Das blinde Amseljunge revisited

  • Vor zwei Jahren habe ich ein Thema erstellt, das "Das blinde Amseljunge im Nest oder der Pawlowsche Hund in der Musik" hieß. Ich habe dieses Thema noch mal durchgesehen und festgestellt, dass wir immer weiter am Thema vorbeigeredet haben, weil es nur noch um den vierten Satz der Neunten ging.
    Mein Ansatz damals war dieser: welche Stücke lösen bei euch, wenn der erste Ton erklingt, automatisch starke Gefühle aus, entweder positiv elektrisiert oder negativ? Diesen Ansatz möchte ich nicht wieder aufgreifen, sondern ihn anders wenden. Ich habe damals den Begriff des "Triggers" verwendet, diesen Begriff könnte man hier auch anwenden. Ein Trigger ist ein Schlüsselreiz, der bestimmte Gefühle oder Handlungen auslöst. Beispiele bitte im alten Amsel-Thema nachsehen. Hier ist der von Konrad Lorenz geprägte Begriff der "Prägung" wichtig. Graugänse etwa werden als kleine Küken auf ihre Mutter geprägt, oder, wenn sie Pech haben, auf Konrad Lorenz, der die Mutter dann ersetzt.
    Mit Prägung hier in der Musik meine ich folgendes: es gibt viele Musikstücke, die wirken immer, egal, von welchen Interpreten sie aufgeführt werden. Es gibt aber auch einige Musikstücke, die wirken nur, wenn ein bestimmter Interpret das vorträgt. meist ist es der, bei dem man es zuerst gehört hat, aber nicht immer.
    Ich bin auf diese Frage durch ein konkretes Beispiel gekommen. In unserem Männerensemble proben wir gerade die berühmte Motette in zwei Teilen "Ne irascaris, Domine" von William Byrd. Wir singen das Stück in dieser Besetzung: Alt, hoher Tenor (wo ich singe), Tenor, Bass 1, Bass 2. Zu den Noten hat uns unser Chorleiter eine YouTube-Aufnahme von "Stile antico", einem Kammerchor, dazugeben. Daraufhin habe ich fast alle Aufnahmen dieses Werk auf YouTube gehört, viele schlechte, wenige gute (darunter die King´s Singers), nur eine perfekte: Stile antico (ein Londoner Ensemble von 12 Sängern ohne Dirigenten). Diese Aufnahme höre ich jetzt seit Wochen 2x am Tag, natürlich auch, um die Stimme zu lernen. Ich muss klar sagen, dass ich auf diese Aufnahme absolut geprägt bin, bis eine bessere kommt.
    Das andere Beispiel ist dieses: Schumanns 4. gehörte zu meinen liebsten Sinfonien, aber nur in der Furtwängler-Aufnahme, weil so großartig kein Dirigent die Einleitung zu ersten Satz hinbekommt.



    Wann immer ich die Vierte höre, vergleiche ich automatisch, ich kann gar nicht anders.
    Das zeigt auch, das es hier nicht um objektive oder gar musikwissenschaftliche Vergleiche geht, sondern um subjektive Einstellungen. Es geht also darum, festzustellen, welcher Konrad Lorenz bei uns musikalischen Graugänsen zu ständig ist.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Modofikationen gibt es auch. Die beste Jenufa ist wohl die (mit revidiertem Notentext) von Charles Mackerras.



    Die beiden Tenöre Wieslaw Ochman und Peter Dvorsky sind hervorragend. Aber noch besser finde ich nach wie vor die beiden Tenöre der früheren Standardaufnahme von Bohumil Gregor, Vilem Pribyl und Ivo Zidek.


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  • "Das schlaue Füchslein" mit revidiertem Notentext ist in der Mackerras-Aufnahme, mit Lucia Popp als Füchsin Schlaukopf, sicherlich die beste Aufnahme.



    Aber mein Lieblings-Füchslein bleibt Helena Tattermuschová in der alten Gregor-Aufnahme.


