Nachdem ich vor zwei Wochen vom Essener „Holländer“ eher enttäuscht war (alberne Inszenierung von Barrie Kosky und weitgehend dürftige sängerische Leistungen), hat mich die „Elektra“ gestern Abend sehr beeindruckt. Die Produktion entstand in Kooperation mit der Flämischen Oper in Antwerpen und Gent und wurde dort bereits gezeigt. Die Premiere in Essen war am 20. März.
„Ganz schön viel Blut“ merkte der vor mir in der Schlange stehende Mann beim Blick in das Programmheft an. Und tatsächlich nehmen der Regisseur David Bösch und die Bühnenbildner Patrick Bannwart und Maria Wolgast es sehr ernst, dass „Blut“ das wahrscheinlich am häufigsten gebrauchte Substantiv in dieser Oper ist: die Spuren des blutigen Mordes an Agamemnon, als „das Bad dampfte von deinem Blut“ (Elektra) sind überall noch sichtbar an Wänden und Boden, das „ewige Blut des Mordes“, das die Mägde „mit immer frischem Wasser“ vergeblich von der Diele abzuspülen versuchen. Und am Ende, als der heimgekehrte Orest dann die vom Gesetz der Götter und dem Willen seiner Schwester verlangte ungeheure Tat, seine Mutter zu ermorden, tatsächlich begangen hat, da läuft das Blut dann wirklich in Strömen die Wand hinunter, „aus hundert Kehlen stürzend auf dein Grab“, so wie es sich Elektra erträumt hat: die „Purpurgezelte [die] aufgerichtet sind, vom Dunst des Blutes“ werden Wirklichkeit. Das alles ist ungeheuer eindrucksvoll in Szene gesetzt, ohne jemals billig zu wirken oder auf vordergründige Schockeffekte zu setzen. Allein der in großen Buchstaben an die Palastmauer gemalte Spruch „Mama, where is Papa?“ (warum eigentlich auf Englisch?) wirkt etwas albern. Sehr rührend hingegen die von Elektra gesammelten Erinnerungsstücke an eine noch glückliche Kindheit: ein Photo mit Papa, Stofftiere, Stühlchen aus dem Kinderzimmer. Großartig in Szene gesetzt auch der Auftritt der Klytämnestra, die sich das Blut der von der Decke herabhängenden Opfertiere intravenös über lange Schläuche zuführen lässt:
Jeder Dämon lässt von uns, sobald das rechte Blut geflossen ist. […] Und müsst' ich jedes Tier, das kriecht und fliegt, zur Ader lassen und im Dampf des Blutes aufsteh'n und schlafen gehn wie die Völker des letzten Thule in blutroten Nebel: ich will nicht länger träumen.
Dass der Regisseur sein Handwerk versteht, hat man an der überzeugenden Personenregie gesehen, die freilich auch auf die darstellerischen Qualitäten insbesondere von Rebecca Teem als Elektra und von Doris Soffel als Klytämnestra bauen konnte. Aber nicht nur schauspielerisch, sondern auch sanglich vermochten diese beiden zu überzeugen. Herausragend Doris Soffel, die die „wachenden Sinns zerfallende“, zerstörte Frau großartig verkörpert. Aber auch Rebecca Teem hat die schwierige Partie mit ihrem kraftvollen Sopran hervorragend gemeistert. Eher blass hingegen Almas Svilpa als Orest (der mir zwei Wochen vorher als Holländer besser gefallen hatte), während Katrin Kapplusch die Chrysothemis solide sang, ohne die Figur wirklich mit Leben erfüllen zu können. Nicht vollends überzeugt hat mich das Dirigat von Essens GMD Tomáš Netopil: ich habe die Musik schon abgründiger, schroffer, expressiver gehört. Dennoch war es ein höchst beeindruckender Abend. Der Applaus am Ende war frenetisch, zu Recht gefeiert wurden Doris Soffel und insbesondere Rebecca Teem. Das Aalto-Theater war nur zu ca. 3/4 besetzt, für eine Vorstellung unter der Woche bei einem Stück, dass sicher keine leichte Kost ist, ist das wohl normal in einer Stadt wie Essen.
Wer Strauss‘ Meisterwerk ebenso liebt wie ich (für mich ist es der Höhepunkt seines Opernschaffens), dem kann ich einen Besuch der Essener Produktion nur empfehlen.
Die eingestellten Bilder habe ich auf Wunsch von Bertarido wegen möglicher Urheberrechtsverletzungen entfernt.
Norbert als Moderator