Für den Start dieses Threads gibt es, unabhängig von den Neigungen und Interessen desjenigen, der ihn in die Wege leitet, einen rein sachlichen Grund. Die sog. „Neue Wiener Schule“ ist in Sachen Liedkomposition mit den Namen Arnold Schönberg und Alban Berg hier im Kunstlied-Forum bereits vertreten. Fehlt noch der „Dritte im Bunde“: Eben Anton Webern. Ihn hier nicht zu berücksichtigen, wäre ein Unding, ist er doch von diesen Dreien von seinem künstlerischen und kompositorischen Wesen her der eigentliche „Lyriker“. Rein vordergründig ist dies daraus abzulesen, dass mehr als die Hälfte seines publizierten, 31 Opera umfassenden musikalischen Werkes Vokalkompositionen sind.
Aber, wie so oft, diese „Wiener Schule“ betreffend, ist Theodor W. Adorno wieder einmal zum Kern, zur Quelle des vordergründig zu konstatierenden Sachverhalts vorgestoßen, indem er aufzeigt, dass Weberns gesamtes musikalisches Werk den „Gesetzen musikalischer Lyrik“ gehorcht: „Ziel seiner Musik ist einzig und unausweichlich der lyrische Augenblick, in dem die Zeit sich drängt und verschwindet: darum ist sie entwicklungslos, im Gang von Werk zu Werk nicht anders als im Einzelwerk“.
Der „Gang von Werk zu Werk“ kann natürlich hier nicht vollzogen werden. Gegenstand ist das „Einzelwerk“, das Lied also. Und es soll versucht werden, das Wesen der Liedsprache Weberns, so gut es einem musikwissenschaftlichen Laien eben möglich ist, anhand der Vorstellung und Besprechung einzelner Lieder aufzuzeigen. Mit dem Begriff „lyrischer Augenblick“ hat Adorno wohl in der ihm eigenen und manchmal schlaglichtartig erhellenden Sprachlichkeit eben dieses Wesen getroffen. Das ganz und gar Eigenartige, das einem in Weberns Liedern begegnet, ist die Tatsache, dass bei ihm die Melodik zu einer Struktur von Intervallen wird und zusammen mit einem ganz und gar eigenständigen Klaviersatz ein musikalisch autonomes Gebilde darstellt, in das der lyrische Text nicht die Funktion eines die Klanglichkeit bestimmenden Faktors hat, sondern in seiner lyrischen Sprachlichkeit zusammen mit Melodik und Klaviersatz die Substanz der Liedkomposition bildet.
Webern hat sowohl Klavierlieder komponiert, wie auch Lieder mit Orchester- und Kammermusikbegleitung. Er begann damit im Alter von sechzehn Jahren, - jedenfalls stammt das früheste als Manuskript erhaltene Lied „Vorfrühling“ auf ein Gedicht von Ferdinand Avenarius) aus dem Jahr 1899. Seine frühen Liedkompositionen wollte Webern später nicht gelten lassen. Er sah sie – zu Recht – als tastende Versuche zur Entwicklung einer eigenen Liedsprache auf der Grundlage dessen, was ihm seine großen Vorbilder Brahms, Hugo Wolf, Richard Strauss und Richard Wagner vorgelegt hatten. Diesen Liedern denen Texte von Avenarius, Dehmel, Greif, Goethe, Nietzsche, Liliencron u.a. zugrunde liegen, haftet zweifellos in vielen Fällen etwas Epigonales an.