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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Eine weitere Modofikation. In meinem thread "Supernovae" habe ich nach Ausbrüchen der besonderen Art in der Musik gesucht. Das klassische Beispiel ist natürlich Mahlers 10. An der Realisierung dieses Ausbruchs muss man die ganze Aufnahme messen. Leider kenne ich keine einzige, die gewaltig genug ist, diesen Anspruch zu erfüllen. Aber vielleicht gibt es hier neue Tipps.
    Analog verfahre ich mit Mahlers 4. Bei jeder Aufnahme höre ich mir erst den 4. Satz an; die Sopranistin muss das schlicht, innig, mädchenhaft singen. Wenn das nicht geschieht, brauche ich die ganze Sinfonie nicht. Zum Glück gibt es aber hier eine Reihe von guten Sängerinnen, ich nenne nur Lucia Popp, Helen Donath und Ruth Ziesak.


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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Machaut und Deller:
    diese Aufnahme der Messe de Notre Dame (unter Mitwirkung des Collegium aureum) ist konkurrenzlos. Ich habe das Deller-Consort mit diesem Werk in den 60ern auf dem Kirchentag live erlebt und seitdem höre ich sie immer wieder. Das ist auch ein Kennzeichen die prägenden Musik, dass man ihrer nie müde wird.


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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Mit Prägung hier in der Musik meine ich folgendes: es gibt viele Musikstücke, die wirken immer, egal, von welchen Interpreten sie aufgeführt werden. Es gibt aber auch einige Musikstücke, die wirken nur, wenn ein bestimmter Interpret das vorträgt. meist ist es der, bei dem man es zuerst gehört hat, aber nicht immer.


    Sehr spannend, wenn ich das hier lese. Die Bereich, die in hirnphysiologischer Hinsicht bei dir angesprochen werden, scheinen in dem einen wie dem anderen Fall unterschiedlich "getriggert" zu sein. Ich verwende diesen in der Psychologie verwendeten Begriff, den du im Sinne von Prägung verwendest. Wo dies hirnphysiologisch emotional verortet ist und welche Verbindungen zwischen den Hirnregionen bestehen, scheint mir relevant zu sein. Ich muss aber einwenden, dass Musikhören ein derart komplexer Vorgang ist, dass eine einfache Antwort nicht gegeben werden kann.


    Es gibt in deinem Fall aber auch einen b e w u s s t e n Entscheid, weshalb dir eine Aufnahme besser zusagt und du deine Meinung änderst. Hat dies etwas mit an der Sprachverarbeitung beteiligten Sprachzentren etwas zu tun, wenn du eine Oper hörst? Im Falle der vierten Sinfonie Robert Schumanns in der Interpretation Furtwänglers, die nicht mit Sprache konotiert ist, rückst du eher nicht von deiner Position ab. Deine Bemerkung, dass es sich um eine s u b j e k t i v e Einstellung handelt, trifft den Kern der Sache.


