Ausdruckskraft.


    Während der Klaviersatz im Diskant aus der Aufeinanderfolge von zumeist dreistimmigen Moll-Akkorden im Wert von einer halben Note besteht, erklingt im Bass das ganze Lied hindurch eine abgrundtiefe C-Oktave, bei der ersten Melodiezeile nun einmal angeschlagen und über sechs Takte gehakten, danach aber taktübergreifend immer wieder neu zum Erklingen gebracht, so dass sie wie ein schwerer Glockenschlag wirkt.


    Bei den nachfolgenden drei Melodiezeilen vermag sich die Vokallinie nicht von dieser starren, über mehrere Worte und Silben sich erstreckenden Deklamation auf einer tonalen Ebene zu lösen. Die zweite Melodiezeile, die den zweiten Vers und einen Teil des dritten umfasst (bis „aufhebt“) deklamiert die Singstimme auf nur drei tonalen Ebenen: Einem tiefen „Es“, einem „C“ (eine Terz tiefer) und einem „B“ in mittlerer Lage. Danach folgt eine Viertelpause, die das nachfolgende liedmusikalische Ereignis umso wirkungsvoller werden lässt. Von dem „B“, auf dem das Wort „seinen“ deklamiert wird, macht die melodische Linie einen Quintsprung zu einem hohen „Es“, und auf diesem werden nun forte-fortissimo die Worte „schweren Hammer“ deklamiert, begleitet von zwei ebenfalls „fff“ markant angeschlagenen ges-Moll-Akkorden. In der nachfolgenden fast eintaktigen Pause für die Singstimme erklingt im Klavierdiskant ein „sff“ angeschlagener und den ganzen Takt über gehaltener dreistimmiger c-Moll-Akkord. Und immerzu ertönen aus dem Bass die schweren C-Oktaven.


    Auch die letzten Worte („und die Stunde schlägt“) werden auf nur einem einzigen Ton deklamiert, einem tiefen „C“. Die Harmonik moduliert dabei von c-Moll über des-Moll zurück zu c-Moll. Das letzte „C“ (auf „schlägt“) hat den Wert einer halben Note, so dass die melodische Linie ausklingen kann. Im viertaktigen, wiederum aus einer Akkordfolge bestehenden Nachspiel, das in einen lang gehaltenen c-Moll-Akkord mündet, senkt sich die Dynamik ins Pianissimo ab.

  • Dieses Lied ist bei YouTube wieder in der Interpretation durch Alicia Terzian zu hören. Dieses Mal wirkt sich ihr ein wenig unkultiviert daherkommender Gesang nicht ganz so negativ auf die Gestaltung der melodischen Linie aus, - eben wegen deren ganz spezifischer, zum Verharren auf der jeweiligen tonalen Ebene neigenden Struktur. Diese Alicia Terzian scheint gar keine professionelle Sängerin zu sein, - was ein wenig die Unzulänglichkeiten ihrer Liedinterpretation in den schon gebrachten Beispielen erklären würde. Bei Wikipedia erhält man über sie die Auskunft:
    Alicia Terzian, geb. am 1. Juli 1934 in Cordoba, ist eine argentinische Komponistin, Dirigentin und Musikwissenschaftlerin armenischer Abstammung.



    https://www.youtube.com/watch?v=JkvL840H-mc

  • Aus diesem Lied spricht tiefe innere Betroffenheit durch die Aussage des lyrischen Textes. Die so sehr beschwert wirkende, ganz und gar in Moll harmonisierte und von ihren zweimaligen Aufstiegen in höhere Lage alsbald wieder in die Tiefe des tonalen Raums eines „Es“ und „Des“ absinkende melodische Linie der Singstimme, die darin nur von der Chromatik lang gehaltener Akkorde und den wie dumpfe Glockenschläge wirkenden Oktaven im tiefen Bass begleitet wird, legt diese Annahme sehr nahe. Die Vertonung dieser Verse durch Othmar Schoeck (op.52, Nr.16) mag ja liedkompositorisch kunst- und anspruchsvoller sein, klanglich so bedrückend wie diese hier wirkt sie – auf mich jedenfalls - nicht.


