Zum gegenwärtigen Zustand des Sprechtheaters

  • Da ich keinen passenden Thread gefunden habe, eröffne ich einen neuen.


    Heute morgen berichteten einige Zeitungen über einen Vortrag von Claus Peymann bei den Ruhrfestspielen, dem er den Titel "Das Theater verliert sein Geheimnis" gegeben hat. Hier findet man eine Wiedergabe seiner kritischen Bemerkungen: http://www.derwesten.de/kultur…geheimnis-id11920781.html


    Einiges davon ist mir aus der Seele gesprochen und benennt Gründe, warum ich in den letzten Jahren die Lust am Sprechtheater weitgehend verloren habe:


    "Die Literatur, d i e Basis für unser europäisches Theater, tritt zurück. Die Stücke werden nicht mehr gespielt, dafür wird jeder zweite Roman dramatisiert, jedes Filmdrehbuch. Das Vertreiben der Literatur aus dem Theater ist vielleicht unsere größte Gefahr. Meine Regie-Kollegen glauben, dass sie selbst die größeren Dichter sind. Eine bedrohliche Fehleinschätzung."


    "Wenn jemand Richard III. spielt, glaubt man heute nicht mehr, dass das Richard III. ist. Der Schauspieler macht stattdessen Witze über Richards Messer: 'Oh, Schiete, das is’ ja nich’ scharf': Die Leute lachen, aber er denunziert seine Figur. Eine gefährliche Tendenz. Unsere eigentliche Waffe ist doch das Geheimnis der Verwandlung."


    "Es gibt die Schauspieler nicht mehr, die so sprechen können, dass man sie auch in der letzten Reihe des Burgtheaters versteht. Es ist eine Katastrophe, dass junge Leute in der Schauspielschule nicht einmal mehr sprechen lernen. Sie lernen den Umgang mit Mikroports. Wir werden verwechselbar mit dem Fernsehen. Wir geben unsere Einmaligkeit als Theaterleute auf."

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Interessant finde ich ja auch, lieber Bertarido, dass er für die lokalen, feststehenden Ensembles plädiert. Die prägen letztlich bei uns die Theaterkultur.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich hatte die Zeitung (WAZ) schon neben dem Computer liegen, um die wichtigsten Sätze Peymanns zu zitieren, da sehe ich diesen thread: zum Glück bis du mir zuvorgekommen. Einige Sachen möchte ich ergänzen (alles Peymann-Zitate):
    -Modern ist veraltet (nach Brecht)
    -Die Abschaffung des Könnens
    -Meine Regiekollegen glauben, dass sie selbst die größeren Dichter sind. Eine bedrohliche Fehleinschätzung.
    -Journalisten haben das Theater längst aufgegeben, die Theaterberichterstattung ist völlig minimalisiert.
    -Jedes zweite Stück auf deutschen Spielplänen hat einen englischen Titel. Wir machen uns zu Sklaven... Wir sind Deutsche durch Sprache, nicht durch Krupp oder die Bildzeitung.


    Ich habe ja früher schon in einigen RT-threads, die in Frieden ruhen mögen, auf die Parallele zwischen den Entwicklungen im Sprechtheater und in der Oper hingewiesen; hier ist das auch mit Händen zu greifen.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich habe ja früher schon in einigen RT-threads, die in Frieden ruhen mögen, auf die Parallele zwischen den Entwicklungen im Sprechtheater und in der Oper hingewiesen; hier ist das auch mit Händen zu greifen.


    Lieber Pingel,


    Parallelen zwischen Entwicklungen im Sprechtheater und im Musiktheater gibt es sicherlich. Aber bei der Oper ist die Situation insofern eine andere, als die "Literatur" unangetastet bleibt, d.h. Musik und Dialoge werden unverändert wiedergegeben. Beim Sprechtheater beschränken sich viele Regisseure aber eben nicht darauf, ein vorgegebenes Stück in Szene zu setzen, sondern kürzen, stellen um, ergänzen durch Collagen fremder Texte und Videos, "reichern" den Dialog mit distanzierenden Kommentaren an etc. Das sich postdramatisch nennende Theater hält es für unmöglich, spielend und sich verwandelnd eine dramatische Handlung auf die Bühne zu bringen. Das ist jedoch genau das, was für mich und offenbar auch für Peymann den Kern des Theaters ausmacht. Bei aller Offenheit für moderne Inszenierungen verlieren bei solchen Dekonstruktionen die Stücke für mich jeden Reiz.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Das Problem heutigen Theaters mag sien, daß das sogenannte Bildungbürgertum-Publikum weitgehend ausgefallen ist, und die heutigen nachfolgenden Generationen nur in den seltensten Fällen über das verfügen, was man früher "humanistische Bildung" oder von mir aus "humanistische Allgemeinbildung" nannte. Damit werden zahlreiche Stücke weitgehend unspielbar. (Shakespeare mag hier als eine der wenigen Ausnahmen gelten, seinen Stücken haftet irgendwie etwas unzerstörbares, Zeitloses an) Bei Opern sind Musik und Stimmen noch ein gewisser Kitt, der indes dem Sprechtheater völlig abgeht.
    Regisseure von heute wollen vor allem sich selbst profilieren und ihre Ideen unter die Leute zu bringen. Es ist kein Gegeimnis, daß sie das nur unter dem Schutzmantel gerühmter Autoren können, denn - von einer kleinen Minderheit abgesehen würde niemand in von ihnen geschriebenen Stücke gehen. Theater hat leider in der "Gesellschaft" - oder was man heute als solche bezeichnet - an Stellenwert verloren. Das 20. und 21, Jahhundert hat hier durch Voranschreiten anderer Medien und Unterhaltungsformen einen kaum abschätzbaren Schaden angerichtet - und die Mehrheit der "Gesellschaft" wird leider nicht Notiz davon nehmen - ja es nicht einmal bemerken.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Zitat von Bertarido: Aber bei der Oper ist die Situation insofern eine andere, als die "Literatur" unangetastet bleibt, d.h. Musik und Dialoge werden unverändert wiedergegeben.

    Und das gerade finde ich das Verruchte an der Regie: Die Regisseure glauben sich - ebenso wie im Theater - erhabener als Textdichter und Komponist und glauben daher, die Handlung nach ihrem Gutdünken verunstalten zu dürfen. Da sie aber keine eigenen Ideen für Text und Musik haben, missbrauchen Sie eben die ursprünglichen Komponisten und deren Werktitel (weil der der Zuschauer die vielleicht kennt und das echte Werk liebt und erwartet) und deren Texte und Noten, von denen sie oft überhaupt keine Ahnung haben und die sie - wie einige Aussagen beweisen - nicht einmal interessieren. Deshalb treffen für mich die Worte:
    "- Meine Regiekollegen glauben, dass sie selbst die größeren Dichter sind. Eine bedrohliche Fehleinschätzung."
    sinngemäß in gleicher Weise auf die - leider meisten - Opernregisseure zu. Es gibt nur noch wenige, die nicht Egoisten sind und noch Achtung vor dem Werk haben.



    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Aber bei der Oper ist die Situation insofern eine andere, als die "Literatur" unangetastet bleibt, d.h. Musik und Dialoge werden unverändert wiedergegeben.


    Selbst das ist heute keineswegs immer der Fall. Ich erinnere an den hannoverschen "Freischütz", in dem jede Menge Text hinzuerfunden wurde und aus dem Samiel eine völlig neue und in keinster Weise in den Kontext passende Figur wurde. An der DOB hat morgen eine "Entführung" Premiere, in der der Bassa Selim von einer Frau gespielt wird, um das Stück durch eine homoerotische Versuchung Konstanzes "spannender" zu machen. Auch für diesen weiblichen Bassa wurde nach Aussage des Regisseurs eine ganze Menge Text hinzuerfunden. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.
    Kleine Anmerkung: Ins Sprechtheater gehe schon lange nicht mehr. Gründe: s.o.


    Viele Grüße


    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Liebe Mme Cortese,


    ins Sprechtheater gehe ich auch schon lange nicht mehr (obwohl ich selbst einmal als Amateur im Sprechtheater, allerdings mit weniger bekannten Stücken von Brecht, Frisch, Dürrenmatt usw. mitgemacht habe) Der Gang in professionelle Theater war für mich beendet, als unsere guten Klassiker, die ich fast alle in meiner Schulzeit kennen gelernt habe, so wüst verschandelt wurden. Und zur Oper hast du ja einige Beispiele genannt - es gibt weit mehr - in denen nicht nur erhebliche Eingriffe in die Handlung, sondern von den Regisseuren auch Texte und Personen hinzuerfunden wurden und die eigentliche Handlung völlig verdreht wurde, wie jetzt z.B. auch hier in Köln bei der Lucia di Lammermoor Inzest zwischen Lucia und ihrem Bruder und der Mord an Arturo sowie der Selbstmord Enrico im gemeinsamen Bett mit seiner Schwester hinzuerfunden wurde. Das ist für mich auf keinen Fall mehr die Lucia von Donizetti, auch wenn dessen Musik und eventuell die zugehörigen Texte missbraucht wurden und das Werk unter dem Titel deklariert wurde, damit das dumme und teilweise uninformierte Volk glauben solle, es gäbe tatsächlich die echte Lucia.
    Leider genügen häufig auch nicht die Vorabinformationen, um sich ein Bild zu machen, was tatsächlich auf der Bühne verbrochen wird. Man kann also das Wagnis, sowohl ins Sprechtheater als auch in die Oper (die später diesen Unsinn nachvollzogen hat) zu gehen, heutzutage kaum mehr eingehen. Im Fernsehen hat man wenigstens noch den Ausschaltknopf.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Das ist die Überschrift der Kritik der "Maria Stuart" in Essen, abgedruckt in der WAZ vom 27.6.2016, geschrieben von meinem Lieblingskritiker Lars von der Gönna, der in Essen nicht nur der Kulturkritiker, sondern auch der Gastrokritiker ist, dazu sehr witzig schreibt. Eine gute Mischung.
    Ich zitiere jetzt einfach einige Abschnitte wörtlich. Es ist ja sonnenklar, dass alles, was er schreibt, auch von uns schon für das RT vorgebracht wurde. Im Theater haben sie offensichtlich schon länger die Nase voll von dem ganzen Quatsch.
    "Es regiert in Essen eine Regie, die alles besser weiß... Wozu auch Imagination, wenn man den Maschinenpark einer Tötung per Giftspritze auf der Bühne haben kann? Dazu Lady Maria im orangefarbenen Overall eines Todeskandidaten aus Florida. Und natürlich eine gewalttätig aufdringliche Videoprojektion, die zähes Gurgeln und Röcheln in extenso kultiviert. Es herrscht sehr wenig Vertrauen in dieses Stück... Die üblichen Performance-Krümel, die diesen Abend nicht würzen (Pop-Songs etc.) sind so wenig nachhaltig wie Bergmanns (die Regisseurin!) Bemühungen, den Stoff mit Kampfsport oder Sex aufzuladen. Elisabeth schätzt es, von Leicester von hinten versohlt zu werden. Sir Mortimer vergewaltigt Maria. Und natürlich steigt irgendwann jeder aus seiner Figur aus ('Seit den 70er-jahren wird meine Rolle...)."


    Die schlimmste Drohung steht unter der Kritik. "Termine: 2. und 7. Juli sowie in der nächsten Spielzeit

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)