Immer wieder blitzt aber schon sehr früh, und im Laufe dieser frühen Jahre der Liedkomposition immer mehr, das auf, was später zu einem spezifischen Merkmal der Liedsprache Weberns werden sollte: Ihre auf die Miniatur angelegte und sich darin konkretisierende musikalische Aussage. Insofern ist es nicht ganz verständlich, warum er gerade die frühen, in den Jahren 1906 bis 1909 entstandenen Liedkompositionen auf Gedichte von Stefan George und Richard Dehmel nicht gelten lassen wollte und ihnen eine Opusziffer verweigerte. Sein Biograph Hanspeter Krellmann hat zweifellos recht, wenn er dazu anmerkt:
„Sowohl die Beziehung zwischen Wort und Klang als auch die kaum noch oder nicht mehr ableitbare Harmoniefolge in den Dehmel-Liedern bereiten die Qualität des Gestisch-Geronnenen vor, das Weberns Musik über die Klangstenogramme von Opus 6 bis Opus 11 (…) ausgetragen hat.“
Krellmann nimmt dabei Bezug auf Weberns „Sechs Stücke für großes Orchester“ und seine „Drei kleinen Stücke für Violoncello und Klavier“, aber ich denke, dass er mit diesen Begriffen „Gestisch-Geronnenes“ und „Klangstenogramm“ auch Wesensmerkmale von Weberns Liedsprache in ihrer letztendlich gültigen Form angesprochen hat. Ich meine darin Adornos Diktum vom „lyrische Augenblick, in dem die Zeit sich drängt und verschwindet“ wiederzuerkennen. Im übrigen ist er der Meinung, dass Weberns Lieder zum „Vollkommensten“ gehören, „was der neuen Musik überhaupt beschieden war.“ Worin man ihm wohl zustimmen kann.
Was das Nicht-gelten-lassen-Wollen der frühen Liedkompositionen anbelangt, so darf man vermuten:
Es ist wohl so, dass Anton Webern in seiner Verehrung für seinen Lehrer Arnold Schönberg und in der menschlichen und künstlerischen Identifikation mit dessen kompositorischem Grundkonzept nur jene Liedkompositionen mit der Auszeichnung einer Opus-Ziffer versehen wollte und konnte, die in ihrer Liedsprache „zeitgemäß“ waren, das heißt die Tonalität transzendierten. In seinen Worten:
„Die Zeit war einfach reif für das Verschwinden der Tonalität. – Das war natürlich ein heißer Kampf, da waren Hemmungen der fürchterlichsten Art zu überwinden, eine Angst: >Ist denn das möglich?< - Und so kam es, daß allmählich fest und bewußt ein Stück dann nicht mehr in einer bestimmten Tonart geschrieben wurde.“
Anton Weberns Liedschaffen stellt sich heute wie folgt dar:
An Klavierliedern sind insgesamt 43 überliefert, davon 20, denen er eine Opus-Ziffer verliehen hat, und 23, bei denen das nicht der Fall ist. Die Zahl der Lieder mit Orchester-, bzw. Kammermusikbegleitung beträgt 30.
Klavierlieder:
Op.3: Fünf Lieder aus „der Siebente Ring“ (Stefan George), entstanden 1908/09
Op.4: Fünf Lieder auf Gedichte von Stefan George (1908/09)
Op.12 Vier Lieder für Gesang und Klavier (1915-1917)
Op.23: Drei Gesänge aus „Viae Inviae“ von Hildegard Jone (1934/35)
Op.25: Drei Lieder nach Gedichten von Hildegard Jone (1934/35)
Lieder mit Orchester-, bzw. Kammermusikbegleitung:
Op.8: Zwei Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke für Singstimme und acht Soloinstrumente (1910)
Op.13: Vier Lieder für Gesang und Orchester (1914-18)
Op.14: Sechs Lieder nach Gedichten von Georg Trakl für Gesang und Kammerensemble(1917-22)
Op.15: Fünf geistliche Lieder für Gesang und Kammerensemble (1917-22)
Op.17: Drei Volkstexte für Gesang und Kammerensemble (1924)
Op.18: Drei Lieder für Gesang und Kammerensemble (1925)
In diesem Thread soll – jedenfalls von meiner Seite – nur auf das Klavierlied-Werk eingegangen werden. Der Grund ist der gleiche wie in den Threads zu Arnold Schönberg und Alban Berg. Neben dem Aspekt einer möglichen Überfrachtung des Threads ist es vor allem die Tatsache, dass man die spezifische Eigenart der Liedsprache am besten im komplexen Zusammenspiel von melodischer Linie der Singstimme und Klaviersatz erfassen kann. Und eben dieses soll ja doch, neben der Vorstellung der Lieder als musikalische Werke, die eigentliche Zielsetzung des Threads sein.