Bemerkenswertes Gerichtsurteil für unsere Diskussionen!

  • Ein Pariser Berufungsgericht hat verfügt, dass die Firma BelAir Media ihre DVD von Dmitri Tcherniakovs Münchner Inszenierung von Francis Poulencs "Dialogues des Carmélites" (2010) vom Markt zurückzieht. Geklagt hatten die Erben des Komponisten sowie der Autor der Dramenvorlage, Georges Bernanos, die die Inszenierung des russischen Regisseurs als Verrat bezeichnen. Ihrer Meinung nach muss der Märtyrertod aller Nonnen zwingend szenisch umgesetzt werden. Ansonsten würden Deutungsmöglichkeiten eröffnet, die der Kernaussage des Werks nicht gerecht würden. In Tcherniakovs Inszenierung rettet Blanche ihre Schwestern und sprengt sich selbst in die Luft.
    Quelle: Opernwelt Nr. 12, Dezember 2015, S 60, Infos.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ein höchst fragwürdiges und für die Freiheit der Kunst schädliches Urteil, wie ich finde. Stehen in der Opernwelt nähere Informationen zur Urteilsbegründung, lieber Operus? Interessieren würde mich auch, ob es eine Berufung vor einer höheren Instanz geben wird.


    Auf jeden Fall habe ich eben schnell noch die BluRay bestellt, die ohnehin auf meiner Einkaufsliste stand - sicher ist sicher :D .

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Geklagt hatten die Erben des Komponisten sowie der Autor der Dramenvorlage, Georges Bernanos, die die Inszenierung des russischen Regisseurs als Verrat bezeichnen.


    Georges Bernanos hat bestimmt nicht geklagt, der ist schon sieben Jahre vor der Uraufführung gestorben. Wenn, dann habe auch seine Erben geklagt, also wie im Fall von Poulenc.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Natürlich ist es schwachsinnig, so etwas vor Gericht auszutragen. Ähnlich schwachsinnig ist es aber auch, einem Stück mit eindeutig historischem Hintergrund einen völlig anderen Schluss zu verpassen.


    Ich zitiere aus wikipedia: Das Werk behandelt die Ereignisse im Karmelitinnenkloster von Compiègne bis zur Hinrichtung der 16 Karmelitinnen durch die Guillotine am 17. Juli 1794 in Paris.

  • Ich verstehe so ein Urteil auch nicht. Muß man dann nicht ebenso Aufnahmen zurückziehen, wo Pianisten die Expositionswiederholung weglassen oder "Bearbeitungen" anbringen? Der Denkfehler ist einfach: Das Werk ist weder der Besitz des Interpreten noch seines Autors. Keiner hat darauf irgendeinen Rechtsanspruch. Wenn man das weiter denkt, dann hätten Heidegger, Sartre oder Andere bestimmte Auslegungen ihrer Werke verbieten können, die nicht in ihrem Sinne sind. Wer ein Werk in die Welt entläßt (als ein esse rei extra causas), muß es auch ertragen, dass mit ihm frei umgegangen wird. Auslegungen, Inszenierungen, Interpretationen kann und darf man freilich (auch heftigst!) kritisieren, aber nicht rechtlich verbieten.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Ein höchst fragwürdiges und für die Freiheit der Kunst schädliches Urteil, wie ich finde. Stehen in der Opernwelt nähere Informationen zur Urteilsbegründung, lieber Operus? Interessieren würde mich auch, ob es eine Berufung vor einer höheren Instanz geben wird.


    Lieber Bertarido,


    ich habe lediglich wortgetreu die Meldung aus der "Opern Welt" eingestellt. Ganz bewusst habe ich nicht kommentiert, weil ich die Diskussion nicht mit rascher Meinungsäußerung in eine Richtung führen wollte. Ich achte - auch durch Äußerungen von Dir - darauf, dass ich nicht zu sehr in eine einseitige Haltung hinein manövriert werde. Ich bin auf dem Gebiet der Oper für alles offen - nur gut gemacht muss es sein und es sollte meine Gefühlswelt nicht durch Unsinn, Gewalt- Ekel- oder pornographische Szenen beleidigen.


    Herzlichst
    Operus

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  • Das Urteil ist ja schon seltsam. Sartre hatte Angst davor, dass er nicht mehr selber reagieren kann darauf, wie die Nachwelt mit seinen Worten umgeht (das bedeutete für ihn der Tod als Negation von Freiheit). Ausgerechnet die Erben, und nicht der Komponist selbst, der sie dazu auch nicht autorisiert hat, maßen sich an, über die "Auslegungsreinheit" zu wachen. Das ist letztlich eine Spielart von Fundamentalismus.

  • Lieber Holger: ein Gedankenexperiment. Ein groteskes, aber das ist ja erlaubt und in unserem Bereich die Norm.
    Du hast einen Roman geschrieben, der das Leben von Georg Büchner darstellt. Seine Biographie, seine Schriften, seine Wissenschaft, seine Stücke sind kunstvoll ineinander verwoben. Übrigens traue ich dir das durchaus zu!!
    Ohne dein Wissen hat dein Verleger nach jedem Kapitel ein Kapitel hinzugefügt, das Original-Texte von Landserheften, pornographischen Schriften und Parteiprogrammen der Gegenwart zitiert, und zwar seitenlang und ganze Kapitel, sodass dieses Buch doppelt so dick wird wie von dir vorgesehen. Als Begründung gibt er an, das sei die Leinwand, auf der man deinen Roman besser verstehen könne. Da klagst du nicht auf Unterlassung?

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich finde es gut, dass es dazu gekommen ist. Es ist an der Zeit, dass auch einmal offiziell die Verunstaltungen vollendeter Opern verboten werden. Ich kann solche willkürlichen Abwandlungen - wie ich leider immer wieder betonen muss, genau so wie einige immer wieder gebetsmühlenartig von "Freiheit der Kunst" reden - nicht als "Kunst" ansehen. Für mich bleibt so etwas eine Verunstaltung, genau wie das Überschmieren von Malereien. Auch die Verunstaltungen von vollendeten Opern sollten wie das Überschmieren oder Besprühen anderer Werke bestraft werden.
    Es ist für mich unbegreiflich, wie Regisseure, die in meinen Augen keine "Künstler", sondern Ausführende, die dem Werk, wie es im Libretto bestellt ist, zu dienen haben, immer wieder mit dem Begriff "Freiheit der Kunst" bedacht werden. Wer als Fachmann einen Auftrag erhält, sich aber nicht daran hält, hat seinen Vertrag nicht erfüllt. Man nennt so etwas allgemein Pfusch, und solche Arbeit braucht nicht honoriert zu werden, solange der Vertrag nicht ausdrücklich erfüllt ist. Mir bleibt weiterhin unverständlich, wie man es immer noch duldet, dass sich ein Regisseur über den Schöpfer eines Werkes und seine wesentlichen Vorgaben zu dessen Ausführung erhebt.
    Wer Gertrud von Le Forts Novelle "Die Letzte am Schafott", die bei uns noch Schullektüre war, und das darauf basierende Drehbuch zu "Dialogue des Carmelites" bzw das Bühnenstück "Die begnadete Angst" (beide von Bernanos), auf dem die Oper von Poulenc basiert, kennt, kann sich über diese entsetzliche Entstellung nur ärgern. Wie gut, dass ich die wunderbare Aufführung aus Sydney besitze. Diese Inszenierung würde ich mir niemals kaufen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Nun hat also die Justiz gesprochen. Mal sehen, ob dieses Urteil Bestand hat, sofern eine Berufung möglich sein sollte. In jedem Falle ein deutliches Signal an allzu eifrige Regisseure.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Lieber Holger: ein Gedankenexperiment. Ein groteskes, aber das ist ja erlaubt und in unserem Bereich die Norm.
    Du hast einen Roman geschrieben, der das Leben von Georg Büchner darstellt. Seine Biographie, seine Schriften, seine Wissenschaft, seine Stücke sind kunstvoll ineinander verwoben. Übrigens traue ich dir das durchaus zu!!
    Ohne dein Wissen hat dein Verleger nach jedem Kapitel ein Kapitel hinzugefügt, das Original-Texte von Landserheften, pornographischen Schriften und Parteiprogrammen der Gegenwart zitiert, und zwar seitenlang und ganze Kapitel, sodass dieses Buch doppelt so dick wird wie von dir vorgesehen. Als Begründung gibt er an, das sei die Leinwand, auf der man deinen Roman besser verstehen könnte. Da klagst du nicht auf Unterlassung?


    Der Vergleich hinkt in mehrfacher Hinsicht., Die Erben von Poulenc sind nicht Poulenc. Wer hat sie dazu autorisiert, über Poulencs Werk zu "wachen"? Ich das nicht pure Anmaßung? Nur weil sie Blutsverwandte sind, dürfen sie das? Und zweitens ist eine Aufführung und eine Inszenierung etwas anderes als eine Buchveröffentlichung. Arturo Benedetti Michelangeli hat z.B. regelmäßig einen Cancion von Frederico Mompou genommen, den anschließenden "Danza" weggelassen und statt dessen einen Chopin-Walzer angehängt. Ist das etwa eine justiziable Straftat? Und wo ist die Grenze? Bekanntlich liest ein Jacques Derrida alle Autoren sehr frei - die Grenze von Interpretation und Bearbeitung ist fließend. Wenn man hier puristisch denkt von wegen Urheberrecht, kann man so ziemlich das ganze Derrida-Werk verbrennen. Außerdem sind solche Gängelungsversuche auch pragmatisch gedacht nicht im Sinne des Komponisten. Die GEMA-Gebühren sind sowieso schon viel Geld. Mit dieser Art Restriktionen werden solche Werke dann einfach nicht mehr aufgeführt, verschwinden aus dem Repertoire. Dann können die Erben über ein Partitur-Phantom wachen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich möchte noch ergänzen, ob alle diejenigen, die das Urteil kritisieren und die Freiheit der Kunst über alles stellen, sich darüber im Klaren sind, dass das geistige Eigentum des Künstlers ein mindestens gleichrangiges, wenn nicht sogar ein höherrangiges Gut ist - und das im juristischen, einklagbaren Sinn.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Lieber Holger: ein Gedankenexperiment.


    Das würde vielleicht funktionieren, wenn es darum geht, ob Holgers fiktives Buch irgendwann nach einer neuen Rechtschreibreform in korrigierter Schreibweise herausgebracht werden darf. Ansonsten funktioniert es natürlich nicht, weil dieses Buch ja nicht für eine Aufführung geschrieben wurde. Es ist als Werk fertig und entsteht nicht erst durch eine Inszenierung.

  • Was ist denn genau das "geistige Eigentum" eines Künstlers? Und wie gesagt: Ein Künstler, der schon längst tot ist, hat kein solches Eigentum mehr. Wird dieses dann also durch Blutsverwandtschaft (in der Art einer "Erbsünde") rein biologisch auf die Verwandten vererbt? Das ist doch reichlich seltsam.

  • Ich möchte noch ergänzen, ob alle diejenigen, die das Urteil kritisieren und die Freiheit der Kunst über alles stellen, sich darüber im Klaren sind, dass das geistige Eigentum des Künstlers ein mindestens gleichrangiges, wenn nicht sogar ein höherrangiges Gut ist - und das im juristischen, einklagbaren Sinn.


    Ich kann allerdings nicht erkennen, was das angeführte Urteil mit dem geistigen Eigentum des Künstlers zu tun hat.

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  • Arturo Benedetti Michelangeli hat z.B. regelmäßig einen Cancion von Frederico Mompou genommen, den anschließenden "Danza" weggelassen und statt dessen einen Chopin-Walzer angehängt. Ist das etwa eine justiziable Straftat?


    Und Brahms wollte, dass die Streicher seine Werke mit Darmsaiten spielen, weil das anders klingt. Ist es eine Straftat, wenn man hier den ausgesprochenen Wunsch des Komponisten nicht beachtet?

  • Ich kann allerdings nicht erkennen, was das angeführte Urteil mit dem geistigen Eigentum des Künstlers zu tun hat.


    Eben. Werktheoretisch: Das Werk ist das eine, die Aufführungspraxis das andere. Wir hatten schließlich lange genug die Gängelung durch die katholische Kirche: Inquisition, den "Index". Gott sei Dank gibt es eine Säkularisierung. Das Verwandte von Künstlern eine Art Glaubenskongregation bilden mit der päpstlichen Autorität, über die rechte Deutung des heiligen Werkes ihres Vorfahren zu wachen mit Verboten und Entzug nicht der Lehr-, sondern der Aufführungserlaubnis, ist schlicht einen absurde und grauenhafte Vorstellung. Zum Glück bin ich nicht katholisch und will auch nicht katholisch werden! Und entsprechend bin ich auch nicht für eine Katholisierung der Kultur! ;)


  • Lieber Bertarido,


    ich habe lediglich wortgetreu die Meldung aus der "Opern Welt" eingestellt. Ganz bewusst habe ich nicht kommentiert, weil ich die Diskussion nicht mit rascher Meinungsäußerung in eine Richtung führen wollte. Ich achte - auch durch Äußerungen von Dir - darauf, dass ich nicht zu sehr in eine einseitige Haltung hinein manövriert werde. Ich bin auf dem Gebiet der Oper für alles offen - nur gut gemacht muss es sein und es sollte meine Gefühlswelt nicht durch Unsinn, Gewalt- Ekel- oder pornographische Szenen beleidigen.


    Herzlichst
    Operus


    Lieber operus,


    ich habe ja nicht Dich als Boten der Nachricht kritisiert, sondern die Richter. :hello:


    Ich bin zwar nicht der Meinung, dass Kunst ein rechtsfreier Raum ist. So haben Architekten erfolgreich gegen Realisierungen ihrer Entwürfe geklagt, die signifikant von diesen abwichen, am bekanntesten ist das Beispiel des Berliner Hauptbahnhofs, wo sich der Architekt gegen die Verkürzung der Überdachung und eine Vereinfachung der Deckenkonstruktion im Untergeschoss gewehrt hat. Er hatte dabei meine volle Sympathie. Aber hier hat das Gericht verkannt, dass die Realisierung einer Opernaufführung einen großen Interpretationsspielraum hat und vor allem selbst eine künstlerische Leistung ist. Und das gilt - allen Widersprüchen zum Trotz, die Regisseure zu Handwerkern degradieren wollen - nicht nur für die Musik, sondern auch für die Inszenierung. Wenn man das Urteil ernst nehmen würde, müsste man - wie Holger zu Recht angemerkt hat - auch Klagen gegen Aufführungen von Symphonien stattgeben, die Wiederholungen weglassen, schließlich stehen die schwarz auf weiß in der Partitur, waren also Wille des Komponisten, auch gegen verfälschende Tempi könnte man klagen usw.


    Die Herausgabe eines Romans ist eine völlig andere Situation; ihn zu verändern und trotzdem unter dem Namen des Autors zu veröffentlichen, wäre damit vergleichbar, wenn eine verfälschte Partitur von Poulenc unter dessen Namen als Werk dieses Komponisten veröffentlicht würde. Der Vergleich mit einer Opernaufführung aber hinkt gewaltig.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Und Brahms wollte, dass die Streicher seine Werke mit Darmsaiten spielen, weil das anders klingt. Ist es eine Straftat, wenn man hier den ausgesprochenen Wunsch des Komponisten nicht beachtet?


    Stockhausen glaubte, einem Ensemble eine Aufführung verbieten zu können, nur weil sie einige Stimmen transponiert haben. Das besagte Ensemble war emanzipiert genug, das zu mißachten. Sie haben Stockhausen stur "widerstanden" - und das erfolgreich. Stockhausen hat erst getobt und sich hinterher mit ihnen wieder vertragen. Er wurde also schließlich "weich". Bis heute führen sie ihre veränderte Version - mit Erfolg - auf! :D :D :D

  • Holger, ich muss zugeben, ich hätte nie für möglich gehalten, dass du juristisch so ahnungslos bist.

    Der Denkfehler ist einfach: Das Werk ist weder der Besitz des Interpreten noch seines Autors. Keiner hat darauf irgendeinen Rechtsanspruch.

    Nein, das ist dein Denkfehler. Das Werk ist sehr wohl im Besitz des Autors und nach dessen Tod seiner Erben - bis exakt 70 Jahre nach dem Tod des Autors bzw. des letztverstorbenen Co-Autors.



    Wer ein Werk in die Welt entläßt (als ein esse rei extra causas), muß es auch ertragen, dass mit ihm frei umgegangen wird.

    Nein, das muss er zu seinen Lebzeiten nicht und die Erben müssen es bis 70 Jahre nach dem Tod des Autors auch nicht. So lange gilt die rechtliche Schutzfrist.



    Auslegungen, Inszenierungen, Interpretationen kann und darf man freilich (auch heftigst!) kritisieren, aber nicht rechtlich verbieten.

    Doch, genau das haben z.B. die Brecht-Erben (allen voran die kürzlich verstorbene Bracht-Tochter Barbara Brecht-Schall) mehrfach getan.



    Nun hat also die Justiz gesprochen. Mal sehen, ob dieses Urteil Bestand hat, sofern eine Berufung möglich sein sollte. In jedem Falle ein deutliches Signal an allzu eifrige Regisseure.

    Nein, nur an solche, welche zeitgenössische Werke bzw. Werk inszenieren, deren Autoren noch nicht mindestens 70 Jahre tot sind. Aber das wissen die Regisseure auch. Es gibt ja Gründe, warum Musicals fast immer "werktreu" inszeniert sind. Da gibt es ganz konkrete Vorgaben, an die man sich halten muss, weil man sonst die Aufführungsrechte nicht bekommt oder gleich wieder verliert. Dafür gibt es Verlage, die das im Einvernehmen mit den Erben regeln.



    Wer hat sie dazu autorisiert, über Poulencs Werk zu "wachen"?

    Das Testament und das europäische Rechtssystem (v.a. das Erbrecht)!



    Ich das nicht pure Anmaßung?

    Nein, das ist geltendes Recht!



    Nur weil sie Blutsverwandte sind, dürfen sie das?

    Nein, weil sie die juristischen Erben sind. Blutverwandtschaft ist dabei eine völlig sekundäre Frage!



    Ich möchte noch ergänzen, ob alle diejenigen, die das Urteil kritisieren und die Freiheit der Kunst über alles stellen, sich darüber im Klaren sind, dass das geistige Eigentum des Künstlers ein mindestens gleichrangiges, wenn nicht sogar ein höherrangiges Gut ist - und das im juristischen, einklagbaren Sinn.

    Nur solange die Schutzfrist für die Werke dauert, und die beträgt in der Regel 70 Jahre nach Tod des (letzten Co-) Autors.



    Was ist denn genau das "geistige Eigentum" eines Künstlers? Und wie gesagt: Ein Künstler, der schon längst tot ist, hat kein solches Eigentum mehr.

    Doch, hat er bzw. seine Erben, und das noch bis 70 Jahre nach dem Tod des Künstlers.


    Wenn man ein Werk eines Künstlers, der noch nicht 70 Jahre tot ist, aufführen will, muss man sich beim zuständigen Verlag um die Aufführungsrechte bemühen. Wenn man diese erhält, schließt man mit dem Verlag einen Aufführungsvertrag und muss viel Geld an Tantiemen löhnen. Einigt man sich nicht und erhält die Recht nicht, gibt es also keinen gültigen Aufführungsvertrag, dann darf man das Stück auch nicht aufführen. Das gilt aktuell bei Brecht ebenso wie bei Lehár oder Poulenc.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Das Werk ist weder der Besitz des Interpreten noch seines Autors.


    Interessante Sichtweise. Du hast von Urheberrecht noch nichts gehört?


    Edit: Habe jetzt erst gesehen, dass Stimmenliebhaber darauf bereits geantwortet hat.

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Nein, das ist dein Denkfehler. Das Werk ist sehr wohl im Besitz des Autors und nach dessen Tod seiner Erben - bis exakt 70 Jahre nach dem Tod des Autors bzw. des letztverstorbenen Co-Autors.


