Wie einem das Regietheater die Freude an der Oper nimmt

  • Wenn Hannover schon junges Publikum vom Freischütz ausschließt, weil es demselben nicht die Freude am Theater nehmen wolle, so ist dieses neue Thema mehr als berechtigt. Aus eigener leidvoller Erfahrung berichte ich, dass ich mir nach einem Besuch der von Hilsdorf in Ddorf inszenierten "Suor Angelica" die Freude an diesem werk komplett vergangen ist. Ich fand diese Produktion schlichtweg widerlich und die Bilder des blutigen Fötus haben sich mir ins Gedächtnis gegraben wie seinerzeit, als ich im Teenageralter "Orca, der Killerwal" sah und ebenfalls mit dem Brechreiz kämpfte beim Anblick des abgestoßenen Walfötus.


    Zum Leidwesen eines Freundes, der gerade diese Oper liebt, habe ich seitdem nie mehr Suor Angelica angehört. Und nun kommt es: Kölns ehemalige Primadonna Elsa Oehme-Förster ist auf einigen Schellacks zu hören - und was ist jetzt aufgetaucht? Richtig, ein Mitschnitt der 20er Jahre aus Köln von Schwester Angelika. Na, Prost Mahlzeit! Will sagen: Danke Herr Hilsdorf, dass Sie mir die Freude an diesem Werk komplett vermiest haben.


    Was bin ich froh, dass ich mir nie die unselige Rusalka im Inzestkeller angesehen habe oder den KZ-Tannhäuser. Sonst stünden diese Werke wohl auch auf meinem Index. Diese Lust am Schlechten, Bösen, am Dreck, an der Umkehrung und der das Gegenteil unterstellenden Hinterfragung von Gefühlen ist ein fast pathologisches Merkmal des Regietheaters. Alles unter dem Deckmantel der selbstbeweihräuchernden Feststellung: "Macht Euch nichts vor! Das Theater ist kein Wohlfühlbetrieb, es zeigt die Welt wie sie wirklich ist. Und wie sie wirklich ist, das wissen nur wir. Sie ist böse, schlecht und gemein. Das gilt es herauszuarbeiten. Je drastischer umso besser."


    Und wie das mit bösen Bildern ist. Sie brennen sich ins Gedächtnis. Ob man will oder nicht. In meinem Fall: Ich will nicht! Und deswegen haben sich meine Theaterbesuch von ca. 200 im Jahr auf zehn reduziert. Ich halte es wie Anneliese Rothenberger, die sagte: "Was soll ich mir meine Erinnerungen oder meine Empfindungen an bzw. von einem Werk zerstören lassen? Und sogar dafür noch bezahlen?"


    Welches sind Eure absoluten Horrotrips in Opernhäusern? Figarooo berichtete ja von einem entsetzlichen Nomoki-Abend in Zürich mit "Il puritani".

  • Zitat von Knusperhexe

    Alles unter dem Deckmantel der selbstbeweihräuchernden Feststellung: "Macht Euch nichts vor! Das Theater ist kein Wohlfühlbetrieb, es zeigt die Welt wie sie wirklich ist. Und wie sie wirklich ist, das wissen nur wir. Sie ist böse, schlecht und gemein. Das gilt es herauszuarbeiten. Je drastischer umso besser."


    Lieber Knuspi,


    zunächst einmal freue ich mich, dass auch du wieder kräftig mitmischst und unsere Opernriege unterstützt.
    Ich frage mich, wenn ich die ekelhaften Ergüsse manche Regisseure sehe oder von ihnen lese, manchmal, ob die Welt nur noch böse, schlecht und gemein ist und dies dann auch noch den Zuschauer eingepeitscht werden muss.
    Was du über das Zerstören jeglicher Freude an der Oper schreibst, empfinde ich in gleicher Weise. Ich gehe deshalb in keine Oper mehr, wenn ich mich nicht vorher eingehend davon überzeugt habe, dass es kein "Verunstaltungstheater" ist. Und das ist ja nur noch ein seltener Ausnahmefall. Auch im Fernsehen ist eine gescheite Inszenierung nur noch wie eine Stecknadel im Heuhaufen. Aber da kann ich abschalten, ehe mir das Kotzen kommt. Manchmal schalte ich auch garnicht mehr ein, wie z.B. vor zwei Wochen bei "Hoffmanns Erzählungen" aus Bregenz, wo ich zufällig die widerlichen Bilder der Vorschau gesehen habe. Mir wäre jeglich künftige Freude an dieser Oper vergangen, wenn ich noch mehr Bilder davon gesehen hätte. Diese Vorschau war abstoßend genug, um jemandem, der Hoffmanns Erzählung noch nicht aus besseren Zeiten kennt, jegliche Freude daran zu nehmen.
    Ich beschränke mich daher fast nur noch auf die DVD, solange es da noch vernünftige Inszenierungen gibt. Dazu habe ich mir jetzt einem Beamer gekauft, um diese auf größerer Leinwand und unter Hinzuschalten der Stereoanlage genießen kann.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Il Trittico hab ich schon öfters an der Rheinoper gesehen. Das Einzige was mich stört, ist das Gianni Schicci schon am Anfang kommt und nicht wie sonst am Ende. Mittlerweile sind die Inszenierungen von Herrn Hilsdorf konservativer geworden und am Freitag inszeniert er in Düsseldorf die Lustigen Weiber von Windsor.