    Mit fällt in deinen angeführten Beispielen auf, dass es meist Opern oder Musikstücke mit Gesangstimme sind, die du erwähnst. Das kann auch mit deinen Hörgewohnheiten zu tun haben. Kannst du auch Interpretationen von Musikstücke nennen, in denen Sprache nicht vorkommt, in denen du deine Meinung geändert hast bzw. von deiner Einstellung nicht abrücken willst?
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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Lieber moderato, ich danke dir sehr für deinen einfühlsamen Beitrag, der wieder die alte Weisheit bestätigt, dass andere einen manchmal besser verstehen als man sich selbst.
    Die Furtwängler-Aufnahme der 4. Schumann-Sinfonie ist tatsächlich bei mir eine Ausnahme, weil ich in Bezug auf sinfonische Aufnahmen und Kammermusik durchaus urteilen kann, aber längst nicht so präzise wie hier viele Taminos. Mein Feld ist tatsächlich biographisch bedingt durch zwei musikalische Quellen. Zum einen die Oper; als Düsseldorfer bin ich natürlich in unendlich vielen Opern der Deutschen Oper am Rhein gewesen, die ja immer eine wichtige Rolle in der Opernlandschaft Deutschlands gespielt hat. In meinem beruflichen Feld kamen später die Opern des Ruhrgebiets dazu; alles in allem sind das mindestens 10 Opernhäuser.
    Die andere Quelle war das eigene Chorsingen. In der Jugend und als Student in einem großen Chor, in dem ich dann die großen Werke gesungen habe. Später dann eine evangelische Schola und diverse Vokalensembles. Das bedeutet, wenn ich über bestimmte Chormusik urteilen soll, ist die Chance groß, dass ich das schon gesungen habe. Daher ist das Vokale mein Metier.
    Zum Schluss: manche Prägung lässt sich löschen, wie ich das jetzt selbst zu meiner eigenen Überraschung erlebt habe. Ich habe mich ja hier öfter etwas abfällig über Beethovens Chorkompositionen geäußert, u.a. über die Missa solemnis. Vor ein paar Wochen gab es im Fernsehen eine Aufführung aus Graz, mit einem wunderbaren Chor, großartigen Solisten, die nicht rumparadierten, und einem perfekten Orchester (Concentus musicus), alles unter Nikolaus Harnoncourt. Seit diesem Tage zählt die Missa solemnis für mich nicht mehr unter die zu vernachlässigenden Werke. Man kann sich also als Graugans emanzipieren.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich habe eine Abneigung die Missa solemnis von Ludwig van Beethoven zu hören. Es mag die Krone der Chormusik sein, mich hat das Werk bisher nicht berührt. Ich werd mir diese Harnoncourt-Aufnahme als Blue-Ray-Disc zulegen. Vielleicht habe ich ein Erweckungserlebnis. ;)
    Die Instrumente des Royal Concertgebouw Orchestra lassen sich nicht mit dem Klang der Originalinstrumente des Concentus musicus vergleichen, die Solisten Marlis Petersen, Elisabeth Kulman, Werner Güra, Gerald Finley sind nicht ohne. Für Harnoncourt zählt die Missa solemnis zum Höchsten, was je komponiert wurde, neben der Es-Dur Messe Schuberts, die ich heiss liebe. Mal hören, ob der Meister der Klangrede mich überzeugen wird.



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  • Ich habe eine Abneigung die Missa solemnis von Ludwig van Beethoven zu hören. Es mag die Krone der Chormusik sein, mich hat das Werk bisher nicht berührt.

    Bist Du bescheuert, so etwas zu posten? Wie kann man die "Krone der Chormusik" nicht mögen?! Unerhört!
    Das ist die Reaktion vieler Musikfreunde, bei einer solchen Aussage. Und das kennt Dr. Pingel zur Genüge.
    Ich habe lange Zeit um das Werk einen Bogen gemacht, weil ich die Gesangspartien - also nicht das orchestrale - nicht mochte, es mir aber selber nicht erklären konnte. Außer mit der Tatsache, dass meine "Sozialisation des Singens" mit Renaissance- und Barockmusik begann. In gewisser Weise treffe ich mit da mit dem Dottore.
    Heute ist das bei mir anders: Ich sehe die Große Messe Beethovens als einen Höhepunkt der Musik an, gleichbedeutend mit der h-Moll-Messe von Bach. Wobei ich aber auch gestehe, dass mir der barocke Meister und seine Messe doch einen Tick näher steht...


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Ich habe auch Probleme mit Beethovens Missa solemnis - habe sie natürlich schon einige Male gehört, auch live unter Thielemann (zu seiner Berliner GMD-Zeit, muss 2002 oder 2003 gewesen seiin) und komme trotzdem nicht ran. Ich tröste mich damit, dass es mir nicht allein so geht: Immerhin hat Sir Simon Rattler vor einigen Jahren in einem Interview auf die frage, ob es Musik gibt, die er nie dirigieren würde, geantwortet: Beethovens Missa solemnis.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Missa Solemnis,


    Ich hatte auch lange keinen Zugang gefunden, das hat Gardiner geändert .


    Schönes Wochenende


    Kalli

  • Liebe Leute, eine große Bitte: der erste Amseljunges-thread ist wegen Beethovens 4. Satz der Neunten in der Luft verhungert. Lasst diesen jetzt nicht im Sand verlaufen wegen der Missa solemnis.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Mit Prägung hier in der Musik meine ich folgendes: es gibt viele Musikstücke, die wirken immer, egal, von welchen Interpreten sie aufgeführt werden. Es gibt aber auch einige Musikstücke, die wirken nur, wenn ein bestimmter Interpret das vorträgt. meist ist es der, bei dem man es zuerst gehört hat, aber nicht immer.


    Prägungen durch den Interpreten, durch den ich ein Stück kennengelernt habe, gibt es bei mir auch, manchmal sind mir diese Interpretationen auch nach vielen Jahren und vielen später gehörten anderen Aufführungen immer noch die liebsten. So geht es mir etwa mit einigen Bernstein-Einspielungen (z. B. seine Wiener Brahms-Aufnahmen). Ganz so strikt wie oben beschrieben ist diese Prägung bei mir aber nicht, mir fällt jedenfalls kein einziges Musikstück ein, dass ich ausschließlich in einer Interpretation mag, in allen anderen jedoch nicht.


    Und nur als Fußnote: Beethovens Missa solemnis habe ich vom ersten Hören an geliebt und tue das immer noch.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ich finde zB die Schubert-Messen durchweg "Schlaftabletten", von denen ich vermutlich kaum eine mehr als einmal durchgehalten habe. (Auch bei den fraglos gut komponierten Oratorien Mendelssohns setzt bei mir meistens unterwegs irgendwann Langeweile ein... :untertauch: )


    Beethovens Missa Solemnis hat mich schon als Teenager fasziniert. Aber es ist ein kaum je angemessen umsetzbares Werk (ist mir vor etwa einem Jahr bei einer eher provinziellen Live-Aufführung mal wieder aufgefallen).
    Es passiert einfach zu viel auf zu engem Raum in zu kurzer Zeit und zu viel davon ist "relevant", d.h. keine bloße "Begleitung". Rein "theoretisch" vergleichbar komplexe Werke wie zB Bachs h-moll-Messe sind durch die "Zerlegung" in viele, letztlich separate Einzelstücke und durch den festeren oder engeren Rahmen (Chorfuge, Arie usw.) m.E. erheblich leichter umsetz- und hörbar. (Bei Bach kann man sich sozusagen darauf einstellen "Chorfuge" und dann ist das eben, was 3-5 min. lang passiert. Außerdem sind dort die meisten Arien musikalisch und v.a. emotional vergleichsweise "leichtgewichtig", so dass man nicht durchweg der emotionalen (und klanglichen) Intensität ausgesetzt ist wie bei Beethoven.) Bei Beethoven gibt es z.B. 30 Sekunden fugierten Choreinsatz, dann einen unvermittelten Wechsel von Textur, Affekt etc. und 30 sec. "symphonische" Instrumentalpassage o.ä., zwar nicht immer in so schnellem Wechsel (das Benedictus ist ein etwa 10minütiger langsamer "Konzertsatz"), aber insgesamt kaum je von festen, abgegrenzten Formen (wie etwa bei Bach) dominiert. Allein akustisch ist das oft kaum alles hörbar zu machen, da ja viele Passagen obendrein auf "Überwältigung" mit Chor und vollem Orchester abzielen... Daher kann auch keine anämische, allein auf größte Transparenz setzende Interpretation überzeugen. Mich wundert nicht, dass einige Dirigenten (dem Vernehmen nach auch Furtwängler) hier verweigern, weil sie diese Schwierigkeiten vielleicht besser sehen als andere.


