Bach für alle aus Leipzig - ein unvollendetes Projekt


  • Ein rasantes Projekt aus Leipzig! Mit der Übertragung von Aufführungen der Bachkantaten immer sonntags im Rundfunk sollten von 1931 an "Kreise aller Alters- und Bildungsstufen" erreicht werden". So schwebte es seinerzeit Thomaskantor Karl Straube vor. Mit seinen zwei neuen Sendetürmen, je 105 Meter hoch, hatte der Mitteldeutschen Rundfunk (MIRAG), der schon damals so hieß, allerbeste Voraussetzungen. Letztlich scheiterte das Projekt, das so vielversprechend und groß angelegt begann, an der Engstirnigkeit der Machthaber. Denn die politischen Verhältnisse hatten sich in Deutschland inzwischen geändert. So viel Bach im Radio, das bald ganz anderen Zwecken zu dienen hatte, war den Nationalsozialisten zu viel, zumal die Texte der Kantaten oft in schreiendem Widerspruch zur Rassenpolitik standen. Ein beklemmender Zufall wollte es, dass die letzte Aufnahme einer Sendung bei den Worten "Friede über Israel" aus der Kantate zum ersten Pfingsttag (BWV 34) abbricht. Damit war Schluss. Da nützte es dem Kantor auch nichts, dass er selbst seit 1926 Mitglied der NSDAP war und bei den zuständigen Stellen hartnäckig interveniert hatte.


    Einen Einblick in dieses faszinierende Kapitel der Bachpflege bietet die dreiteilige Edition History Gewandhausorchester des Labels Querstand aus dem Verlag Klaus-Jürgen Kamprad in Altenburg. Es ist Tradition, dass das Gewandhausorchester bei den Kantatenaufführungen begleitet. Speziell Volume 3 ist ganz diesem Thema gewidmet. Nicht nur in Texten, Fotos und Faximiles, die in Buchform sehr viel her machen. So wünscht man sich das. Zwei CDs vermitteln auch akustische Eindrücke. Knapp zwölf Stunden Kantaten haben auf Tonträgern Kriegswirren und Zerstörung überlebt. Daraus wurden die am besten erhaltenen Stücke, meist Fragmente, ausgewählt. Wie klingt das nun? Ich hatte einen groß dimensionierten Bach erwartet, etwa wie bei Klemperer. Von wegen! Die Überraschung ist ein sehr transparentes Klangbild, fast schlicht. Das Gegenteil von opulent und ausschweifend. Und doch nicht streng. Es ist mitunter etwas Tänzerisches im Zusammenspiel zwischen Chor und Orchester. Thomaskantor Straube hat vergleichsweise klein besetzt. Bis zu 60 Thomaner bildeten den Chor, Erweiterungen auf bis zu neunzig gab es erst in seiner Nachfolge. Der Chor wirkt nicht wie ein auf Zusammenhalt gedrillter Block. Die einzelnen Stimmgruppen treten oft solistisch hervor und finden doch immer wieder zusammen. Aus diesem dynamischen Wechselspiel gewinnt Straube den Kantaten eine unglaubliche Spannung und musikalische Flexibilität ab. Es federt und schwingt. Mir kam es manchmal so vor, als würde ich ein frühes Stereo hören. Was erst viel später mit technischen Mitteln möglich wurde, hat dieser Thomaskantor, dessen Stimme auch in einem kurzen Interview zu hören ist, aus der Musik selbst entwickelt. Für mich ist das die Entdeckung in dieser Edition. Tontechniker haben ganze Arbeit geleistet, um dieses frühe Leipziger Bach-Klangbild, das verloren gegangen schien, zu rekonstruieren. Respekt! Da stört es auch nicht, wenn es plötzlich mal einen kurzen Aussetzer oder Geräusche gibt, die sich nicht zuordnen lassen. Das Ausgangsmaterial gibt eben nicht mehr her.


    Der Produktionsleiter der Edition Steffen Lieberwirth vom MDR: "Es ist ein ebenso radiogeschichtlich wie dokumentarischer Glücksfall, dass der Mitteldeutsche Rundfunk seine Live-Übertragungen des ersten Bach-Kantatenjahrgangs 1931/32 parallel zu deren Ausstrahlung auf Wachsfolie aufgezeichnet. Später ließ die MIRAG davon in geringen Stückzahlen Schellackplatten zu Dokumentationszwecken und wohl auch für den Programm-Austausch der Sender pressen. Natürlich bekamen zudem der Thomanerchor, das Gewandhausorchester und Karl Straube für rein private Zwecke die Schellackplatten mit den Mitschnitten ihrer Konzerte. Zwar nicht mehr vollständig, aber doch in beachtlichen Teilen erhalten, ,überlebte’ in Leipzig wohl nur die Sammlung des Thomanerchores." Heute werden diese zerbrechlichen Rundfunk-Tondokumente als Dauerleihgabe von den Mitarbeitern des Leipziger Bach-Archivs sorgfältig behütet. Auch das Berliner Archiv der Reichsrundfunk-Gesellschaft RRG besaß Leipziger Kantaten- Schellackplatten. Diejenigen, die nicht Opfer von bewussten Zerstörungen oder als Beutekunst in den Nachkriegswirren geraubt worden sind, werden heute in den Sammlungen des Deutschen Rundfunkarchivs in Frankfurt am Main verwahrt. Trotz der unwiederbringlichen Verluste sind immerhin 28 Kantaten – wenngleich größtenteils nicht mehr vollständig – überliefert. 22 davon sind Aufzeichnungen der ersten Kantatensendungen des Jahrganges 1931 aus dem Grassi-Museum (Foto des Chores und des Orchesters weiter unten mit Straube ganz rechts) und sechs Kantaten dokumentieren die Sendung nach ihrem Umzug in den Großen Concertsaal des Neuen Gewandhauses ab 1932 bis 1939. Gleichzeitig bekommen wir dank dieser frühesten erhaltenen Tondokumente einen Eindruck von Charakter, Ansprechhaltung und Klangbild mitteldeutscher Radiosendungen. Zur Übertragung der Bach-Kantaten schaltete das MIRAG Funkhaus am Markt 8 jeweils sonntags 11.30 Uhr in den Saal des Grassi-Museums zum Rundfunksprecher, der von dort die Hörer der angeschlossenen Sender begrüßte und eine kurze Werkeinführung gab. Die Aufnahmen selbst – knapp 12 Stunden sind erhalten – geben viel von jener Anspannung und elektrisierenden Konzentration einer Live-Übertragung im Radio preis." Soweit Projektleiter Lieberwirth in Booklet.


    Solisten für die Kantaten-Auffürungen wurden aus mehreren deutschen Städten engagiert. Mit Helene Fahri, Ilse Kögel, Anni Quistorp (Sopran), Frieda Dierolf, Margarete Krämer-Bergau, Henriette Lehne, Charlotte Wolf-Matthäus (Alt), Hanns Fleischer, Martin Kremer, Paul Reinecke, Hans Schubert-Meister (Tenor) sowie Karl August Neumann (Bass) und Johannes Oettel, Richard Franz Schmidt, Kurt Wichmann (Bass) tauchen Namen auf, die weitgehend vergessen sind. Eigene Nachforschungen lohnen sich. Verschiedentlich wirkten einige nämlich bei anderen Plattenproduktionen mit, so die Kögel, oft auch mit oe geschrieben, bei Telefunken als Mignon in einem Querschnitt der Oper von Ambroise Thomas, die Wolf-Matthäus bei gleichen Label mit Barockmusik, die Krämer-Bergau als Rossweiße im dritten Aufzug der "Walküre" bei Bellaphon. Hanns Fleischer kennen gut sortierte Sammler als Steuermann im Mitschnitt des "Fliegenden Holländer" unter Fritz Busch aus dem Teatro Colón von 1936, der bei Pearl heraus gekommen ist. Als David macht Martin Kremer im dritten Aufzug der "Meistersinger von Nürnberg", dirigiert von Karl Böhm, viel her, der 1938 in Dresden eingespielt wurde und zuletzt gut aufgefrischt beim Label Profil Hänssler erschienen ist. Mich freut, dass die bescheidenen Diskographien dieser Sänger jetzt so erfreulichen wie überraschenden Zuwachs bekommen haben.


    Ein kleines Detail aus den akribischen Tracklisten hat mich besonders angerührt. Im Gewandhausorchester wirkten mit solistischen Aufgaben Anfang der dreißiger Jahre zwei Musiker, die später als Dirigenten zu Weltruhm aufstiegen – Charles Munch, damals noch Karl Münch mit der Violine, und Rudolf Kempe als Oboist.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent