Gelungenes Plädoyer für ein unbekanntes Meisterwerk: George Enescus "Oedipe", Royal Opera House, 8. Juni 2016

  • Wie schon anderorts angekündigt, habe ich am 8. Juni 2016 eine Vorstellung von George Enescus "Oedipe" am Royal Opera House in London besucht. Diese erste Produktion von "Oedipe" in London überhaupt ist in Zusammenarbeit mit dem Brüsseler Opernhaus La Monnaie entstanden, wo sie schon 2011 gezeigt wurde. Für die Regie wurde die katalanische Gruppe La Fura dels Baus verpflichtet, als verantwortliche Regisseure sind Àlex Ollé und Valentina Carrasco benannt. Ich muss gestehen, dass ich recht skeptisch war, denn bislang hat mich noch keine der mir bekannten Regiearbeiten von La Fura dels Baus überzeugt. Als Negativbeispiel sei hier der „Ring“ aus Valencia genannt, der mit vielen Mätzchen und dem Stück aufgepropfter Theatermaschinerie vom Eigentlichen ablenkt. Bei „Oedipe“ war ich hingegen positiv überrascht, mit welcher Feinfühligkeit und auch Poesie dieser vielleicht erschütterndste aller griechischen Mythen in Szene gesetzt wurde.


    Bekanntlich gehen Enescu und sein Librettist Edmond Fleg über die Handlung der beiden sophokleischen Dramen hinaus, indem sie die Geschichte des Ödipus von der Geburt an erzählen. Im ersten Akt, der die Feiern anlässlich der Geburt des Thronfolgers in Theben, den von Tiresias verkündeten Orakelspruch und die Aussetzung des Knaben zeigt, wird der Hof von Theben als riesiges Terrakotta-Fries dargestellt, das die gesamte Höhe und Breite der Bühne einnimmt. Die erst leblos erscheinenden braunen Figuren des Frieses stellen sich dann bald als die lebenden Darsteller der Handlung heraus – ein wirklich starkes Bild, der antike Mythos erwacht gleichsam zum Leben. Die statuarische Aufstellung der Figuren wird auch dem oratorienhaften Charakter des 1. Aktes gerecht, der noch wenig dramatische Elemente enthält. Szene und Figuren sind hier noch zeitlos. Ab dem 2. Akt, der den Abschied des herangewachsenen, von bösen Vorahnungen gequälten Ödipus von seinen vermeintlichen Eltern in Korinth, die Erschlagung seines leiblichen Vaters an der Wegkreuzung und die Besiegung der Sphinx vor den Toren Thebens zeigt, ist die Handlung in einer im ungefähren gelassenen Moderne angesiedelt. Für mich nur konsequent, geht es hier doch nicht um irgendein antikes Schauermärchen, sondern um einen zeitlosen Mythos, der uns als moderne Menschen ebenso angeht und berührt wie die Menschen zur Zeit des Sophokles. Ob die gefundenen Bilder dann immer die richtigen sind, mag man diskutieren: beim Abschied von der (Adoptiv-)Mutter Mérope, der Ödipus seine Träume offenbart, liegt er auf einer Couch, während die Mutter auf einem Block mitschreibt – für mich eine allzu platte Anknüpfung an die ohnehin offensichtlichen psychoanalytischen Bezüge. Die Wegkreuzung ist eine Baustelle mit blinkenden Absperrungen, der Zeuge des Todschlags werdende Schäfer ein Bauarbeiter, und König Laios kommt im Auto daher. Die Sphinx sitzt in einem Jagdflugzeug des zweiten Weltkriegs (natürlich mit Abzeichen der deutschen Luftwaffe), der ängstlich umherschleichende Wächter fuchtelt hilflos mit seiner MP herum. Manches kam mir da doch etwas bemüht vor, als müsste unbedingt irgendein besonderer Einfall her – für mich der am schwächsten umgesetzte Akt. Musikalisch ist die Sphinx-Szene hingegen sicherlich einer der Höhepunkte der Oper. Der 3. Akt war dann wieder ganz großartig realisiert: eine Seuche sucht Theben heim (hier wohl eine Nuklear-Katastrophe), der Orakelspruch verkündet, dass der Mörder des Laios unerkannt in der Stadt lebe und gefunden werden müsse. Wie Ödipus, umgeben vom Leiden und Sterben der kranken Bevölkerung, langsam und widerwillig erkennt, dass er selbst der Mörder ist und vergeblich versucht hat, seinem Schicksal zu entkommen, hat das Regieteam wirklich ganz großartig und berührend umgesetzt. Hier kommt es natürlich in erster Linie auf die darstellerischen Qualitäten und die dramatische Ausdruckskraft des Sängers der Titelrolle an, und über die verfügt Johan Reuter in großem Maße. Mit der Selbstblendung des Ödipus und dem nur von seiner im Inzest gezeugten Tochter Antigone begleiteten Exil ging der Akt auf erschütternde Weise zu Ende. Nach diesen hochdramatischen Geschehnissen schlägt der finale 4. Akt wieder leisere Töne an. Dennoch ist er in der auf Humanisierung abzielenden Deutung des Mythos durch Komponisten und Librettisten ein wichtiger Bestandteil: der gealterte Ödipus und Antigone gelangen nach Jahren der Wanderschaft in die Nähe Athens, wo Ödipus den Hain erkennt, in dem er nach dem Versprechen des Apollon endlich Ruhe finden soll. Ödipus Nachfolger Kreon auf dem thebanischen Thron erscheint, um diesen zuerst durch Überredung, dann durch Gewalt zu einer Rückkehr nach Theben zu bewegen, wird aber von Theseus, König von Athen (der „gute König“ ist hier eine ganz in weiß gekleidete Lichtgestalt) vertrieben. Antigone wird in Athen aufgenommen, Ödipus geht in den Hain, um im Tod Frieden zu finden. Bis auf das etwas übertrieben, fast schon kitschig inszenierte Ende (Ödipus geht buchstäblich ins Licht) ist auch hier die szenische Umsetzung wieder sehr gelungen.


    Die Sängerinnen und Sänger haben an diesem Abend keine Wünsche offen gelassen. Johan Reuter hat die anspruchsvolle Titelrolle auf beeindruckende Weise ausgefüllt, und trotz aller dramatischen Anforderungen in den Akten 2 und 3 gelangen ihm am Ende noch berührende lyrische Momente. John Tomlinson war ein großartiger Tirésias, und selbst die kleinere Rolle des Theseus war mit Samuel Dale Johnson hochrangig besetzt. In der Riege der dunklen Stimmen fiel einzig Samuel Youn als Créon etwas ab, aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Die Frauenstimmen spielen keine ganz so große Rolle in dieser Oper, aber auch hier bestand mit Sarah Connolly als Jocaste, Claudia Huckle als Mérope und Sophie Bevan als Antigone kein Grund zur Klage. Der Royal Opera Chorus war exzellent, und Dirigent Leo Hussain steuerte das Orchester souverän durch die Partitur. Insgesamt ein wirklich überzeugendes Plädoyer für ein zu Unrecht wenig aufgeführtes Opern-Meisterwerk des 20. Jahrhunderts. Der Ausflug nach London hat sich mehr als gelohnt.


    Ein Sonderlob gebührt noch dem informativen Programmbuch des ROH, das einige sehr interessante Texte über den Komponisten, die Musiksprache dieser Oper und den Ödipus-Mythos enthält.


    Ich verzichte aus Gründen des Urheberrechts auf die Einfügung von Szenenfotos und setzte nur einen Link zur Seite des Opernhauses, wo man Bilder findet: http://www.roh.org.uk/productions/oedipe-by-alex-olle

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Hallo Bertarido,


    Deinen schönen Bericht habe ich mit viel Freude und Interesse gelesen! Enescu lernte ich zuerst kennen durch Dinu Lipatti. Dass er auch eine Oper geschrieben hat, war mir natürlich gar kein Begriff! Mich würde noch interessieren, wie Du meinst, wie diese Oper dem antiken Stoff eine moderne Interpretation gibt. Das haben ja auch große Dramatiker des 20. Jhd. getan wie z.B. Sartre. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Auch ich habe Deinen Text mit großem Interesse gelesen, lieber Bertarido. Danke. Allerdings würde ich nicht von einem "unbekannten Meisterwerk" gesprochen haben. Ist es nicht seit seiner Pariser Uraufführung - das war 1936 - stets vom großem Interesse begleitet gewesen? Allerdings nur eines realativ kleinen Kreises, was Dior wiederum Recht gibt. Ein Volkstück ist es nicht. Vergleichweise oft ist OEDIPE eingespielt worden. Wenn ich richtig gezählt habe, sind mindestens drei Produktion am Markt. Es ist eines der musikadramatischen Werke, das ich auch gern von der Konserve auf mich wirken lassen. Große packende Momente! Du hast das wirklich sehr treffend beschrieben, wie ich finde.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Mich würde noch interessieren, wie Du meinst, wie diese Oper dem antiken Stoff eine moderne Interpretation gibt. Das haben ja auch große Dramatiker des 20. Jhd. getan wie z.B. Sartre.


    Lieber Holger, ich bin kein wirklicher Kenner des antiken Stoffes, aber der Ödipus dieser Oper scheint mir in der Hinsicht ein modernen Mensch zu sein, dass das Konzept des freien Willens eine wichtige Rolle spielt. Ödipus ist hier nicht jemand, der durch einen schicksalhaft gegebenen Charakter bestimmt ist, sondern ein Mensch, der sich seiner Fähigkeit, bewusst ist, richtige und falsche Entscheidungen zu treffen. So fragt die Sphinx hier auch nicht wie üblich nach dem Wesen mit den vier, zwei und drei Beinen, sondern die Frage lautet: "Nenne etwas, das größer als das Schicksal ist". Und Ödipus antwortet auch hier: "Der Mensch". Und im letzten Akt beharrt Ödipus gegenüber den Anschuldigungen durch Kreon darauf, dass er immer das Beste gewollt und sich mit allen Kräften bemüht habe, den Fallen der Götter zu entgehen, nochmals bekräftigt er, dass er unschuldig sei und das Schicksal besiegt habe:


    Moi, je suis innocent, innocent, innocent!
    Ma volonté jamais ne fut avec mes crimes!
    J'ai vaincu le destin!
    J'ai vaincu le destin!


    Allerdings würde ich nicht von einem "unbekannten Meisterwerk" gesprochen haben.


    Du hast natürlich Recht, lieber Rheingold, "wenig bekannt" wäre passender gewesen, denn zumindest außerhalb des Tamino-Forums dürfte dieses Werk trotz einiger Aufnahmen und gelegentlicher Aufführungen nur wenigen Opern-Freunden ein Begriff sein. Ich hoffe, dass sich das allmählich ändert, so wie ich Enescu überhaupt mehr Aufmerksamkeit wünsche. Ich hatte schon überlegt, ein paar Threads z.B. zu seinen Symphonien zu eröffnen, von denen es inzwischen eine Reihe guter Einspielungen gibt, habe mich bisher aber nicht dazu aufraffen können.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Hab mir letzten Samstag auf BBC Radio 3 die Liveübertragung angehört. Ich kannte die Oper bislang überhaupt nicht , habe mir aber bis zum Ende die Übertragung angehört.

  • Lieber Holger, ich bin kein wirklicher Kenner des antiken Stoffes, aber der Ödipus dieser Oper scheint mir in der Hinsicht ein modernen Mensch zu sein, dass das Konzept des freien Willens eine wichtige Rolle spielt. Ödipus ist hier nicht jemand, der durch einen schicksalhaft gegebenen Charakter bestimmt ist, sondern ein Mensch, der sich seiner Fähigkeit, bewusst ist, richtige und falsche Entscheidungen zu treffen. So fragt die Sphinx hier auch nicht wie üblich nach dem Wesen mit den vier, zwei und drei Beinen, sondern die Frage lautet: "Nenne etwas, das größer als das Schicksal ist". Und Ödipus antwortet auch hier: "Der Mensch". Und im letzten Akt beharrt Ödipus gegenüber den Anschuldigungen durch Kreon darauf, dass er immer das Beste gewollt und sich mit allen Kräften bemüht habe, den Fallen der Götter zu entgehen, nochmals bekräftigt er, dass er unschuldig sei und das Schicksal besiegt habe:


    Moi, je suis innocent, innocent, innocent!
    Ma volonté jamais ne fut avec mes crimes!
    J'ai vaincu le destin!
    J'ai vaincu le destin!


    Lieber Bertarido,


    dann ist wirklich interessant. Einerseits scheint das mit der Betonung der Freiheit vom Existenzialismus beeinflußt, wobei aber ein Sartre gerade betonen würde, dass der Mensch, weil absolut frei, immer verantwortlich ist, gerade auch für das, was er nicht selber verschuldet hat. :hello:


    Schöne Sonntagsgrüße
    Holger