BRAUNFELS, Walter: DIE VÖGEL

  • Walter Braunfels (1882-1954):


    DIE VÖGEL
    Lyrisch-phantastisches Spiel in zwei Akten mit einem Vorspiel
    Libretto vom Komponisten nach der Komödie „Ornithes“ von Aristophanes


    Uraufführung am 30. November 1920 im Nationaltheater München



    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Bürger Hoffegut, Tenor
    Bürger Ratefreund, Bass
    Stimme des Zeus, Bariton
    Prometheus, Bariton
    Wiedehopf, einst Mensch, jetzt König der Vögel, Bariton
    Nachtigall, hoher Sopran
    Zaunschlüpfer, Sopran
    1. Drossel, hoher Sopran
    2. Drossel, tiefer Sopran
    3 Schwalben und 2 Meisen, Soprane
    4 Wendehälse, Tenöre
    2 Kibitze, Bässe
    Adler, Bass
    Rabe, Bass
    Flamingo, Tenor
    Tauben, Grasmücken, Kuckucke, Spechte, Ibisse, Kraniche, Störche, Enten und andere Vögel
    Stimmen der Winde und der Blumendüfte
    Die Tanzszene bestreiten Taube und Täuberich


    Im Märchenland zur Märchenzeit.



    INHALTSANGABE


    VORSPIEL
    Geschlossener Vorhang, der ein wenig zur Seite gezogen wird, wodurch die auf einem Baum sitzende Nachtigall sichtbar wird.


    Die Nachtigall wundert sich zunächst über das volle Opernhaus, preist dann aber kokett das Reich der Vögel als Hort der Freude und bedauert die Anwesenden, die jeden Tag Stress erleben und nie den Himmel sehen können. Doch ist es im Reich der Gefiederten wirklich so schön? Die Nachtigall traut ihrer eigenen Aussage wohl selbst nicht so recht, denn sie stockt:


    Und doch sing ich sehnsuchtsvoll, mich sehnend - wonach denn?
    Ach! aus mir heraus, ach, über mich hin, je weiter ich seh, wer wüsste es nicht,
    wer bringt zu schweigen die süße Qual? - Wer? - Ach!


    ERSTER AKT
    Felsige Berggegend mit viel Gebüsch, aber wenigen Bäumen zur Mittagszeit.


    Zwei Bürger, Hoffegut und Ratefreund, kommen über die Felsen geklettert; beide haben Vögel bei sich, Hoffegut eine Dohle, Ratefreund eine Krähe. Diese tierische Begleitung soll ihnen, so hat es der Vogelhändler versprochen, den Weg zum Königreich der Vögel finden helfen. Aber genau daran haben die zwei Kletterer inzwischen Zweifel: Sie kraxeln bergauf, bergab, über Geröll und Felsen, haben wunde Füße und werden von den Biestern auch noch ständig gezwickt und gezwackt. Doch das Vogelreich können sie nicht sehen.


    Hoffegut und Ratefreund lassen sich müde nieder und sinnieren über ihr Vorhaben (und informieren damit gleichzeitig das Publikum): Der eine, Ratefreund, ist das Leben in der Stadt satt, weil dort die „holde Kunst entartet“ ist. Das Vogelreich dagegen scheint ihm der ideale Lebensraum zu sein, denn dort blüht die Kunst, was man stets am süßen Gesang der Bewohner hören kann. Aber nun sitzen sie fest und Ratefreund sieht sich schon verhungern und vermodern. Hoffegut geht es nicht um Kunst, er hatte Ärger mit dem weiblichen Geschlecht, fühlte sich nicht gebührend beachtet. Auch er glaubt, bei den Gefiederten eher ein „zartes Liebchen“ zu finden, als bei den Menschen. Außerdem sind die Vogelweibchen schöner als jede menschliche Maid und - vor allem - nicht so boshaft.


    Jetzt wird Hoffegut durch seine aufgeregt umher flatternde und kreischende Dohle aufmerksam und schließt daraus, dass sie möglicherweise nahe am Ziel sind. Und tatsächlich kommt ein neugieriger Zaunschlüpfer um die Ecke - und weicht sofort erschrocken zurück: Was wollen die Vogelhändler hier? Er muss dringend alle Gefiederten warnen! Aber auch Hoffegut und Ratefreund ist nicht wohl in ihrer Haut - auch sie ziehen sich erst einmal zurück. Doch letztlich obsiegt beim Vogel als auch bei den beiden Wanderern die Neugierde: Hoffegut fängt sich als erster und erklärt, überzeugend in seiner Lüge, kein Mensch, sondern ein seltener Vogel aus Afrika, Ängstling genannt, zu sein. Auch Ratefreund lügt das blaue vom Himmel und behauptet ein Hosenkakadu aus dem Fasanenland zu sein. Nun muss sich aber auch der Zaunschlüpfer den beiden erklären und so erfahren sie, dass sie im Vogelreich sind, dass die Vögel einen König, den Wiedehopf, haben, der im früheren Leben ein Mensch war und dem er als Kammerdiener angenommen diene.


    Das ist für Hoffegut und Ratefreund eine gute Nachricht und sie bitten den Zaunschlüpfer, dass er sie zum König bringt. Der Kammerdiener Zaunschlüpfer hat Bedenken, denn der Herrscher hat eine große Portion Schnaken vertilgt und hält gerade seinen Verdauungsschlaf. Folglich müssen sie wohl oder übel noch Geduld haben. Das akzeptieren Ratefreund und Hoffegut nicht, sie bestehen auf der sofortigen Audienz. Das Problem löst sich in diesem Moment aber wie von selbst, denn der König ist, sicherlich durch das Stimmengewirr, erwacht und befiehlt:


    Tu auf den Wald, ich will hinaus!

    Vogelkinder biegen das Gebüsch auseinander und langsam tritt der Verschlafene mit zerzaustem Gefieder hervor. Ratefreund lacht - in völliger Missachtung des Zeremoniells - und begrüßt den „edlen König“ mit der Frage, ob er schon „königlich gelaust“ worden sei. Dieser Ton kommt beim Wiedehopf nicht gut an, aber er zwingt sich zur königlichen Ruhe und erklärt Ratefreund, dass sich sein Gefieder jahreszeitlich bedingt in diesem derangierten Zustand befinde, dass es aber nach der Erneuerungskur zehnmal schöner aussehen werde.


    Nun wird der Wiedehopf königlich-neugierig: Wo kommen sie her und was wollen sie hier? Es ist Ratefreund, der als erster antwortet: Sie kommen aus einer großen Stadt, wo „die Musen bluten“- weswegen sie hier bleiben und den Vogelgesang erlernen wollen, den sie so schön finden. Hoffegut wundert sich über diese Aussage, denn er hat eine gänzlich andere Vorstellung: Weil sie die „süße Weise“ der Vögel niemals erlernen können, hofft er, losgelöst von jeder Erdanziehung ein erfülltes Dasein im „süßtönenden Reich“ zu finden.


    Der König wiegt den Kopf und signalisiert damit Widerspruch: Er weist auf ein Missverständnis der Besucher hin und sagt, dass die Vögel kein eigenes, abgezirkeltes Reich haben, denn sie benutzen ja die allen Wesen zugängliche Welt, zusätzlich aber auch das uralte Himmelszelt. Das muss ja nicht so bleiben, wirft Ratefreund ein und kommt mit der Idee heraus, die den König, aber auch Hoffegut erstaunen lässt: Die Gefiederten sollten eine große Stadt mit einer riesigen Mauer errichten und im Äther eine gewaltige Burg erbauen, die allen Stürmen trotzt. Dann hätten die Götter das Nachsehen und von den Menschen könnten sie Zölle für den Abzug aller Ausdünstungen verlangen. Wenn die sich jedoch weigern, dürfen die Vögel jeglichen Durchzug sperren und sich als Herren fühlen und die Menschen Knechte nennen!