    Man kann aus Weberns Vertonung der Claudius-Verse aus dem „Wandsbecker Boten“ wieder seine liedkompositorisch große Nähe zur lyrischen Sprache heraushören. Wieder setzt er am einzelnen Vers an und widmet ihm jeweils eine, von einer nachfolgenden Pause in ihrer Eigenständigkeit herausgehobene Melodiezeile. Dabei reflektiert die Struktur der melodischen Linie diejenige der lyrischen Sprache in geradezu vollkommener Weise. Sie zeichnet sich bei diesem Claudius-Gedicht ja durch einen geradezu prosaisch anmutenden, weil sachlich-konstatierenden Gestus aus. In Weberns Melodik schlägt sich dies in einer Struktur nieder, die auf dem Prinzip der Tonrepetition auf so lang wie möglich gehaltener tonaler Ebene beruht, und dies auf der Grundlage syllabisch exakter Deklamation. Nur wenige kleine Dehnungen gibt es in dieser in der Abfolge von Achtel-Noten. Sie dienen allesamt der Akzentuierung lyrisch relevanter Elemente: Der Klage „Ach“ und der Worte „dunkel“, „Todes“, „traurig“, „aufhebt“, „schweren“ („Hammer““) und „Stunde schlägt“. Den so eigenartigen, in seiner Einheit von Sachlichkeit und Schwere bedrückend anmutenden Ton der Melodik stören sie nicht, sie verstärken ihn sogar.


    Ob Webern damals eine ihn berührende Todes-Erfahrung gemacht hat? Ich weiß es nicht. Die ihn wirklich tief treffende stand ihm noch bevor: Der Tod seiner Mutter drei Jahre später. Er selbst bekannte in einem Brief vom 17. Juli 1912 Schönberg gegenüber, dass in der Erinnerung an sie und ihren Tod fast alle seine bisherigen Kompositionen entstanden seien. Vielleicht war es ja auch der Totensonntag im Jahre 1903, der ihn zum Griff nach diesem lyrischen Text von Matthias Claudius bewegte.


    Von einem aber ist – was diesen Aspekt des „Griffs nach dem lyrischen Text“ anbelangt – auszugehen: Bei Webern ist er – im Unterschied zu so manch anderem Liedkomponisten (Franz Liszt oder Richard Strauss etwa) – niemals dem Augenblick, gar dem Zufall geschuldet und das jeweilige Gedicht darin nur „Material“ für eine Liedkomposition, sondern die Komposition gründet immer in der unmittelbaren Betroffenheit durch die lyrische Aussage. Viel später (am 11. März 1941) bekannte er einmal Hildegard Jone gegenüber:
    „Nie bin ich etwa in der Absicht – ich kann die ja gar nicht haben – Vokales (…) zu schreiben, gewissermaßen auf Ausschau nach einem Text gegangen. Nie war es so, sondern immer war der zuerst gegeben! War er aber dar, dann sollte wohl eben >Vokales< entstehen.“
    Insofern hat Elmar Budde recht, wenn er anmerkt:
    „Deshalb ist für Webern ein Text mehr als nur Material, das den sachlichen Vorwand zur Komposition liefert; er ist als Dichtung in Gestalt und Bedeutung geistiger Anlass zur Komposition.“

    Ein Bekenntnis, wie das von seinem so verehrten Lehrer Arnold Schönberg, dass er nämlich auch schon einmal eine Musik im Kopf gehabt und danach sich auf die Suche nach einem geeigneten Gedicht gemacht habe, wäre bei ihm nicht möglich gewesen. Auch wenn grundsätzlich zu beachten ist, dass Musik, wenn sie zum gültigen Kunstwerk wird, sich in allen Fällen von ihrem biographischen Fundament ablöst, so hat dieses doch bei Webern eine gewisse Schlüsselfunktion für das Verständnis des gesamten kompositorischen Werks, des lyrischen in ganz besonderer Weise. Nicht ohne Rückblick auf seine eigene Person bemerkte er einmal über seinen „Heiligen“ Gustav Mahler:
    „Wenn man sein Leben nicht wüßte, man könnte es aus den Symphonien rekonstruieren. Sie müssen doch im engsten Zusammenhang stehen mit seinen inneren Erlebnissen.“

  • Detlev von Liliencron: „Heimgang in der Frühe“


    In der Dämmerung,
    Um Glock zwei, Glock dreie,
    Trat ich aus der Tür
    In die Morgenweihe.