    Das Finale der 9. Sinfonie ist nicht durchweg so polyphon und v.a. nicht so extrem im Wechsel des Ausdrucks (ungeachtet der Kontraste der "Seid umschlungen etc". Passagen, beschränkt es sich größtenteils auf den "Jubel-Affekt").

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • ch finde zB die Schubert-Messen durchweg "Schlaftabletten", von denen ich vermutlich kaum eine mehr als einmal durchgehalten habe. (Auch bei den fraglos gut komponierten Oratorien Mendelssohns setzt bei mir meistens unterwegs irgendwann Langeweile ein... )


    Werke, zu denen ich keinen Zugang finde, gibt es bei mir natürlich auch, Mendelssohns Oratorien gehören sicher dazu, da langweile auch ich mich. Ebenso kann ich mit den Passionen und Kantaten von Bach nichts anfangen, wie überhaupt Bach ein Komponist ist, mit dem ich (abgesehen vom Orgelwerk) nicht recht warm werde. Aber das hat doch wohl weniger mit Prägung zu tun als mit Geschmack.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

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  • Ui, da habe ich mit meiner Bemerkung in ein Wespennest gestochen. Zumal ich gelobt habe, mir die Harnoncourt-Fassung der M s von L v B einzuverleiben. Ich werde versuchen die Kurve wieder auf das Thema dieses Threads, die Prägung zu schaffen.


    teleton hat im Schwanensee-Thread geschrieben, dass er es nicht schaffe, ein komplettes Ballett sich anzuhören. I c h liebe es, mir ein Ballett im Kopf vorzustellen. Das hatte mir schon als Kind Freude bereitet und als Erwachsener komme ich davon nicht weg.
    Für Johannes Roehl sind die Schubert Messen Zitat 'durchweg Schlaftabletten', mir bedeuten sie sehr viel, eröffnen mir Dimensionen des Glaubens, die ich von anderen geistlichen Musikwerken nicht erhalte. Ich sehe in Schuberts Es-Dur Messe ein Gipfelwerk der Messliteratur.
    Dass ich Bachs Wohltemperiertes Klavier als Ganzes in der Cembalofassung höre, wird für manche ebenfalls eine Horrorvorstellung sein.


    Es scheint mir, dass hier bei jedem Prägungen vorliegen, die s u b j e k t i v begründet werden können und von denen man schwer abrücken kann.
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  • Bei den Mendelssohn-Oratorien finde ich einzelne Stücke großartig, z.B. schon die Ouverture zu Paulus mit "Wachet auf, ruft uns die Stimme", Elias vs. Baalspriester usw. Aber dann kommen andere Stücke (kann jetzt leider kein konkretes nennen), die ich bestenfalls langweilig, schlimmstenfalls kitschig finde bzw. habe ich oft den Eindruck, dass recht bald "die Luft raus" ist und es keinen rechten dramatischen Zusammenhang des Ganzen gibt.
    (Auch die im Ggs. zu den viktorianisch-biedermeierlichen Oratorien oft als "frech" gelobte pseudoheidnische "Walpurgisnacht" finde ich musikalisch ziemlich harmlos.)
    Beim "Paulus" (Von den Mendelssohn-Oratorien habe ich nur das je live gehört, soweit ich erinnere) scheint mir überdies die "Sopran-Evangelistin" problematisch, weil diese Stimmlage als durchgehender "Erzähltonfall" auf die Nerven geht.


    Mendelssohn ist ein extrem versierter und lyrisch-melodisch einfallsreicher Komponist. Aber ihm fehlt m.E., von einzelnen Passagen abgesehen, der dramatische Zug, der z.B. Händel auch dann nicht fehlt, wenn einige seiner Stücke durch zu viele Routine-Arien u.ä. zu lang geworden sind. Selbst wenn Händel eine Reihe von Tableaux ohne dramatischen Zusammenhang komponiert (wie in "Solomon") findet man ein chorisches Highlight nach dem anderen.