  • Ich würde mir prinzipiell nicht die Freude an einer Oper durch eine noch so abseitige und schockierende Inszenierung nehmen lassen! Schließlich können Komponist und Librettist ja nichts dafür. Allerdings wähle ich auch sorgfältig aus, welche Inszenierung ich wahrnehme, und warte immer die Premieren-Berichterstattung ab, um die Risiken zu minimieren, in einer Inszenierug zu sitzen, die nur darauf aus ist, zu provozieren und zu verstören.
    Nichts gegen aufrüttelnde, intelligente, gegen den Stich gebürstete Inszenierungen, die den Vorgaben des Librettos auf originelle Weise gerecht werden - dem beliebigen, willkürlichen, nur noch entfernt an das Textbuch erinnernden Werk, das völlig verfremdet ist, und das mich in erster Linie befremdet, möchte ich mich jedoch auch nicht aussetzen.

  • Es geht ja nicht nur um die „bösen Bilder“ die sich einem „ins Gedächtnis brennen“ (Knusperhexe), - obwohl das ganz sicher ein relevanter Aspekt beim modernen Regietheater ist. Dort geht man offensichtlich davon aus, dass der heutige Opernbesucher eine vertrottelt-verschlafener und das musikalische Kunstwerk nur genießen wollender Spießer ist, der wachgerüttelt und zur Reflexion über die wahren Verhältnisse in seiner Lebenswelt genötigt werden muss.


    Der zweite wichtige Aspekt ist: Zumeist geht damit die zentrale musikalische Aussage des Werks verloren. Zu der Inszenierung von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ an der Deutschen Oper Berlin meinte der Kritiker der FAZ (Jan Brachmann), seine Ausführungen dazu (in denen das Orchester und die Sänger gelobt werden) am Ende zusammenfassend:
    „Alle Figuren sind bei García seelenleere Libertins. In die Verwirrung, die Mozart angesichts der Versuchung von Untreue und Verrat beschreibt, können sie nicht mehr geraten, weil sie das >Du und nur Du allein< der Liebe gar nicht kennen. Damit wird das ganze Stück in einem eminenten Maße sinnlos, so sinnlos wie die Projektion des Wortes >Lüge< mit Bildern zuckender Herzen zu Belmontes letzter Arie.“ (FAZ, 20.6.2016)


    Die Grundhaltung des Regisseurs Rodrigo García wird von seinem Marketingbeauftragten in – wie ich finde höchst bemerkenswerter und verräterischer Weise – mit den Worten beschrieben: „Seit nunmehr zwanzig Jahren legt Rodrigo García genüsslich den Finger in die Wunde“.

  • Es geht ja nicht nur um die „bösen Bilder“ die sich einem „ins Gedächtnis brennen“ (Knusperhexe), - obwohl das ganz sicher ein relevanter Aspekt beim modernen Regietheater ist. Dort geht man offensichtlich davon aus, dass der heutige Opernbesucher eine vertrottelt-verschlafener und das musikalische Kunstwerk nur genießen wollender Spießer ist, der wachgerüttelt und zur Reflexion über die wahren Verhältnisse in seiner Lebenswelt genötigt werden muss.

    Ist nicht das, lieber Helmut, genau die Haltung, die viele Opernfreunde in diesem Forum einnehmen? Es wird immer wieder betont, dass man den schönen Gesang in der Oper genießen wolle, in schöner historischer Kulisse und mit üppigen Kostümen, und dass man in der Oper mit politischen oder sozialen Anspielungen auf die Gegenwart verschont werden möchte. Das Leben / die gegenwärtigen Verhältnisse etc. seien schon schlimm genug, da wolle man wenigstens in der Oper etwas Schönes hören und sehen. Ich nenne das Eskapismus und kann Regisseure sehr gut verstehen, die sich dieser Rezeptionshaltung bewusst verweigern.



    Die Grundhaltung des Regisseurs Rodrigo García wird von seinem Marketingbeauftragten in – wie ich finde höchst bemerkenswerter und verräterischer Weise – mit den Worten beschrieben: „Seit nunmehr zwanzig Jahren legt Rodrigo García genüsslich den Finger in die Wunde“.

    Wir mögen da unterschiedlicher Meinung sein, aber ich empfinde es es als eine der vornehmsten Aufgaben von Theater, den Finger in Wunden zu legen. Die Frage sind dann nur: Macht er es gut? Und wird er den Werken, die er auf die Bühne bringt, damit gerecht?

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ich nenne das Eskapismus und kann Regisseure sehr gut verstehen, die sich dieser Rezeptionshaltung bewusst verweigern.