    Klanglos liegt der Weg,
    Und die Bäume schweigen,
    Und das Vogellied
    Schläft noch in den Zweigen.


    Hör ich hinter mir
    Sacht ein Fenster schließen.
    Will mein strömend Herz
    Übers Ufer fließen?


    Sieht mein Sehnen nur
    Blond und blaue Farben?
    Himmelsrot und Grün
    Samt den andern starben.


    Ihrer Augen Blau
    Küßt die Wölkchenherde,
    Und ihr blondes Haar
    Deckt die ganze Erde.


    Was die Nacht mir gab,
    Wird mich lang durchbeben,
    Meine Arme weit
    Fangen Lust und Leben.


    Eine Drossel weckt
    Plötzlich aus den Bäumen,
    Und der Tag erwacht
    Still aus Liebesträumen.



    Anton Webern: „Heimgang in der Frühe“

    Webern komponierte dieses Lied am 21, November 1903. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde. Vorzeichen weist es nicht auf, und dies hat seinen Grund. Es begegnet einem als ein musikalisches Gebilde, in dem die melodische Linie in Gestalt kleiner Zeilen, die durch lange Pausen voneinander getrennt sind, durch einen Klangraum schweift, der harmonisch permanent moduliert. Die kleinen Melodiezeilen fangen Impressionen morgendlicher Welt ein, bringen die Emotionen des lyrischen Ichs zum Ausdruck, die aus der vergangenen Nacht nachklingen und die Bilder des Morgens einfärben, und sie steigern sich in einen expressiven Höhepunkt, wenn das lyrische Ich von Lebenslust überwältigt wird. Es ist die Vielfalt an musikalischen Farben und melodischen Figuren, die dieses Lied so überaus reizvoll und beeindruckend macht. Und da ist noch etwas: Man meint, in all dem eine untergründige Erregung zu vernehmen, einen Jubel, der hervorbrechen will, - und dies dann auch tut.


    Wie stark Webern hier mit dem Klang als Ausdrucksmittel arbeitet, um die jeweilige lyrische Aussage in musikalische Evokation umzusetzen, das zeigt sich gleich am Anfang des Liedes. Die zwielichtige, noch nicht ins volle Tageslicht gerückte Situation des Morgens wird im Vorspiel und in der nachfolgenden Begleitung der Singstimme mit einer Folge von stark chromatischen bis dissonanten Akkorden aufgegriffen, die immer wieder in reine Dur-Akkorde mündet, bei denen allerdings die Harmonik wechselt. Und im Bass erklingen tiefe Oktaven, die wie Glockenschläge wirken. Auch die für dieses Lied so typische und es klanglich prägende Struktur der melodischen Linie, dass sie sich aus kleinen, wie klangliche Inseln wirkenden Einheiten zusammensetzt, vernimmt man gleich in der ersten Strophe, Die beiden ersten Verse werden drei Mal auf einem Quintsprung deklamiert, wobei auf „in der Dämmerung“ eine halbtaktige Pause, auf „um Glock zwei“ eine Viertelpause und auf „Glock drei“ wieder eine halbe folgt. Hier, bei dem Wort Drei“, wird aus dem „G“, auf dem die melodische Linie mit ihrem Quintsprung in den ersten beiden Fällen landet, ein „Gis“, was eine klangliche Öffnung zur nächsten Melodiezeile mit sich bringt, die nun die beiden restliche Verse der ersten Strophe umfasst, also etwas länger ist.