    In welcher Hinsicht denn? Dass die Künstler wegen Urheberrecht Geld zahlen müssen z.B. (GEMA), dass es Publikations- Verlagsrechte gibt was die Noten, Partituren, Texte angeht? Aber es gibt eben eine Aufführungspraxis, die ist nicht justiziabel. Deutungen - auch Mißdeutungen - unterliegen nicht dem Urheberrecht. Es ist schlicht Jahrhunderte alte Praxis, dass Opern in der Aufführung bearbeitet werden. Auch ist es keine Verletzung des Urheberrechtes, wenn ein Herrmann Scherchen meinte, Mahlers 5. Symphonie sei zu lang geraten und sie in der Aufführung zusammenkürzt. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt - aber doch nicht die Modalitäten seiner Aufführung. Genau deshalb hatte Stockhausens Versuch, in der "Stimmungs"-Affäre juristisch einzugreifen, seine komischen Züge. Wenn das Werk eben nicht identisch ist mit seiner Aufführung, dann wird das Urheberrecht durch seine Veränderungen in der Aufführung auch nicht verletzt. Auch Richter können Recht problematisch auslegen und fragwürdige Urteile finden.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Was ist denn genau das "geistige Eigentum" eines Künstlers? Und wie gesagt: Ein Künstler, der schon längst tot ist, hat kein solches Eigentum mehr. Wird dieses dann also durch Blutsverwandtschaft (in der Art einer "Erbsünde") rein biologisch auf die Verwandten vererbt? Das ist doch reichlich seltsam.

    Aber es ist geltendes Recht. Und die Menschen, die von der Kunst leben müssen, sind dafür dankbar.



    Aber es gibt eben eine Aufführungspraxis, die ist nicht justiziabel. Deutungen - auch Mißdeutungen - unterliegen nicht dem Urheberrecht.

    Doch, tun sie, wenn der Künstler sich dazu deutlich festgelegt hat. So konnte Wagner festlegen, dass der Parsifal nur in Bayreuth aufgeführt werden darf. Dies hat allerdings nur bis 1914 gewirkt, da dann das damalige Urheberrecht an dem Stück erloschen war.


    Außerdem können Aufführungsanweisungen Teil des Werkes sein, und unterliegen damit, siehe das von Operus zitierte Urteil, sehr wohl dem Urheberrecht.



    Es ist schlicht Jahrhunderte alte Praxis, dass Opern in der Aufführung bearbeitet werden.

    Lies doch mal die Geschichte der GEMA und deren Absichten nach, an deren Gründung Richard Strauss übrigens maßgeblich beteiligt war.



    Beste Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Aber es gibt eben eine Aufführungspraxis, die ist nicht justiziabel. Deutungen - auch Mißdeutungen - unterliegen nicht dem Urheberrecht.


    Und genau das stimmt nicht! Informiere dich doch bitte mal, bevor du so etwas behauptest. Dass die Verbote einiger Inszenierungen durch die Brecht-Erben völlig an dir vorbeigegangen sein sollen, kann ich gar nicht glauben. Erst wenn ein Werk rechtefrei ist, darf man es beliebig verändern. Vorher muss man sich bei gravierenden Abweichungen die Genehmigung einholen - und nicht immer bekommt man sie. Nochmals: Daher die "Werktreue" im Musical, weil dort gravierende Abweichungen von den originalen Regieanweisungen von den Rechtinhabern sofort unterbunden werden. Die Richard-Strauss-Erben sind da beispielsweise laxer, die genehmigen fast alles und interessieren sich nur für die Tantiemen. dennoch halten sich in der Aufführungspraxis Eingriffe in Richard-Strauss-Werke ja doch in Grenzen. Würde ein Regisseur bei "Salome" statt des Tanzes des sieben Schleier die Venusbergmusik spielen lassen, könnten das die Strauss-Erben noch bis 2019 unterbinden. Führt hingegen jemand "Tannhäuser" mit dem Walküren-Ritt oder einer Verdi- oder Offenbach-Ouvertüre statt des Bacchanals auf, ist das rechtlich nicht zu verhindern. Nur den "Tanz der sieben Schleier" darf er nicht in jedem Fall einfließen lassen, das könnten die Richard-Strauss-Erben untersagen - machen sie aber nicht, sondern kassieren dann lieber Tantiemen für diese glorreiche Idee...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Die bisherige Diskussion und vor allem die Ausführungen von Stimmenliebhaber zeigen deutlich: die Freiheit der Kunst ist dem Urheberrecht nachgeordnet. Die Grenze ist hier die Frist: 70 Jahre. Diese Frist ist willkürlich, sie könnte auch auf "300 Jahre" lauten. Das bedeutet aber, dass die theoretische Argumentation, dass die Freiheit der Kunst Vorrang habe, in sich zusammenfällt. Also: die Regietheater(un)tat gegen Mozarts Don Giovanni ist nicht theoretisch erlaubt, sondern nur, weil nach so langer Zeit die Urheberrechte nicht mehr geltend gemacht werden können, weil es keine benennbaren Erben mehr gibt. Das bedeutet: ich darf nicht etwa theoretisch Mozart vergewaltigen, sondern nur, weil er schon so lange tot ist und sich nicht mehr wehren kann. Das stellt doch die Diskussion auf eine ganz neue Basis!