    Lieber Bertarido, ich denke schon, dass ich Dir folgen kann. Mir persönlich ist klar geworden, dass sich Oper offenbar nicht mehr "in schöner historischer Kulisse und mit üppigen Kostümen" auf die Bühnen bringen lässt. Obwohl es immer auch Inszenierungen gibt, die in eine solche Richtung gehen. Es ist durchaus nicht immer und grundsätzlich so wie bei der neuen "Entführung" in Berlin. Zufällig lebe ich hier. In einer Stadt wie dieser hat man gar keine Chance, eskapistischen Neigungen nachzuhängen. Wenn man das denn wollte. Die Stadt ist für sich genommen schon sehr hart und gnadenlos. Genau Beschreibungen spare ich mir. Ein Überleben hier halte ich auf Dauer nur für möglich, wenn man sich diesen Realitäten stellt und sie als Normalität akzeptiert. Wo sollte man auch hin? Also, die Menschen, die hier leben, kennen sich gut aus mit der Wirklichkeit. Sie stolpern ja ständig darüber. Und wir lesen ja auch Zeitungen, sind bestens informiert, in alle möglichen Richtungen vernetzt, bekannt und befreundet und hoffentlich gut genug gewappnet für das, was noch kommt. Nun kann es auch mir passieren, dass ich mich in eine Theatervorstellung verfüge. Was erwartet mich im schlimmsten Fall? Eine zum Teil erbarmungslose Belehrung in Bildern und Gesten über die Wirklichkeit, die ich ja nicht verstehe, der ich mich angeblich verweigere, die ich erklärt bekommen muss. Ich kann es manchmal nicht mehr sehen und nicht mehr hören. Deshalb gehe ich kaum mehr hin. Ich glaube auch nicht an die Wirkung des Theaters. Es wird nichts verändern. Keine noch "gutern" Menschen aus uns machen. Im Publikum sitzen doch ohnehin meist jene, die ES schon wissen. Nach meinem Eindruck hat das Theater von heute zumindest in den Großstädten die Tendenz zum unverstellten Slumming in sich. Man gönnt sich eine Nase virtuellen Sumpf, Elend und Gestank und amüsiert sich anschließend beim Lieblingsitaliener und preist den Duft des Espressos.


    Man kann Menschen auch mit Wirklichkeit erschlagen. Diese Sorge treibt mich um. Was soll und kann Theater heute? Ich weiß es nicht. Zunehmend interessiert es mich auch nicht mehr so sehr.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent


  • Ist nicht das, lieber Helmut, genau die Haltung, die viele Opernfreunde in diesem Forum einnehmen? Es wird immer wieder betont, dass man den schönen Gesang in der Oper genießen wolle, in schöner historischer Kulisse und mit üppigen Kostümen, und dass man in der Oper mit politischen oder sozialen Anspielungen auf die Gegenwart verschont werden möchte. Das Leben / die gegenwärtigen Verhältnisse etc. seien schon schlimm genug, da wolle man wenigstens in der Oper etwas Schönes hören und sehen. Ich nenne das Eskapismus und kann Regisseure sehr gut verstehen, die sich dieser Rezeptionshaltung bewusst verweigern.


    Wobei andererseits auch das nur genießen Wollen, dass seine schöne Gardrobe ausführen wollen und das keine Ahnung von Werk und Gesang haben - mit anderen Worten das nur genießen Wollen - dann auch wieder nicht der wahre Jakob zu sein scheint, wie in verschiedenen Beiträgen in QUO VADIS, OPERA? - Versuch einer Diagnose des Opernbetriebs nachzulesen ist. Mir kommt es inzwischen ein wenig so vor, als wird da ein hinreichend unspezifisches Bild des Opernbesuchers jeweils so hingedreht, wie es argumentativ gerade passt ...

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Du fragst mich, lieber Bertarido: „Ist nicht das (…) genau die Haltung, die viele Opernfreunde in diesem Forum einnehmen?"


    Das ist eine hochinteressante Frage, wie ich finde. Sie führt mitten hinein in die Diskussion, die hier im Forum schon so lange und intensiv und kontrovers in diesem Forum geführt wird. Nur: Ich bin nicht der Adressat dafür. Du solltest sie, denke ich, an die richten, die Du damit ansprichst.
    Ich habe sie mir selbst gestellt, als ich – als nicht Kompetenter – diesen kleinen Beitrag hier einstellte. Und der Grund:
    Der Thread enthält als zentralen Begriff das Wort „Freude an der Oper“. Ich habe mich gefragt: Was meint Knusperhexe eigentlich damit? Meint er das, was Du ansprichst, Bertarido?
    Oder ist „Freude“ nicht doch mehr?


    Mehr in dem Sinne, dass dieser Begriff „Freude“ nicht den vordergründigen Genuss von schönem Gesang, prächtigem Bühnenbild und historischer Kostümierung beinhaltet, sondern vielmehr das benennt, was sich aus der Begegnung mit der musikalischen und künstlerischen Aussage des jeweiligen Werkes ergibt. Einer Aussage, der man so, wie man sie aus der bereits vorhandenen Kenntnis eben dieses Werkes – und die ist beim erfahrenen Opern-Besucher ja gegeben – beim Besuch einer Neu-Inszenierung mitbringt, in vielen Fällen moderner Opernregie nicht begegnet, weil sie nicht mehr erfahr- und erlebbar ist.


    Ich reiche diese Frage „Was beinhaltet der Begriff >Freude an der Oper<?“ an diejenigen weiter, die diesbezüglich wirklich kompetent sind, weil sie über entsprechende Rezeptions-Erfahrung verfügen.

  • Was soll und kann Theater heute? Ich weiß es nicht. Zunehmend interessiert es mich auch nicht mehr so sehr.