    Hier reflektiert die melodische Linie das Bild vom Hinaustreten „in die Morgenweite“ mit einer „sehr breit“ angelegten Bogenbewegung, die mit einem siebenstimmigen und über den ganzen Takt gehaltenen G-Dur-Akkord begleitet wird. Die lyrischen Bilder der zweiten Strophe, in denen noch die nächtliche Ruhe nachklingt, haben zur Folge, dass die melodische Linie wie statisch in nur kleinem Sekundfall in tiefer Lage verharrt, begleitet von chromatisch fallenden dreistimmigen Akkorden im Diskant und den tiefen oktavischen Glockenschlägen im Bass. Erst bei den Worten „schläft noch in den Zweigen“ beschreibt sie einen – überraschenden – verminderten Oktavsprung mit nachfolgendem Quintfall. Diesem Akzentuieren eines bestimmten lyrischen Wortes und der daran gebundenen Aussage mittels einer Sprungbewegung, die sich aus längerem Verharren der melodischen Linie auf einer tonalen Ebene heraus ereignet, begegnet man in diesem Lied immer wieder. So etwa bei „ein Fenster schließen“ (2.Vers, 3.Strophe), „übers Ufer fließen“ (4.Vers) oder bei „Himmelsrot und Grün“ (3.Vers, 4.Strophe). Hier deklamiert die Singstimme zunächst auf einem hohen „D“, dann macht sie einen kleinen Sekundsprung mit Dehnung zu dem Wort „Grün“ hin und beschreibt dann eine Fallbewegung mit Tonrepetitionen auf der jeweiligen tonalen Ebene.


    Permanent modulierende Moll- und verminderte Harmonik bestimmt zunächst das Klangbild des Klaviersatzes, der von den anfänglichen lang gehaltenen Akkorden schon in der dritten Strophe zu stärkerer Bewegtheit in Gestalt von Viertelakkord-Folgen übergeht, und diese Lebhaftigkeit nimmt noch zu durch das Eindringen von Achtel-Figuren. Darin reagiert der Klaviersatz auf die wachsende Bewegtheit der lyrischen Bilder und die sich steigernde Emotionalität in den Äußerungen des lyrischen Ichs. Der Klaviersatz weist, ebenso wie die Melodik, eine ausgeprägte strukturelle Vielfalt auf.


    Je stärker sich die Bilder der vergangenen Nacht – und damit auch das Bild der Geliebten – in die Erfahrung der morgendlichen Welt drängen, desto mehr Dur-Harmonik kommt in die Harmonisierung der melodischen Linie. So dominiert bei der dritten Strophe noch das Moll, mit dem ersten Vers der vierten Strophe geht aber die melodische Linie in emphatisch-wellenhafte Bewegungen über (Anweisung „leidenschaftlich“), und die aufwärts gerichteten akkordischen Figuren stehen in E-Dur. „Voll Anmut“ sollen Melodik und Klaviersatz der fünften Strophe vorgetragen werden, in der das lyrische Ich „ihrer Augen Blau“ und „ihr blondes Haar“ imaginiert. Bei dem Wort „Augen“ ereignet sich ein ausdrucksstarker Oktavfall, und auch die Worte „deckt die ganze Erde“ werden auf einer expressiven Fallbewegung der melodischen Linie (verminderter Sextfall) deklamiert, nachdem diese zu einem hohen „F“ aufgestiegen ist. Dur-Harmonik prägt den Klaviersatz, und ein lang gehaltener arpeggierter Dur-Akkord liegt der melodischen Linie auf den Worten „und ihr blondes Haar“ zugrunde.


    Von zauberhafter lyrischer Anmut ist der Schluss des Liedes. Beim Bild von der „Drossel“ steigt die melodische Linie zu einem hohen „C“ auf, verharrt dort lange und beschreibt bei „Bäumen“ einen Oktavfall. C-Dur Harmonik begleitet dies, wobei der Klaviersatz hier, wie auch bei der letzten Melodiezeile, klanglich überaus zart angelegt ist, weil nur aus Achtel-Bewegungen im Diskant über einer gehaltenen Oktave im Bass bestehend.


    Im dreifachen Piano klingt das Lied aus. Die melodische Linie, die „sehr zurückhaltend“ vorgetragen werden soll, fällt ganz in den Gestus des Verharrens auf der eingenommenen tonalen Ebene zurück und beschreibt nur noch bei dem Wort „Liebesträumen“ eine expressive Sprung- und Fallbewegung. D-Dur- und Des-Dur-Akkorde tragen sie, von aufsteigenden Achteln im Bass begleitet.

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