Weinbergs "Passagierin" in Gelsenkirchen, 18.02.2017

  • Die Aufführungen selten gespielter Opern reizen mich oft mehr als die zwanzigste Tosca- oder Holländer-Produktion. So war es keine Frage, dass ich die Gelegenheit zum Besuch von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ am Musiktheater im Revier (MIR) nutzen würde. Ich kannte das Stück vorher nur in Ausschnitten, was aber vielleicht verzeihlich ist, da es – obwohl 1968 vollendet – erst 2010 in Bregenz seine szenische Uraufführung erlebte. Seitdem wurde die Oper erfreulicherweise relativ häufig gezeigt, neben Aufführungen in London und den USA auch 2013 in Karlsruhe, 2015 in Frankfurt und nun in Gelsenkirchen. Sie hat die Beachtung verdient, denn es handelt sich wirklich um ein eindrucksvolles Werk. Umso bedauerlicher, das es im Tamino Opernführer noch nicht vertreten ist.


    Das Libretto basiert auf dem gleichnamigen autobiographischen Roman von Zofia Posmysz. Es schildert die Begegnung der Deutschen Lisa, die mit ihrem Mann in der 60er Jahren auf der Überfahrt nach Brasilien ist, wo er einen Posten im diplomatischen Dienst der noch jungen BRD anzutreten gedenkt, mit einer Mit-Passagierin, in der Lisa die Polin Marta wiederzuerkennen glaubt. Marta war Häftling in Auschwitz, wo Lisa in den Diensten der SS als KZ-Wärterin gearbeitet hat – eine Vergangenheit, die sie ihrem Mann bislang verschwiegen hat, nun aber beichten muss. In Rückblenden werden die Schlüsselszenen von Lisas und Martas gemeinsamer Auschwitz-Vergangenheit dargestellt. Es zeigt sich, dass Lisas Behauptung, nur eine „anständige Deutsche“ gewesen zu sein, die nur ihre Pflicht getan habe und der Marta sogar ihr Leben verdanke, nicht viel mit den tatsächlichen Geschehnissen zu tun hat.


    Jede Aufführung der Oper steht vor der Aufgabe, die beiden Erzählebenen und den Wechsel zwischen ihnen szenisch umzusetzen. In Gelsenkirchen hat die Regisseurin Gabriele Rech auf parallele Kulissen auf unterschiedlichen Ebenen oder Drehbühneneffekte verzichtet, die gleiche Kulisse diente einmal als Salon des Ozeandampfers, wo sich die mondänen Erste-Klasse-Gäste zum Drink an der Bar und zum Tanz treffen, und das andere Mal als Lager in Auschwitz. Durch diese Verschränkung der Erzählebenen wurde der Charakter der Lager-Szenen als Lisas Erinnerungen betont, was m.E. sehr gut funktionierte.


    Musikalisch ist die Oper schwer zu charakterisieren, die Musiksprache kann man vielleicht als gemäßigt modern, aber jeden Fall aber als sehr expressiv beschreiben, sie enthält Elemente der Zwölftonmusik ebenso wie Zitate von Volksmusik und erinnerte mich – wenig überraschend – an Schostakowitsch, Weinbergs Mentor und lebenslangen Freund, aber gelegentlich auch an Benjamin Britten, was mich eher verwundert hat. Einmal meinte ich sogar, ein Motiv aus „Peter Grimes“ wiederzuerkennen. Die Leistung des Orchesters, der Neuen Philharmonie Westfalen, und des jungen finnischen Dirigenten Valtteri Rauhalammi zu bewerten, fällt mir mangels Vergleichsmöglichkeiten schwer. Das hörbare Ergebnis war auf jeden Fall sehr beeindruckend. Von den Sängerinnen und Sängern standen naturgemäß die beiden weiblichen Figuren Lisa und Marta im Mittelpunkt. Die griechische Sopranistin Ilia Papandreou ließ für mich nicht viel zu wünschen übrig in der Gestaltung der Marta, die auch im KZ ihre Humanität nicht verliert und der einige der wirklich anrührenden Szenen der Oper gewidmet sind. Am Ende wirkte sie etwas angestrengt, was der Tagesform geschuldet gewesen sei mag. Die Partie der Lisa wurde von der Isländerin Hanna Dóra Sturludóttir gesungen, der sowohl die Dialoge mit ihrem sich immer weiter entfremdenden Mann als auch die Verkörperung der zwischen Strenge und eiskalt kalkulierter Nachsicht changierenden KZ-Aufseherin gut gelangen. Vom Rest des Ensembles blieben mir einige der anderen weiblichen KZ-Häftlinge besonders in Erinnerung.


    Das Haus war nicht ganz ausverkauft, aber wohl zu 80% besetzt. Ich habe viele Jugendliche gesehen, darunter auch größere Gruppen, die möglicherweise aufgrund des Themas gekommen waren. Das MIR veranstaltet zur „Passagierin“ ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Lesungen, Vorträgen, Ausstellungen und auch weiteren musikalischen Aufführungen, das sicherlich für manche Schulklasse "Pflichtprogramm" ist.


    Auf der Web-Seite des MIR findet sich auch eine Bildergalerie, die ich aus urheberrechtlichen Gründen hier nur verlinke:
    http://musiktheater-im-revier.…/2016-17/die-passagierin/


    Alles in allem eine sehenswerte Produktion eines lange zu Unrecht vernachlässigten Stücks, meine klare Empfehlung lautet: hinfahren und anschauen.


    Weitere Termine:
    2.3., 17.3., 2.4., 23.4.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Lieber Bertarido,


    schön, dass Du auf diese Inszenierung einer so selten inszenierten Oper aufmerksam machst! Kleine Bühnen haben in dieser Hinsicht offenbar mehr Mut als die großen. Das Stück kenne ich bisher auch gar nicht. Leider bin ich im Moment beruflich sehr ortsgebunden. Ich mag besonders solches Repertoire - zu meinen schönsten Opernerlebnissen gehören z.B. "Die Gezeichneten" von Schreker. Auch Schreker wird finde ich viel zu selten gespielt - Mainstream-Lastigkeit tut den Häusern glaube ich nicht gut.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Bertarido, was du schreibst über eine "Passagierin" statt 20x "Tosca", da stimme ich dir zu. Das Problem in Gelsenkirchen ist, dass ja nur selten überhaupt gespielt wird. Experimentierfreudig war diese Oper immer, daher bin ich dort auch im Förderverein.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Vor zwei Jahren sah ich diese Oper in Frankfurt. Eine der besten Produktionen die ich bislang irgendwo auf der Opernbühne gesehen habe. Und eine moderne Musik die dennoch überzeugt!
    Die Passagierin (Frankfurter Produktion) wird im Frühjahr in Dresden gezeigt.


    Unbedingt anschauen!