    Auch, wenn es dich nicht mehr so sehr interessiert, lieber Rheingold1876, möchte ich die Frage kurz aufgreifen und kommentieren - ich schreibe bewußt nicht von "beantworten": Streicht man das "heute", so stellst Du natürlich die Kernfrage des Theaters oder vielleicht der Kunst in ihren vielfältigen Formen überhaupt. Und setzt man das "heute" wieder ein, stellt sich die Gegenfrage, ob Theater denn früher mehr konnte? Und falls ja, was eigentlich und wie? Da ich nicht glaube, dass es hier wirklich allgemeingültige Antworten gibt, halte ich persönlich es lieber mit JFK und frage mich, was Theater, Oper, Literatur etc. mit mir machen? Die Antwort ist dann aber einfach, denn die Beschäftigung damit bereitet mir Freude, es regt mich zum Denken an, es fordert auch meinen Widerspruch und es führt zu regem Austausch in meinem engeren Freundeskreis, der da wohl ähnlich gepolt ist.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

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  • Lieber Helmut,


    bezüglich deiner letzten Frage kann ich nur für mich sprechen. Freude an de Oper bedeutet für mich in erster Linie den Gesang zu genießen, da für mich die Inszenierung zweitrangig ist. Was Inszenierungen angeht da finde ich es interessant, immer wieder neue Dinge zu entdecken, wenn man häufiger in die Oper geht. Denn wenn man nur in die Premiere besucht, versteht man häufig beim ersten hinschauen die Inszenierung nicht. Des weiteren macht es mir Freude, die Entwicklung von Ensemble Sängern zu beobachten. Zum Beispiel von Corby Welch, der am Anfang häufig Mozart gesungen hat und jetzt ein gefragter Wagner-Tenor ist. Außerdem habe ich festgestellt, dass es manchmal besser ist, wenn man nicht mit allzu hohen Erwartungen in die Oper geht, sondern sich einfach überraschen lässt.

  • Ist nicht das, lieber Helmut, genau die Haltung, die viele Opernfreunde in diesem Forum einnehmen? Es wird immer wieder betont, dass man den schönen Gesang in der Oper genießen wolle, in schöner historischer Kulisse und mit üppigen Kostümen, und dass man in der Oper mit politischen oder sozialen Anspielungen auf die Gegenwart verschont werden möchte. Das Leben / die gegenwärtigen Verhältnisse etc. seien schon schlimm genug, da wolle man wenigstens in der Oper etwas Schönes hören und sehen. Ich nenne das Eskapismus und kann Regisseure sehr gut verstehen, die sich dieser Rezeptionshaltung bewusst verweigern.


    Lieber Bertarido,


    ich kann ja nur für mich sprechen, aber die Tatsache, dass ich gerne die Vorgaben des Librettos möglichst eng umgesetzt sehen will, und daher befürworte, wenn die Oper an dem Ort und zu der Zeit spielen, die im Libretto angegeben ist, heißt jedoch nicht, dass ich nur "Friede Freude Eierkuchen" und ein Happy End sehen will, rosa Plüsch und gefälligen Gesang, wie es vielleicht die seichteste Operette bietet (wobei auch nicht jede Operette seicht ist, ganz und gar nicht).


    Nein, natürlich gibt es auch in "alten" Opernstoffen harte Konflikte, menschliches Leid, Mord, Intrigen und Verrat - das ist zum Teil auch schon schwere Kost, und nicht dazu geeignet, den Zuhörer nur einzulullen - allerdings möchte ich schon, dass die Aida in Ägypten zur Pharaonenzeit spielt, und dass ich mir dann selbst überlegen kann, ob ich Parallelen zum heutigen Ägypten, zum Dritten Reich, dem Berlin des 21. Jahrhunderts, oder was auch immer ziehe.


    Das hat dann nichts mit Eskapismus zu tun - mir geht es dann nicht nur um rauschende Nilfluten und wehende Palmenwipfel als malerische Kulisse - nein, ich sehe dann schon auch in erster Linie den Konflikt von Liebe und Eifersucht, von Krieg, Hass, Verrat und Intrige, und mache mir da ganz viele Gedanken, inwiefern dieses historische Gemälde allgemein menschliche Phänomene widerspiegelt und auch für unsere Zeit und Gesellschaft bedeutungsvoll ist.


    Was ich jedoch nicht mag, ist, wenn das Libretto mit Füßen getreten wird - da singt dann einer von Pharaonen und äthiopischen Königstöchtern, läuft dann aber als Nazi, Nutte oder Zuhälter verkleidet durch eine Landschaft des 21. Jahrhunderts - das finde ich dann einfach unpassend und albern - das hat aber mit Eskapismus nichts zu tun.


    liebe Grüße

  • Ich reiche diese Frage „Was beinhaltet der Begriff >Freude an der Oper<?“ an diejenigen weiter, die diesbezüglich wirklich kompetent sind, weil sie über entsprechende Rezeptions-Erfahrung verfügen.

    Lieber Helmut, auf diese Frage wird es hier sehr verschiedene Antworten geben. Die einen wollen sich in erster Linie am schönen Gesang erfreuen und nicht von einer Inszenierung ablenken lassen. Andere (zu denen ich mich zähle) verstehen Oper als Musiktheater und wollen ein Werk in immer wieder neuen Deutungen erleben, schätzen die Anknüpfung an Themen, die aktuell die Welt bewegen. Und sie wollen sich im Theater erschüttern, bewegen und verstören lassen.



    Mehr in dem Sinne, dass dieser Begriff „Freude“ nicht den vordergründigen Genuss von schönem Gesang, prächtigem Bühnenbild und historischer Kostümierung beinhaltet, sondern vielmehr das benennt, was sich aus der Begegnung mit der musikalischen und künstlerischen Aussage des jeweiligen Werkes ergibt. Einer Aussage, der man so, wie man sie aus der bereits vorhandenen Kenntnis eben dieses Werkes – und die ist beim erfahrenen Opern-Besucher ja gegeben – beim Besuch einer Neu-Inszenierung mitbringt, in vielen Fällen moderner Opernregie nicht begegnet, weil sie nicht mehr erfahr- und erlebbar ist.

    Auch mir geht es um diese musikalische und künstlerische Aussage. Nur erschöpft sich diese meiner Überzeugung nach nicht in der vordergründigen Handlung des Librettos, weswegen ich alle Forderungen nach einer buchstabengetreuen Umsetzung für grundsätzlich verfehlt halte. Es ist gerade die Aufgabe einer Inszenierung, genau diesen von Dir benannten künstlerischen Gehalt immer wieder aufs Neue herauszuarbeiten. Im Idealfall öffnet eine Aufführung dem Besucher die Augen, zeigt ihm Aspekte des Werks, die er bislang noch nie wahrgenommen hat. Jede Aufführung ist auch im Hinblick auf die szenische Umsetzung eine Interpretation, ebenso wie sie es im Hinblick auf die musikalische Seite ist. (Seltsamerweise ist das bei der Musik allgemeiner Konsens, während es bei der Inszenierung heftigst bestritten wird, das bekannte "Handwerker-Argument"). Und selbstverständlich ist jede Interpretation - musikalisch und szenisch - danach zu bewerten, ob sie dem Werk gerecht wird. Und wenn dies nicht der Fall ist, darf und soll sie kritisiert werden.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Nein, natürlich gibt es auch in "alten" Opernstoffen harte Konflikte, menschliches Leid, Mord, Intrigen und Verrat - das ist zum Teil auch schon schwere Kost, und nicht dazu geeignet, den Zuhörer nur einzulullen - allerdings möchte ich schon, dass die Aida in Ägypten zur Pharaonenzeit spielt, und dass ich mir dann selbst überlegen kann, ob ich Parallelen zum heutigen Ägypten, zum Dritten Reich, dem Berlin des 21. Jahrhunderts, oder was auch immer ziehe.


    Und genau da unterscheiden wir uns, lieber Don Gaiferos. Mich lenken historische Kulissen bei einer "Aida" gerade vom dem ab, worum es in der Oper eigentlich geht und was Du ja sehr treffend benannt hast. Das sind doch zeitlose Themen, und ich verstehe nicht, warum diese nicht in einer Form dargeboten werden können, die mir und wahrscheinlich auch der Mehrzahl der Zuschauer näher ist als das Ägypten der Pharaonen-Zeit. Was verliert die "Aida", wenn man sie in der Gegenwart ansiedelt, außer dem historischen Kolorit, das ich als bloßes Beiwerk betrachte?

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Lieber Bertarido,


    wir alle sind Kind unserer Zeit, und bei Kunstwerken ist es nicht anders, und ich finde es schön, wenn dieses Verwurzelung, dieses Erdreich, eben noch da ist, und ein Werk nicht abstrakt, losgelöst im luftleeren, überzeitlichen Vakuum schwebt. Dieses Lokalkolorit ist für mich nicht nur eine zufällige Färbung, sondern stellt einen wichtigen Bezugspunkt dar, um die Geschichte besser verstehen zu können. Natürlich kann ich zum Beispiel jedes Gesicht abstrahieren - zwei Augen, Nase, Mund- so sehen wir alle aus; aber gerade das Individuelle macht doch das Gesicht erst interessant, die Farbe und Form Deiner Augen zum Beispiel, die so und nicht anders sind, die anders sind als die meinen, und die Dich erst unverkennbar machen, genauso wie die meinigen mich.


    Daher meine ich schon, dass das zutiefst individuelle Gepräge, dass eine Oper durch die Verankerung in Raum und Zeit erhält, kein ablenkendes Beiwerk ist, sondern zur reizvollen Individualität einer Oper schon beitragen kann. Zumal Verdi diese Welt auch musikalisch in vielfacher Hinsicht aufgreift, was man durch eine geeignete Inszenierung eben unterstreichen - oder aber auch konterkarieren kann, was mir dann jedoch in aller Regel nicht gefällt, weil man dann m. E. sehr schnell im Reich der Sartire landet.


    liebe Grüße

  • Daher meine ich schon, dass das zutiefst individuelle Gepräge, dass eine Oper durch die Verankerung in Raum und Zeit erhält, kein ablenkendes Beiwerk ist, sondern zur reizvollen Individualität einer Oper schon beitragen kann.


    Ja, lieber Don Gaiferos, aber zu dieser Individualisierung des Werks gehört auch die individualisierende Beziehung auf das Publikum in Raum und Zeit - eben das zeitgenössische. Beides gehört zusammen. Für das Publikum des 19. Jhd. ist Ägypten ein Gegenwartsbezug, für das des 21. Jhd. nicht mehr.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat

    Für das Publikum des 19. Jhd. ist Ägypten ein Gegenwartsbezug, für das des 21. Jhd. nicht mehr.


    Der Verproletarisierung wegen ist das so - Aber wir sollten nicht unsere Standards so absenken, daß die historischen Inhalte von Kreti und Plethi verstanden werden können, sondern alle jene vom Kulturgeschehen aussperren, die nicht willens oder intellektuell nicht in der Lage sind, die Regeln zu begreifen und einzuhalten. Ansonsten finden wir uns alle dereinst in der Gosse wieder.


    In der Vergangenheit hat der Adel und später das Bürgertum, bzw Bildungsbürgertum ganz bewusst Schranken aufgestellt um sich von der Masse abzugrenzen - heute biedert man sich ihr an. Das gilt in vielen Bereichen des Lebens - nicht nur in der Oper.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Zitat von Bertarido: Das sind doch zeitlose Themen, und ich verstehe nicht, warum diese nicht in einer Form dargeboten werden können, die mir und wahrscheinlich auch der Mehrzahl der Zuschauer näher ist als das Ägypten der Pharaonen-Zeit.

    Lieber Bertarido,


    diese Mehrheit möchte ich doch arg bezweifeln. Nach meinen Erfahrungen und auch nach wissenschaftlichen Untersuchungen ist es genau umgekehrt!


    Lieber Don Gaiferos,


    auch wenn du in deinen Beiträgen 13 und 15 meinst, nur für dich sprechen zu können, so glaube ich doch, dass du für viele sprichst, nach meinen Erfahrungen für die überwiegende Mehrzahl der Zuschauer sprichst. Ich kann deine Worte nur voll unterstreichen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Für das Publikum des 19. Jhd. ist Ägypten ein Gegenwartsbezug, für das des 21. Jhd. nicht mehr.


    Lieber Holger,


    ja, das Publikum wandelt sich, aber ich glaube, es ist ein Irrtum, dass moderne Menschen nur Modernes mögen! Auch ich sehe mich als durchaus modernen Menschen, de mit größter Selbstverständlichkeit moderne Medien nutzt - wie die Teilnahme an diesem Form ja beweist- :D aber dennoch besitze ich nicht nur moderne Möbel, lese nicht nur zeitgenössische Bücher, besichtige im Urlaub nicht nur moderne Wolkenkratzer...


    Natürlich können auch moderne Menschen durchaus Zugang zu alten Dingen haben, ohne dass sie dadurch nur rückwärtsgewandte Nostalgiker wären: und wenn mir als moderner Mensch Mozart näher steht als John Cage, und Goethe näher als Houellebecq, so zeigt sich doch, dass es durchaus sein kann, dass moderner nicht automatisch besser heißt - gerade im Feld der Künste ist dies sicher nicht so.


    Und alt heißt nicht automatisch altbacken; man kann auch spannende, aufregende Inszenierungen finden, die sich an das Libretto strikt halten und dennoch neue Sichtweisen und Interpretationsansätze liefern, finde ich. Mag sein, dass dies sogar schwerer ist als wenn ich ganz einfach frei von jedem Zwang beliebig alle Parameter verändern kann - aber umso mehr finde ich diese Leistung dann bewundernswert.


    Ich finde, man sollte für Altes und Neues offen sein: aber das Alte zu modernisieren bringt meiner Meinung nach weniger, als sich tatsächlich mit neuer Musik auseinanderzusetzen, die unsere Jetzt-Zeit thematisiert, wenn man denn moderne Bezüge auf der Bühne haben möchte.

  • Natürlich können auch moderne Menschen durchaus Zugang zu alten Dingen haben, ohne dass sie dadurch nur rückwärtsgewandte Nostalgiker wären: und wenn mir als moderner Mensch Mozart näher steht als John Cage, und Goethe näher als Houellebecq, so zeigt sich doch, dass es durchaus sein kann, dass moderner nicht automatisch besser heißt - gerade im Feld der Künste ist dies sicher nicht so.

    Lieber Don Gaiferos,


    ist es nicht so, dass unser Bezug zu Mozart, Wagner, Debussy oder Gubaidulina der Bezug überhaupt ein zeitloser ist? Spielt da überhaupt noch eine Rolle, wann sie geboren sind? Macht nicht das gerade die Anziehungskraft von ihnen aus, dass wir die Zeit bei dieser Musik völlig vergessen können?



    Ich finde, man sollte für Altes und Neues offen sein: aber das Alte zu modernisieren bringt meiner Meinung nach weniger, als sich tatsächlich mit neuer Musik auseinanderzusetzen, die unsere Jetzt-Zeit thematisiert, wenn man denn moderne Bezüge auf der Bühne haben möchte.

    Bei der Oper liegt das Problem letztlich daran, dass nach dem Selbstverständnis des Komponisten eine Theateraufführung keinen anderen Sinn hat, als für das "Hier und Jetzt" geschaffen zu werden. Beispiel Wagner, der schreibt von dem


    "Bedürfnis nach dem stets neuen, immer der Gegenwart unmittelbar entsprungenen und ihr allein zugehörigen Kunstwerk der Zukunft".