    Der Wiedehopf ist zunächst sprachlos, springt dann aber vor lauter Freude über Ratefreunds Plan im Dreieck. Er beschließt die Nachtigall zu rufen, damit sie mit Hilfe ihrer wundervollen Koloraturen allen Gefiederten den wundervollen Plan klarmacht. Die Nachtigall hat den Ruf des Königs gehört und folgt seinem Aufruf mit den schönsten Melodeien und die ganze Vogelschar stürmt herbei, das Haselhuhn von den Feldern, der Sturmvogel vom Meer her, der Adler aus der höchsten Höhe, die Schwalben im Kunstflug und die Flamingos stolzieren nach der Landung gravitätisch einher - alle wollen genaueres erfahren. Das alles ist schnell geschildert, dauert aber in der Realität eine Weile. Die Nachtigall jedenfalls zeigt sich mit dem Erfolg ihres Aufrufs mehr als zufrieden und der König Wiedehopf erklärt, dass er eine wichtige Botschaft für alle seine Untertanen zu verkünden habe:
    Planend ungeheures Werk kam zu Euch zur Beglückung ein Menschenpaar.


    Das hätte der Wiedehopf besser nicht gesagt, denn jetzt reagieren die Untertanen wütend und mit Ablehnung, bezichtigen den Herrscher sogar des Verrats am Vogelvolk - vor allen Dingen einer der Raben tut sich hervor und droht Ratefreund und Hoffegut offen, sie in Stücke reißen zu wollen. Die beiden zeigen Angst und stärken damit den angriffslustigen Raben, dem es gelungen ist, die ganze Vogelschar aufzuwiegeln - alle klappern rhythmisch mit ihren Schnäbeln und kommen stolzierend, fliegend und hüpfend auf die beiden Menschen zu.


    Es gelingt König Wiedehopf nicht, den Frieden wieder herzustellen. Er versucht zwar weiter, seinen Untertanen die tolle Idee Ratefreunds und Hoffeguts schmackhaft zu machen, hat aber im Tumult keine Chance, durchzudringen. Zu allem Überfluss geraten auch noch Ratefreund und Hoffegut in einen Streit, weil letzterer dem Kumpel die Verantwortung für die Gefahr zuschiebt. Ratefreund ist schon weiter: Er denkt an eine praktikable Verteidigung gegen die vielen Schnäbel und zieht aus seinem Rucksack den Kochtopf, stülpt ihn sich über und empfiehlt Hoffegut, sich ebenfalls so zu wappnen. Ach ja: Für den Fall eines Vogelangriffs auf andere Körperteile haben sie, so empfiehlt er, noch die Bratspieße
    zur Verteidigung.


    Der Wiedehopf versucht noch einmal, Beruhigung mit moralischen Argumenten zu erreichen: Man solle doch bitte innehalten und den beiden Menschen, die nichts verbrochen haben, kein Leid antun. Zur Erklärung bringt er seinen eigenen Lebensweg ins Spiel, der ihn schließlich von den Menschen weg und zur Vogelwelt hingeführt habe. So einfach lässt sich die Vogelschar aber nicht einlullen, sie bleibt bei der ablehnenden Haltung Ratefreund und Hoffegut gegenüber. Trügerisch und treulos sind die Menschen, schallt es aus allen Schnäbeln, neidisch und boshaft. Sie spannen beispielsweise ihre Netze aus, um Singvögel einzufangen und als Delikatesse zu verspeisen, den Hühnern nehmen sie die gelegten Eier weg, so dass die Geburtenrate immer weiter absinkt. Schande über sie!


    Jetzt versucht es Ratefreund mit Schmeicheleien: Sie sind Millionen Jahre älter als die Menschen, daher gebühre ihnen auch die Herrschaft über die Welt. Der Bau jener von ihm erdachten mächtigen Feste im hohen Äther könnte ihnen auch genau diese Herrschaft wiederbringen. Es bedarf dazu aber großer Anstrengungen - und siehe da, diese Lobreden kommen bei den Vögeln an und bringen Ruhe und Umschwung. Sie zeigen plötzlich Begeisterung und fangen unter Ratefreunds „Bauleitung“ mit der Arbeit an: Die Kraniche schleppen die Steine herbei, die Ibisse behauen sie mit ihren Schnäbeln, die Störche formen Lehmziegel und das Verstopfen der Ritzen besorgen Singvögel. Eine andere Schar umschreitet dabei graziös Ratefreund und schmückt seinen Körper mit bunten Federn, was Hoffegut zu einem Lachanfall reizt, den Ratefreund jedoch geflissentlich überhört.


    Der erste Akt endet mit einem großen Vogelchor, der die Hoffnung auf eine glanzvolle Zukunft der Gefiederten, wie es vor langer Zeit Normalität war, zum Ausdruck bringt.



    ZWEITER AKT
    Ein Gebirgshain bei Vollmond; man hört Quellwasser rauschen.


    Hoffegut liegt schlafend im Gras; aus der Höhe zwitschert die Nachtigall in den schönsten Tönen. Ist es dieser schöne Gesang, der den Schläfer plötzlich aufweckt? Oder ist es das Waldesrauschen und der Mondzauber? Hoffegut ist zwar noch etwas verschlafen, registriert aber bewundernd den Gesang der Nachtigall und lobt:


    Du holde Sängerin, wie hast du mich geweckt, aus dumpfen Traums Verlies,
    drin ich gefangen lag, von Tages ödem Gelärm, das mir im Ohr noch summte,
    befreit dein hold schmachtend Singen das Herz, schwing dich herab zu mir, Nachtigall.


    Die Nachtigall ist über Hoffeguts Lob hoch erfreut und jubiliert noch mehr als sonst. Dann schwebt sie nach unten, um den Menschen einmal aus der Nähe zu sehen. Es kommt ihr komisch vor, ihm so nahe zu sein, wo er doch einer Spezies angehört, vor der die Küken immer gewarnt werden. Aber er soll sich nicht verspottet vorkommen, wenn sie ihn lustig findet. Hoffegut wird mutig, möchte gern ihren Herzschlag erfühlen und streckt seine Finger aus - und die Nachtigall lässt ihn gewähren. Da kann sie nicht nachstehen und prüft auch seinen Herzschlag; während er zugibt, eine „süße Wärme“ zu empfinden, stellt sie fest, dass seine „Herzensharfe“ traurig und unregelmäßig schlage. Hoffegut kehrt nun sein Innerstes nach Außen: Er möchte mit ihr wesensgleich sein, die Welt mit ihren Augen erleben, doch die Nachtigall ist skeptisch und empfiehlt ihm, so zu bleiben, wie er ist! Da bricht es aus ihm heraus: Allen Gegensätzen zum Trotz verbindet sie eine „nie gekannte Süße“- die Liebe! Liebe? Die Nachtigall weiß nicht, was das Wort bedeutet. Das Thema erstirbt, denn plötzlich ändert sich langsam das Bühnenbild:



    Die Bäume und Sträucher werden langsam transparent, die Blumen erglühen; die Quelle und die Bäume rauschen stärker als vorher und man gewahrt Nachtfalter und Glühwürmchen.


    Die Stimmen der Blumendüfte machen auf sich aufmerksam - die südlichen Arten behaupten von sich, gutartig und berauschend zu sein, während ihre nördlichen Artgenossen sich selbst als boshaft bezeichnen und zugeben, viel Feuchtigkeit ins Land zu bringen. Der Nachtigall ist sowohl das eine wie das andere schnuppe, sie singt einfach lustvoll ihre schönsten Weisen weiter. Aber das Gedüft aus dem Norden warnt: „Fürchte, Wandrer unsre Düfte!“ Für Hoffegut kommt die Warnung etwas spät, er sinkt langsam zu Boden und wird ohnmächtig. Die Nachtigall begrüßt, ungerührt von dem Geschehen, den erwachenden Morgen und fliegt davon.



    Während eines Zwischenspiels wandelt sich die Szene in eine sonnenbeschienene Luftstadt, die sich, einer Fata morgana gleich, über den Horizont zieht. Der Chor der Vögel, von Wiedehopf und Ratefreund angeführt, strömt auf die Szene.


    Der Opernbesucher stellt erstaunt fest, dass die vollendete Vogelstadt mit keinem menschlichen Ort zu vergleichen ist, denn die Erfordernisse sind ja vollkommen andere. Dem Jubelchor der Vögel, von König Wiedehopf angefeuert, ist jedoch der Stolz anzuhören, dass sie mit ihren eigenen Schnäbeln und Füßen Großes aufgebaut haben! Ratefreund stachelt die Eitelkeit der Gefiederten noch weiter an und macht ihnen klar, dass sie älter als der Urahn der Götter, Kronos, sind. Der hat ihnen einst die Herrschaft genommen, jetzt gehört die Welt wieder ihnen! Die Vogelschar hüpft und springt vor Begeisterung und signalisiert zwitschernd und jubelnd vollste Zustimmung!


    In diesem Moment formiert sich aus dem Bühnenhintergrund ein Vogelzug, den der Zaunschlüpfer zu ordnen versucht. Der Wiedehopf glaubt an einen Hochzeitszug und erhält die Bestätigung durch den Zaunschlüpfer: Herr Täuberich und Frau Taubezart wollen als erste in die neue Stadt einziehen! Strauße kommen und fegen mit ihren großen Federn die Straße, Pelikane als Polizisten drängen alle Neugierigen zurück, Kraniche tragen auf Stangen ein fertiges Nest herbei, Exoten wie zum Beispiel Paradiesvögel und Kolibris, schmücken das Nest aus. Und der Zaunschlüpfer tönt:
    Nest gebaut, naht die Braut, Nest gebaut, wie ihr schaut, wohl gebaut, naht die Braut.


    Durch die Hochzeitsmusik angestachelt, umtanzt stolz und aufgebläht der Täuberich sein Frauchen, die, von Brautjungfern umgeben, die Gschamige spielt. Das weiß Herr Täuberich natürlich richtig einzuordnen und hüpft nach einer Umarmung unter allgemeinem Gekichere siegesbewußt ins Nest, von kleineren Vögeln durch Ritzen lünkernd beobachtet. Die größeren Gefiederten tanzen derweil um das Nest herum und scheuchen die Kleinen dabei zur Seite. Plötzlich aber kommen die Kraniche und tragen das Nest, wieder auf die Stangen gesteckt, der neuen Stadt entgegen.


    Es könnte alles so schön sein, aber das wirkliche Leben kennt nicht nur Freude: Hinter der Szene ist tumultartiger Lärm zu hören: „Halt“ und „Haltet den Dieb“ tönt es aus dem Off und höchst erregt stürzen Vögel herbei. Sie schreien über das „unerhörtste Geschehnis seit Vogelgedenken“, das durch den Auftritt eines unheimlichen Wesens, riesig und stärker als alle, unterstrichen wird: Es hat alle Sperren geschleift, die Ordnungskräfte einfach beiseite geschoben und steht schon auf der Szene:



    Prometheus tritt auf die Szene; vor seiner riesenhaften Erscheinung weichen die Vögel ängstlich zurück und verstecken sich hinter ihrem König, der wiederum bei Ratefreund Schutz sucht.


    Ratefreund tut sich mutig hervor und will wissen, was der Eindringling, ohne Zoll und Gebühren zu entrichten, hier zu suchen hat. Der Wiedehopf denkt an seine königliche Stellung und verlangt, dass sich der Fremde genau ausweist. Der kann aber keine Papiere vorlegen, gibt zudem die kryptische Auskunft, dass er von weit herkomme, viel weiter, als es sich alle Vögel hier vorstellen können. Die misstrauische Frage von Ratefreund, warum er so tief verhüllt auftrete, bekommt eine verblüffende Antwort: „Weil mich hier friert!“ Ratefreunds Gegenfrage, aus „welchem Ofen“ er denn gestiegen sei, drückt eine gewisse Ironie aus, während der Wiedehopf nüchtern feststellt, er könne wegen des freundlichen Sonnenscheins keine Kälte empfinden.


    Der Fremde erklärt sich: Er war früher den Menschen mehr als freundschaftlich verbunden, das Vogelvölkchen aber habe er „als der Gottheit lieblichstes Lichtgeschenk“ betrachtet. Dann solle er, fordert König Wiedehopf, die Gesetze des Vogelreiches befolgen und Buße zahlen. Die Gegenfrage kommt wie aus der Pistole geschossen: Buße? Wofür? Warum? Wiedehopf bleibt die Antwort nicht schuldig: Die Zeiten sind vorbei, da Menschen und Vögel den Göttern sklavisch dienen mussten und Zeus wird spüren, dass ein freies Vogelvolk nicht mehr nach seiner Pfeife tanzen wird. Der Fremde wird jetzt deutlich: Er kam als Freund, will sie vor Zeus warnen, der keinesfalls schläft und mitbekommen hat, was im Vogelreich bisher geschah. Aber Zeus gibt ihnen in seiner unendlichen Güte Zeit, sich „zu bedenken“! Die Antwort kommt aus vielen Stimmen, solistisch wie chorisch:


    Zu bedenken gibt es nichts, alles herrlich ausgedacht;
    hoch in Lüften ragt die Veste, die der Götter Macht zerbricht. Nun sind wir frei!
    Kennst du Armer denn das Wort, alle Wesen werden Brüder, aller harten Fron,
    die einst uns drückt', sind wir entrückt, o Freude, o Glück.


    Jetzt reicht's dem Riesen, er richtet sich hoch auf, lüftet ein wenig seinen Mantel und beginnt einen Monolog, der seine Geschichte beinhaltet: Habt ihr jemals von Prometheus gehört? Kennt ihr seine Geschichte? Es ist ihm vor Zeiten wahrlich schlecht bekommen, als er Zeus' Macht herausforderte. Zum Beweis zeigt er der Vogelschar seine wund gescheuerten Handgelenke und erklärt dazu, dass er einst aus „tonger Erde formte ein kühnes, wildes Geschlecht, das, gleich wie er, der Götter frech missachtete“ und dann zur Strafe mit Eisen an einen Felsen gekettet wurde, wobei nur „sein Auge“ ihm frei blieb. So hing er Ewigkeiten und musste sehen, was er nicht sehen wollte. Die Blessuren an den Gelenken, die niemals heilen, entstanden, als er an den Ketten rüttelte, um sich vom Felsen in den Tod zu stürzen.


    Hoffegut gerät ob des Besuchers aus dem Häuschen: Ein Gott hier zu Besuch? Das ist unglaublich! Ratefreund dagegen fällt nichts Besseres als die irrwitzige Frage ein, wie es ihm denn so gehe. Die Äußerungen ignoriert Prometheus, er beschwört die Gefiederten, alle ihre Absichten zu vergessen, die Zeus ohnehin nur als eine Spielerei betrachtet. Der auf dem „Goldstrahlenthron“ sitzende Ewige kann verzeihen, wenn man auf Warnungen achtet - er, Prometheus, ist ja dafür das beste Beispiel, denn ihm hat Zeus verziehen. Ratefreund aber schlägt vorlaut alle gutgemeinten Ratschläge in den Wind, von den Vögeln lautstark unterstützt: Zeus mag thronen und regieren, wie es ihm Spaß macht. Es wird, so Prometheus genervt, ihnen nicht gut bekommen. Überheblich meint Ratefreund, dass sich die Vogelwelt auch gegenüber Zeus zu wehren wisse.



    Der Himmel verdunkelt sich rasend schnell mit schwarzem Gewölk, das nur in der Mitte, einem Auge gleich, einen blauen Fleck aufweist. Aus der Höhe schwebt ein Adler heran.


    Der mächtige Vogel hält sich nicht mit einer langen Vorrede auf - er sagt nur kurz und bündig, dass Zeus' Auge aufblitzte. Und als eine Bestätigung hört man aus der Ferne Prometheus rufen, dass die Strafe nahe. Diese Aussagen verursachen unter den Vögeln eine gewisse Unruhe und es zwitschert und schreit durcheinander, findet sich dann chorisch mit der Frage: „Zeus ist erwacht, was nun?“ König Wiedehopf weiß nicht, was er tun soll - also wendet er sich an Ratefreund und der empfiehlt nicht nur, die Zinnen zu besetzen und alle Tore zu bewachen, sondern schickt auch Späher in die Lüfte. Hoffegut mischt sich ein und wirft allen Beteiligten Torheit vor. Doch Ratefreund spielt den General: „Die Schlacht“ kann beginnen, Dreistigkeit muss siegen!


    In der Ferne blitzt es, die Winde pfeifen plötzlich Sturm und die Vögel klagen ängstlich über das aufziehende Gewitter. Wiedehopf spürt, dass es der Vogelschar „an den Kragen“ geht. Wegen des wolkenbruchartigen Regens verzieht sich Ratefreund verzieht in eine Höhle - und durch diesen Sturm ist plötzlich Zeus' Stimme zu hören, der die Winde noch mehr anstachelt und dabei einen Kugelblitz als eine Art Bestätigung seiner Entschlossenheit über den Himmel rasen lässt: „Nieder!“ tönt es gewaltig und eine Hand greift aus den Wolken - die schöne Vogelstadt mit Nistplätzen und Gelegen geht in Flammen auf!


    In dieser Situation hat die Nachtigall einen rettenden Einfall: Mit ihren Koloraturen lobt sie Zeus, nennt ihn heilig und ruft ihm Lob und Preis zu. Das ist wie ein Startzeichen für die Vogelschar, in diesen Lobgesang einzustimmen. Offenbar ist allen klar geworden, dass ihre Vogelstadt nie wieder aufgebaut werden wird und es notwendig ist, einen Schlussstrich ziehen. Dahinter steht auch die Erkenntnis, dass die Götter, allen voran Zeus, zwar schnell beleidigt, aber ebenso schnell auch wieder beruhigt sind - wenn man ihren Willen erkennt und akzeptiert. Und genau das tun die Vögel; ihren Lobgesang weiter singend fliegen sie alle davon.


    Jetzt kommt Ratefreund aus der Höhle, völlig zerzaust - der schöne Federputz ist hinüber, aber sein Humor ist ihm geblieben und die Erkenntnis, dass er als Mensch in der Vogelwelt nichts verloren hat: Ein Blödsinn war es, hierher zu wandeln, mit dem Wiedehopf anzubandeln und auf Wolken gar eine Stadt zu bauen. Jetzt, nach dem Wolkenbruch, ist er pudelnass und wäre gern wieder zu Hause, an seinem wärmenden Ofen. Was also tut er noch hier? Eine Frage, die auch Hoffegut (ja, den gibt es auch noch!) sich stellt, zumal die Vögel alle fort sind. Hat es sich gelohnt, bei den Gefiederten zu sein oder war alles nur ein verwehter Traum? Als von ferne der Nachtigall Stimme zu hören ist, gibt Hoffegut zu, dass sie die einzige war, mit der er sich verstanden hat. Hat es ihm aber was gebracht? Ratefreund fordert ihn auf, mit ihm den Rückweg in die große Stadt anzutreten und Hoffegut sagt, er werde ihm langsam nachfolgen. Dann resümiert er:


    In mir schwingt etwas nach, Gestalt will's werden und vermag es nicht, doch ist es auch nicht Traum, ist ein Gedicht,
    das in mir klingt, ohn' dass ich Worte habe; wie kam mir das, woher mir diese Gabe? [...]
    Dich, Nachtigall, verstand ich eine Stunde, wie lauscht ich selig deiner Kunde, wie sprachst du süß, was ich von je gewusst.


    In der Ferne erklingt der Gesang der Nachtigall, dem Hoffegut lauscht, dann in Tränen ausbricht und langsam verschwindet...



    INFORMATIONEN ZU KOMPONIST UND WERK


    Walter Braunfels, geboren am 19. Dezember 1882 in Frankfurt/Main als Sohn des Juristen und Literaturwissenschaftlers Ludwig Braunfels (der vom Judentum zum Protestantismus konvertierte) und seiner Frau Helene Spohr, Großnichte des Komponisten Louis Spohr. Walter Braunfels studierte bei Theodor Leschetizky in Wien sowie Ludwig Thuille und Felix Mottl in München. Ab 1925 leitete er die Musikhochschule in Köln (zusammen mit Hermann Abendroth), wurde aber als Halbjude 1933 aus seinem Amt vertrieben, konnte jedoch nach 1945, durch den Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, zurückgerufen, die alte Position wieder einnehmen. Doch behinderten alte Seilschaften aus der NS-Zeit, die im Amt geblieben waren, ihn bei der Arbeit. 1950 ging er in den Ruhestand; er starb am 19. März 1954 in Köln.


    Das kompositorische Schaffen von Walter Braunfels umfasst Opern, Orchesterwerke, Chöre, Lieder und Kammermusik in unterschiedlichsten Formen. Das hier vorgestellte Bühnenwerk „Die Vögel“ war Braunfels' Durchbruch als Komponist und wurde von Bruno Walter in München aus der Taufe gehoben. Damals zählte Braunfels mit Franz Schreker und Richard Strauss zu den herausragenden und meistgespielten deutschen Opernkomponisten, deren Werke von den führenden Dirigenten der Zeit aufgeführt wurde, so von Bruno Walter, Wilhelm Furtwängler oder Otto Klemperer.


    Nach dem Erfolg seiner fantastischen Oper „Prinzessin Brambilla“ (1909 unter Max von Schillings in Stuttgart), lobte man den Komponisten als zukunftsweisenden Vertreter der Neuen Musik. Der 1913 (ebenfalls in Stuttgart) uraufgeführten Oper „Ulenspiegel“ (von der sich Braunfels später distanziert hat) war dagegen nur ein mäßiger Erfolg beschieden. Am erfolgreichsten waren „Die Vögel“ und „Don Gil von den grünen Hosen“ (1924, nach Tirso de Molina).


    Von der antiken Komödie übernimmt Braunfels nur den Handlungsrahmen, während das satirisch-gesellschaftskritische Element unberücksichtigt bleibt. An ihre Stelle tritt die Sehnsucht nach der reinen Natur und die Suche nach der blauen Blume der Romantik. Eine solche Thematik dürfte einer Wiederbelebung des Werks nach 1945 extrem hinderlich gewesen sein. Doch ist die Partitur reich an Farben, und so gelingen Braunfels immer wieder stimmungsvolle Momente. Vor allem die zentrale Figur der Nachtigall verströmt mit ihren lyrischen, irgendwo zwischen der Königin der Nacht und Zerbinetta angesiedelten Koloraturen atmosphärischen Zauber.



    © Manfred Rückert für den Tamino-Opernführer 2016
    unter Hinzuziehung des Klavierauszuges der Universal-Edition Wien – Leipzig (1920)

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  • Lothar Zagrosek war der Dirigent der nebenstehenden Aufnahme (1996 auf den Markt gekommen) mit dem Rundfunkchor Berlin und dem Deutschen Sinfonie-Orchester Berlin. Als Solisten sind Helen Kwon, Endrik Wottrich, Michael Kraus, Wolfgang Holzmair, Martin Petzold, Marita Posselt, Iris Vermillion, Matthias Goerne, Johann-Werner Prein zu hören.











    Im Opernhaus von Los Angeles ist diese DVD live aufgezeichnet worden; die Regie führt Darko Tresnjak, der Dirigent ist James Conlon. Hier sind Desiree Rancatore, Brandon Jovanovich, James Johnson, Martin Gantner als Solisten genannt. Außerdem spielt das Los Angeles Opera Orchestra und der Chor der Oper singt.


    :hello:

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