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Und genau das stimmt nicht! Informiere dich doch bitte mal, bevor du so etwas behauptest. Dass die Verbote einiger Inszenierungen durch die Brecht-Erben völlig an dir vorbeigegangen sein sollen, kann ich gar nicht glauben. Erst wenn ein Werk rechtefrei ist, darf man es beliebig verändern.


    Das mag Rechtspraxis sein. Trotzdem halte ich das wie wohl auch die Mehrheit nicht für sinnvoll. Auch das Recht kann sich ändern. Nicht jede Rechtspraxis ist per se sinnvoll und bewahrenswert. Es gibt z.B. keinen Asebie-Paragraphen mehr, wie er lange existierte, der religiöse Karrikaturen unter Strafe stellt. Diese Art, Künstler zu reglemetieren ist einfach falsch und letztlich lächerlich. Das ist eine völlig überlebte Praxis - wenn sie noch irgendwo existiert sollte sie schleunigst abgeschafft werden und Erben sollten sich hier nicht die Blöße geben. Wenn Künstler solche Rechtspraktiken immer wieder umgehen und sich nicht darum scheren - brauchte Mahler etwa Schumanns Erlaubnis, um seine Symphonien neu zu instrumentieren? - dann zeigt das die Sinnfreiheit einer solchen Praxis. Rachmaninow war so weise, Horowitz eben nicht zu verbieten, seine Horowitz-Version der 2. Klaviersonate zu spielen und nicht seine "bereinigte" Letztfassung. Es ist letztlich Mißbrauch des Urheberrechtes, wenn der Autor bzw. die Erben eine bestimmte Werkdeutung als die allein gültige autorisieren wollten aus purem Eigeninteresse. Dann wird das Werk zur Mumie und Interpretation zum Kadavergehorsam. Es ist schließlich auch eine Binsenweisheit, dass Autoren keineswegs immer die besten Ausleger ihrer eigenen Werke sind.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Das bedeutet: ich darf nicht etwa theoretisch Mozart vergewaltigen, sondern nur, weil er schon so lange tot ist und sich nicht mehr wehren kann. Das stellt doch die Diskussion auf eine ganz neue Basis!


    Zu Mozarts Zeiten gab es in der Tat noch kein Urheberrecht. Der Komponist trat dieses mit der Urauffühung an das uraufführende Theater ab und wurde einmalig von diesem bezahlt. Meyerbeer sorgte im 19. Jahrhundert dafür, dass überhaupt ein Urheberrecht eingeführt wurde. Als Richard Wagner starb, galt dieses 30 Jahre, ein Verbot von "Parsifal"-Aufführungen außerhalb von Bayreuth war also nur bis 1913 durchzusetzen, danach konnte das Werk überall nachgespielt werden, und zwar in welcher Form auch immer. Richard Strauss sorgte im 20. Jh. dafür, dass das Urheberrecht auf 70 Jahre nach dem Ableben der Autoren ausgedehnt wurde.


    Rein juristisch darf man also Oper von Mozart, Wagner oder Verdi "verunstalten", ohne irgendwelche juristischen Konsequenzen fürchten zu müssen. Man darf dies bei Werken von Richard Strauss, Poulenc oder Lehár nicht in jedem Fall, sondern nur, wenn die Rechteinhaber keinen Einspruch dagegen erheben. Man darf z.B. aktuell keine Kinderfassung einer Lehár-Operette erstellen, wenn man dies nicht vom Originalverlag bzw. den Rechteinhabern genehmigen lässt. Wenn die sagen: Nein, dann findet eine solche Kinderfassung nicht statt. "Die Zauberflöte" kann man hingegen in jeder denkbaren Fassung aufführen.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Rein juristisch darf man also Oper von Mozart, Wagner oder Verdi "verunstalten", ohne irgendwelche juristischen Konsequenzen fürchten zu müssen. Man darf dies bei Werken von Richard Strauss, Poulenc oder Lehár nicht in jedem Fall, sondern nur, wenn die Rechteinhaber keinen Einspruch dagegen erheben. Man darf z.B. aktuell keine Kinderfassung einer Lehár-Operette erstellen, wenn man dies nicht vom Originalverlag bzw. den Rechteinhabern genehmigen lässt. Wenn die sagen: Nein, dann findet eine solche Kinderfassung nicht statt. "Die Zauberflöte" kann man hingegen in jeder denkbaren Fassung aufführen.


    ... und genau deshalb solche Restriktionen sind - gerade was die Tradition der Opernaufführung evident zeigt - letztlich sinnfrei und eine völlig überlebte Rechtspraxis. Das Urheberrecht ist sicher eine wichtige Errungenschaft - hier wird es aber mißbraucht für die sehr egoistischen Interessen von Autoren und ihren Erben. Das hat kein Kunstwerk verdient - ideell gehört es eben Niemandem, sondern der Menschheit. Alles andere ist eine Verletzung der wahren Würde des Kunstwerks, seiner Universalität.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Rachmaninow war so weise, Horowitz eben nicht zu verbieten, seine Horowitz-Version der 2. Klaviersonate zu spielen und nicht seine "bereinigte" Letztfassung.

    Alles eine Frage der Verhandlungen. ;) Das Copyright an Rachmaninows Werk wurde in den USA übrigens gerade bis 2033 verlängert.



    Zitat

    Die Klavierkonzerte sowie die Paganini-Variationen des 1943 Verstorbenen sind als Solistenfutter für pianistische Spitzensportler zugelassen, die 2. Sinfonie ist dank Interpreten wie Lorin Maazel, Vladimir Ashkenazy oder jüngst Mariss Jansons öfters zu hören. Doch schon an der wunderbar musikantischen Cellosonate, an den feinfühligen Liedern, den drei Opern und den voluminösen Klaviersonaten scheiden sich die Geister.


    Dem will jetzt Serge Rachmaninoffs 1933 in Paris geborener Enkel Alexandre abhelfen. Der französische Sohn der zweiten Tochter Tatjana scheint der einzige der Dynastie, der nicht nur die besonders im angloamerikanischen Sprachraum (wo das Copyright gerade bis 2033 verlängert wurde) reichlich sprudelnden Tantiemen ausgibt, sondern sie auch in den Nachruhm des berühmten Großvaters investiert.

    http://www.welt.de/print-welt/…Wahrheit-ueber-Serge.html

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Trotzdem halte ich das wie wohl auch die Mehrheit nicht für sinnvoll.


    Darum geht es aber nicht, was du oder die Mehrheit für sinnvoll hält (mit der "Mehrheit" würde ich an deiner Stelle gar nicht argumentieren, das könnte nach hinten losegehen, weil die Mehrheit nicht unbedingt alles für sinnvoll halten muss, was du für sinnvoll hältst), sondern was geltendes Recht ist. Und ich habe noch nie erlebt, dass die Verlage, die immer eine starke Lobbyarbeit bei den Entscheidungsträgern betrieben haben, kampflos oder gar freiwillig Einfluss abgegeben haben. Die Schutzfristen wurden immer verlängert, nie verkürzt. Kein Recht ist in unserer Gesellschaft so heilig wie das Eigentum... (Gerade erst vor drei Jahren wurde die Schutzfrist für Aufnahmen von 50 auf 70 Jahre verlängert, und da das rückwirkend nicht möglich ist, bleibt bis 2032 das Jahr 1962 hier die entscheidende Grenze.)
    Nur auch die längste Schutzfrist läuft irgendwann aus, aber heutige lebende Komponisten können sehr wohl Einfluss auf die Auffühung ihrer Werke nehmen, die haben das juristische Recht dazu (und die Erben innerhalb der 70-Jahre-Frist auch).


    Wenn du dich wirklich für aufführungsrechtliche Fragen interessieren solltest, solltest du dich diesbezüglich mal belesen und zum Beispiel auch für das Aufführungsrecht bei Musicals vertraut machen. Es erklärt (zumindest teilweise), warum zeitgenössische Werke fast immer "werkgetreuer" aufgeführt werden als Werke, deren Entstehung schon lange zurückliegt.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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