    Was passiert also, wenn man so ein Kunstwerk hundert oder zweihundert Jahre später aufführt? Wagner verwahrt sich ausdrücklich gegen die Vorstellung von "zeitloser" Kunst. Da geht das Dilemma schon los. Denn so gibt es eigentlich nur drei Möglichkeiten: man hebt a) entweder doch auf einen zeitlosen Kern ab, d.h. man typisiert (was Bertarido meinte), oder b) die Aufführung wird tatsächlich nostalgisch, dann ist sie nicht mehr "der Gegenwart unmittelbar entsprungen" oder c) man modernisiert. Alle drei Möglichkeiten sind der Versuch mit einem Dilemma umzugehen, das im Prinzip unlösbar ist, eine Unmöglichkeit darstellt, etwas Unaufführbares doch aufzuführen. Insofern ist das, was ein Regisseur heute eigentlich macht, egal welche der drei Möglichkeiten er wählt, streng genommen immer falsch. :D Aber haben wir eine andere Wahl, um irgendwie einer solchen Kunst gerecht zu werden und sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen? Liegt darin nicht auch eine große Chance? :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Genau das sagt mein Bekannter immer der als Regisseur arbeitet : Egal wie du es machst, es ist immer falsch. Inszeniert man konventionell, bekommt man von der Presse nicht so viel Aufmerksamkeit. Und wenn man modern inszeniert , wird man zwar von der Presse gelobt, aber man verschreckt damit das Publikum ab 60 aufwärts. Er hat vor einigen Jahren einen sehr schönen konventionellen Andrea Chenier in Dortmund inszeniert, da bekam er dann zu hören, das es zwar eine schöne Inszenierung sei, aber man würde keine eigenen Ideen des Regisseurs erkennen.

  • Und wenn man modern inszeniert , wird man zwar von der Presse gelobt, aber man verschreckt damit das Publikum ab 60 aufwärts.


    "Ab 60 aufwärts" ist wohl Wunschdenken. Behaupte ich mal, der ich deutlich darunter bin.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Don Gaiferos,


    wiederum volle Zustimmung zu deinem Beitrag Nr. 19, den ich hier nicht voll zitieren möchte.
    Jetzt werden wiederum die wenigen auftreten, die eine mundgerechte (egal wie verunstaltet!) Inszenierung für sich fordern, weil sie in der Historie nicht mehr bewandert sind und daher nicht mehr in der Lage sind, einen Bezug auf die Gegenwart herzustellen. Es muss alles nur in unserer Umwelt spielen, die meist übertrieben schlecht dargestellt wird. Mich wundert allerdings, dass sie noch bis zu den Nazis zurückdenken können, denn die sind doch - jedenfalls in der Form - auch längst überholt (allerdings gibt es leider neue Formen).
    Und wenn es nicht völlig in die Moderne passt, wird eben vieles hinzuerfunden. Ob das zur Handlung, zum Text und zur Musik passt, interessiert einfach nicht.
    Und diese starr im Zeitgeist Gefangenen fragen auch nicht, ob diese für einzelne Bedürftige "mundgerecht" gemachten, schwer verdaulichen Brocken der Mehrheit schmecken.

    Zitat

    Zitat von Joseph II: "Ab 60 aufwärts" ist wohl Wunschdenken. Behaupte ich mal, der ich deutlich darunter bin.

    Lieber Joseph,
    nicht nur du. Viele, die hier gegen die Verunstaltungen schrieben und noch schreiben, sind - wie ich aus den Vorstellungen und aus persönlichen Kontakten weiß, erheblich unter 60, ich möchte sogar behaupten, die Mehrheit von ihnen. Diese Behauptung des von Rodolfo angeführten Regisseurs ist also schlichtweg falsch. Allerdings sind es vielfach die über 60jährigen, die Opern noch zu schätzen wissen. Aber nicht nur diese, sondern eben auch weit jüngere hat man inzwischen aus den Opernhäusern vertrieben.


    Diese sowie die oben genannten Ausreden ziehen bei mir nicht.
    In einem allerdings mag der von Rodolfo angeführte Regisseur Recht haben: Die Regisseure scheinen eine Heidenangst vor der Presse zu haben, bei der ihrerseits viele Rezensenten glauben, sie müssten mit den Wölfen heulen und dem verrückten - teilweise auch von den Medien erzeugten - Zeitgeist huldigen. Es gibt nur noch wenige Regisseure, die "Flagge zeigen", sich mit dem Werk auseinandersetzen und es verstehen, dieses auch auszuführen, ohne es durch allerhand Irrsinn bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Also um auf Was-ist-Was-Buch-Niveau zu erkennen, in welcher altägyptischen Dynastie AIDA handeln soll braucht man kein Bildungsbürger zu sein... Erst recht nicht, um festzustellen, dass "drei weiße Wände" kein Pharaonengrab sind.


    Dass irgendjemand "zu ungebildet" sei, Aidas Kulissenägypten zu inszenieren (oder zu goutieren), ist ein kompletter Strohmann. Wenn überhaupt (und das scheinen mir ja u.a. die Bedenken von Stimmenliebhaber zu sein) ist die Oper "intellektualisiert" worden, nicht "proletarisiert". Denn gerade die kleinbürgerlichen, auf gesellschaftlichen Aufstieg bedachten Schichten (ich weiß das, weil ich ungefähr daher komme) werden von den radikalen Inszenierungen verprellt.


    Mit dem Alter hat es auch nicht so viel zu tun. Die erste Generation der "Skandalregisseure" ist heute näher an 80 als an 60, vermute ich mal (wenn sie überhaupt noch leben).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Mich wundert allerdings, dass sie noch bis zu den Nazis zurückdenken können, denn die sind doch - jedenfalls in der Form - auch längst überholt


    Wenn man das mal als ernst gemeint und nicht als Polemik nehmen würde, gäbe es eine recht einfache Methode, sich nicht mehr darüber wundern zu müssen: Indem man einfach das Vorhandensein von mehr Geschichtskenntnissen unterstellt und die Möglichkeit in Betracht zieht, dass ein Regisseur sich Gedanken über das Werk gemacht und ernsthafte künstlerische Absichten haben könnte.



    Und wenn es nicht völlig in die Moderne passt [...]


    Über Richard Wagner habe ich gelesen: »Sein eigenes Musikdrama ist für Wagner nun jenes ›absolute Kunstwerk‹. Allerdings wird durch seine Charakterisierungen einer räumlichen und zeitlichen ›Entrücktheit‹ deutlich, daß Wagner der Kunst doch nicht die in ihr sich vollziehende antikische Einheit mit der Gesellschaft zuweist, sondern einen von aller ›Realität‹ entfernten Ort im Reiche einer nebulösen ›Idealität‹. Diese solle nämlich dezidiert das Irrationale bzw. Gefühlsmäßige zu ihrem Wesen haben. Deshalb komme auch der Musik als dem ›reinen Ausdruck‹ und ›reinen Gefühl‹ die hervorragende Rolle zu.« (Christof Schalhorn: Die Bühnenform in den Wagner-Theatern in Bayreuth und München – kritische Beurteilung und Vergleich) Das würde ja bedeuten, dass zumindest im Fall Wagner das Beharren auf einer wörtlichen Umsetzung des Librettos den Intentionen des Komponisten überhaupt nicht gerecht werden muss.


    Die Regisseure scheinen eine Heidenangst vor der Presse zu haben


    Das kann natürlich auch eine Rolle spielen. Man sollte wohl jeden Einzelfall differenziert betrachten.

  • Mein Fehler: Ich hätte die Überschrift anders formulieren sollen. "Wie mir das Regietheater die Freude an der Oper nimmt" und eigentlich sollte das hier eine Sammlung an Abscheulichkeiten werden. ;(

  • "Mein Fehler"
    Das war kein "Fehler", Knusperhexe!
    Hättest Du den Thread so betitelt, wie Du es jetzt für angebracht hältst, - einer wie ich, der mit diesem Thema hier im Forum gar nicht befasst und diesbezüglich nicht kompetent ist, hätte sich gar nicht angesprochen und zu einem Beitrag animiert gefühlt.
    Das neutrale "einem" hebt die Thematik auf die Ebene der Allgemeingültigkeit. Und für mich warf der Thread auf diese Weise die Frage auf, worin eigentlich die "Freude" besteht, die er anspricht. Speziell: Ob sie sich gemeinhin, also im Fall eines kenntnisreichen und zur Reflexion des Erlebten bereiten Opernbesuchers, in der Haltung schieren Genusses von schöner Stimme und prächtiger und möglicherweise sich historisch gebender und nicht auf Gegenwartsrelevanz ausgerichteter Inszenierung erschöpft.
    Das eben mag ich nicht glauben.

  • »Sein eigenes Musikdrama ist für Wagner nun jenes ›absolute Kunstwerk‹. Allerdings wird durch seine Charakterisierungen einer räumlichen und zeitlichen ›Entrücktheit‹ deutlich, daß Wagner der Kunst doch nicht die in ihr sich vollziehende antikische Einheit mit der Gesellschaft zuweist, sondern einen von aller ›Realität‹ entfernten Ort im Reiche einer nebulösen ›Idealität‹. Diese solle nämlich dezidiert das Irrationale bzw. Gefühlsmäßige zu ihrem Wesen haben. Deshalb komme auch der Musik als dem ›reinen Ausdruck‹ und ›reinen Gefühl‹ die hervorragende Rolle zu.« (Christof Schalhorn: Die Bühnenform in den Wagner-Theatern in Bayreuth und München – kritische Beurteilung und Vergleich)

    Lieber Dieter,


    diese hermeneutischen Schablonen hören sich für mich leider eher so an, dass da einer von Wagner nicht unbedingt viel verstanden hat. "Nebulöse Idealität"! Als ob Wagner Feuerbach nie gelesen hätte und der Autor Wagners Schriften nicht. Das "absolute Kunstwerk" ist gerade das, was Wagner mit Feuerbach rigoros ablehnt.. :D


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Zitat

    Zitat von Knusperhexe: Mein Fehler: Ich hätte die Überschrift anders formulieren sollen. "Wie mir das Regietheater die Freude an der Oper nimmt" und eigentlich sollte das hier eine Sammlung an Abscheulichkeiten werden.

    Lieber Knuspi,


    das war kein Fehler, denn nicht nur dir, sondern vielen von uns und einer großen Menge Leute verdirbt das sogenannte "Regietheater", mit dem man die heutigen Verunstaltungen der Oper fälschlicher Weise und beschönigen benennt, die Freude an der Oper und vertreibt uns aus den Opernhäusern. Hättest du nur von dir gesprochen, wären wir wohl nicht in das Thema, das uns allen wie ein Stein auf den Herzen liegt, eingestiegen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

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