    Und auch wenn ich die Charakterisierung von Bachs Passionen als Quasi-Opern für verfehlt halte, haben die ebenfalls einen solchen dramatischen Zug.
    Dagegen höre ich das Weihnachtsoratorium eher nicht in einem Rutsch durch - das hat für mich neben fraglos großartigen auch einige routinierte bzw. aufgrund Parodievefahren im Affekt total unpassende Stücke drin. Warum ein hektisches Fugato zu "Ich will nur dir zu Ehren leben" passen soll, erschließt sich mir nicht... ;)
    Seltsamerweise funktioniert es bei anderen Stücken, etwa "Bereite Dich, Zion", trotz der eigentlich ganz unpassenden im Mittelteil sich windenden "Schlangen" (die der junge Hercules in der Wiege erwürgte), gut mit der Weihnachtstimmung...

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    (Bob Dylan)

  • Ich denke, hier wird im Moment mehr über Geschmack als über Prägung diskutiert. Natürlich ist man auch auf Komponisten positiv oder negativ geprägt. Ich hätte aber gerne mehr Einzelbeispiele von denen, bei denen es sie gibt .
    Hier rasch zur Verdeutlichung noch einmal meine Prägungen auf bestimmte Opern.
    1." Mathis der Maler": hier gibt es eine ganz gute WDR-Aufnahme, aber die absolute Aufnahme ist die von Rafael Kubelik. Und dazu gibt es noch eine stärkere einzelne Prägung innerhalb dieser Aufnahme: Ursula Koszut als Regina, die Tochter des Bauernführers Schwalb. Das ist dann so wie bei Helena Tattermuschová, die schlaue Füchsin.



    2. Pfitzners "Palestrina" ist eine Oper, die ich ganz mitsingen kann, und zwar absolut in der Art, in der sie bei Kubelik zu hören ist. Allerdings ist es bei dieser Oper so, dass es immer mal wieder Sänger aus anderen Aufnahmen gibt, die etwa in der Rolle des Palestrina besser als Nicolai Gedda sind, z.B. Fritz Wunderlich. Ich denke, dass dies beweist, dass Prägung nicht heißt, grundsätzlich für andere Qualität offen zu sein.


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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ein schönes Thema, lieber dr. pingel.
    Geprägt bin ich vor allem pianistisch und kann auch genau beschrieben, wie das kam.
    Als Klavierschüler spielte ich, bevor ich mich in die Boogie-Richtung "verabschiedete" Beethovens Klaviersonaten, so etwa 10 Stück, wenn ich nicht irre. Ich erhielt in dieser Zeit (vielleicht so als 14 oder 15jähriger) eine Box mit Beethoven Sonaten. Es war die Gesamteinspielung von Alfred Brendel, damals bei Philipps. Sein fein nuancierter Anschlag, seine Pianokultur und sein sehr rhetorisch geprägtes Spiel waren für mich fortan die Lesart der Sonaten. Alles andere kam mir irgendwie falsch vor. Ich denke, bei diesen Triggern durchläuft man verschiedene Phasen: 1) Prägung. Hier peilet auch die Intensität, mit der man sich einer Aufnahme gewidmet hat, eine Rolle. So wird die Interpretation selbst zum Werk, 2) Verteidigung dieser Prägung um jeden Preis (auch verbunden mit Versuchen, andere Lesarten wegzudiskutieren), 3) Hinterfragen diese Lesarten vor dem Hintergrund erweiterter Erfahrungen. Das gelingt mitunter, manchmal auch nicht. Und man muss sich ja auch nicht zwingend von liebgewonnenen Interpretationen/ Klangbildern verabschieden. Ich habe bei Beethoven mittlerweile einige andere Lesarten kennengelernt und manches überzeugt mich mehr, dennoch ist Brendels Auffassung von Beethoven zumindest partiell immer noch die meine.
    Ein ähnliches Phänomen ist für mich der Rubinstein-Ton, der für mich zwischenzeitlich ganz zum Chopin-Ton wurde (vor allem im ersten KK).


    Mit bestem Gruß
    JLang


    PS Ach so, die Einspielung ist folgende.

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Lieber JLang, du hast das Problem nicht nur gut erkannt, sondern auch gut formuliert. Besonders gelungen der Satz: "So wird die Interpretation selbst zum Werk!" Das trifft es gut. Die Prägung ist immer ambivalent: sie kann ein Segen sein, wenn sie das Gefühl für wirkliche Qualität schärft, oder sie wird zum Fluch, weil sie andere oder bessere Ansätze verhindert. Ein Beispiel dafür sind die Aufnahmen der Schützschen Werke (besonders die Exequien,1636) und der Geistlichen Chormusik, 1648) durch den Herforder Musiker Wilhelm Ehmann. Ich habe mich überzeugen müssen, dass sie zu groß besetzt sind, zu sopranorientiert, dass man Schütz eher aufführt wie Howard Arman. Trotzdem liebe ich diese Aufnahmen und kann sie alle singen, und zwar genau wie Ehmann sie dirigiert! So wird die Interpretation zum Werk!
    Es gibt aber auch hartnäckige Verweigerung. Ich bin z.B. bei der "Messe de Nostre Dame" von Machaut so auf das Deller Consort mit dem Collegium aureum fixiert (Kommentar eines Freundes: Ist das von Strawinski?), dass ich hier die anderen nur mit nicht gelinder Verachtung höre, wenn überhaupt.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • ETA Hoffmann hielt den Don Giovanni für die beste je komponierte Oper. Auch wenn Wagner und Janacek noch nicht auf der Welt waren, hat Don Giovanni seinen Ruhm noch nie verloren. Allerdings treffen hier bei mir das "blinde Amseljunge" und "the Pingel razor" zusammen. Das Amseljunge heißt, dass ich auf die Klemperer-Aufnahme sozialisiert bin, und der "Pingel razor" bedeutet, dass ich mich zum Hören oder Kauf an einer Szene am Schluss des Don Giovanni orientiere. Nachdem Elvira vor der Statue mit einem Entsetzensschrei geflohen ist, beginnt ein ungeheurer Bass-Dreikampf mit Giovanni, Leporello und dem Komtur. Die Bässe müssen die richtige Schwärze haben, sie sollen laut sein, aber nicht brüllen.
    Dazu ist es sehr erforderlich, dass alle drei ein unterschiedliches timbre haben. Ich habe mir bei jpc nach dieser Methode den "Don Giovanni" von René Jacobs angehört. Das ist ein Dirigent, den ich sehr verehre, wie man ja hier öfter lesen kann. Leider greift er bei der Auswahl der Sänger oft daneben. Bei Jacobs sind ausgerechnet Komtur und Don Giovanni (Johannes Weisser) weit von ihren Rollen entfernt. In der Rezension (jpc oder amazon) kommen der Commendatore und Don Giovanni gar nicht vor, und das zu Recht. Ich frage mich, wie man das schafft, solch schwache Sänger für eine Hauptrolle zu engagieren. Ab sofort werde ich hier diesen Giovanni hier nicht mehr erwähnen.
    Was mir beim Hören (ich weiß nicht, wie viele Male, aber mehr als 100 sind es bestimmt, dazu viele Aufführungen, besonders in Wien - Siepi! - und Düsseldorf - Otto Wiener) immer wieder auffällt: Mozart ist der ungekrönte König der Ensemblesätze. Trotz der schönsten Arien: seine Ensemblesätze, besonders die in den Da-Ponte-Opern und noch mal besonders im Don Giovanni, sind unerreicht. Aber vielleicht habt ihr da andere Vorschläge. Die Komturszene gehört zur besten Opernmusik, die je geschrieben wurde. Ich finde es immer schade, dass die Oper da nicht aufhört, sondern noch der pädagogische Schluss folgt.
    Mozart nennt sein Stück ein dramma giocosa, ich finde, es ist eine seria.
    Für mich war interessant, dass der Chor, abgesehen von der Hochzeitsszene, am Schluss auftritt, nein, nicht auftritt, sondern hinter der Bühne singt als Chor der Dämonen. Janacek hat das ähnlich gemacht in seiner "Katja".

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Die beiden Aufnahmen von Krips (1955) und Klemperer (1966) sind für mich ein Beweis, dass man eine Prägung auch ändern kann. Von den nachfolgend genannten Sängern habe ich die meisten live in der Staatsoper in Wien (1964-5) gehört. Da lag es nahe, sich beide Aufnahmen zu besorgen.


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    Doch das Bessere (Klemperer) ist des Guten (Krips) Feind. Ich weiß allerdings nicht, wann ich mir die Klemperer-Aufnahme zugelegt habe. Fakt ist, dass ich erst in diesen Tagen die alte Krips-Aufnahme aufgelegt habe, um diesen Vergleich hier zu schreiben.



    Ich nenne jetzt mal die Sänger. W steht für Wien/Krips, L für London/Klemperer.
    Don Giovanni: Siepi -W, Ghiaurov - L. Beide die besten Giovannis, die ich kennengelernt habe.
    Leporello: Corena - W, Berry - J. Beide sehr gut, wobei Berry besser in der Rolle drin ist. Berry singt in der Krips-Aufnahme übrigens den Masetto.
    Commendatore: Böhme - W, Crass - L. Beide grandios.
    Donna Anna: Claire Watson - W, Suzanne Danco - L. Hier gefiel mir Danco besser.
    Don Ottavio: Anton Dermota - W, Nicolai Gedda - L. Ich habe Dermota 1965 on dieser Rolle in Wien gesehen, wobei er sich mühsam durch den Abend gekämpft. Die 2. Arie wurde ausgelassen. Die schwache Vorstellung Dermotas auch hier ist einer der Kritikpunkte an der Aufnahme von Krips. Bei Eckard Henscheid kann man jede Menge Bosheiten gegen Ottavio lesen. Ich finde auch, dass Ottavio und Anna die langweiligsten Figuren in dieser Oper sind. Sie vereinbaren am Schluss ja ein Jahr Trennung, vielleicht kriegt die Donna Anna dann doch noch die Kurve.
    Elvira: Lisa della Casa - W, Christa Ludwig - L, beide großartig.
    Masetto: Walter Berry - W, Paolo Montarsolo - L, beide hervorragend.
    Zerlina: Hilde Güden - W, Mirella Freni - L. Hier weiß ich nicht, wen ich mehr loben soll.


    Zu den Dirigenten: Otto Klemperer holt mehr aus dem Orchester und den Sängern heraus, was bei Krips mal wieder an der Tontechnik oder der Mono-Fassung liegen kann.
    Fazit: die Klemperer-Aufnahme wurde als Jahrhundertaufnahme bezeichnet, und das zu Recht. Es gibt nicht einen einzigen Schwachpunkt in dieser Aufnahme. Bei der Krips-Aufnahme ist ein Sänger-Ausfall zu beklagen (Dermota) und auch das Orchester ist nicht ganz so gut, woran immer das gelegen hat.
    Nachwort: ich erwähne es ja immer wieder, dass die Berühmtheit eines Dirigenten ja nicht zur Beweihräucherung gedacht ist, sondern dazu, dass sie sich die Sänger aussuchen können, weil natürlich alle unter ihnen singen wollen. Dies gilt, so weit ich sehe, vor allem für Klemperer, Karajan, Kubelik, Herrweghe; für René Jacobs leider nicht.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich finde auch, dass Ottavio und Anna die langweiligsten Figuren in dieser Oper sind. Sie vereinbaren am Schluss ja ein Jahr Trennung, vielleicht kriegt die Donna Anna dann doch noch die Kurve.


    Welch ungewöhnliche Sicht. :(

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent