HUSMANN, Mathias: VIVALDI

  • Mathias Husmann (*1948):


    VIVALDI - IL PRETE ROSSO
    Kammeroper in einem Akt - Libretto vom Komponisten


    1997 entstanden, Uraufführung am 11. Januar 2002 im Kellertheater Ulm



    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Antoni Vivaldi (Bariton)
    Anna Girò (Sopran)
    Kardinal Ruffo (Bass)
    Carlo Goldoni (Bass)
    Kaiser Karl IV. (Tenor)


    Instrumentalbesetzung:
    Konzertierendes Violinsolo, Streicher: 2/2/1/1/1, Cembalo, Schlagzeug (drei Spieler)


    Orte der Handlung sind Venedig und Wien.



    INHALTSANGABE


    Während des Vorspiels (bei geöffnetem Vorhang, aber dunkler Bühne) mit dem 'atonalen' und dem 'tonalen' Vivaldi-Motiv (von der Solo-Violine intoniert), hört man den Hustenanfall des unsichtbaren Vivaldi. Bei zunehmender Helligkeit, das Morgengrauen andeutend, sieht man einen ärmlichen Raum: An der Wand ein Kreuz, ein Priesterrock am Haken; auf dem Cembalo die Violine, überall verstreut Notenblätter; auf dem Stuhl neben dem Bett steht ein Hocker mit Brevier und Medizin. Antonio Vivaldi hat sich auf die Bettkante gesetzt und kämpft im Halbschlaf mit dem asthmatischen Anfall. Hinter dem Kopfende des Bettes, für Vivaldi unsichtbar, eine verhüllte Gestalt.


    Alptraum Venedig - szenisches Concerto grosso in drei Sätzen: 1. Allegro


    Die verhüllte Gestalt spricht Vivaldi, der zusammenzuckt und die Stimme des gestrengen Kardinals Ruffo zu hören glaubt, mit seinem Spitznamen „Prete rosso“ an und wirft ihm Versagen vor: Seit fünfundzwanzig Jahren hat er schon keine Messe mehr gelesen; wenn er gesunden will, dann soll er das sofort ändern. Um Erbarmen flehend entschuldigt sich der „rote Priester“ mit seiner Krankheit und dem Alter, er fügt dann hinzu, dass er jetzt nur noch komponieren und einzelne Stücke zu einer Messe zusammenfügen kann.


    Er erhebt sich und intoniert ein Kyrie eleison und bildet sich ein, vor seinem Ospedale-Orchester zu stehen. Er gibt immer neue Anweisungen an die imaginären Instrumentalisten.


    Ruffo erinnert Vivaldi daran - und es klingt ärgerlich - dass er hier nicht vor seinem Orchester steht, sondern vor einem Tribunal, das ihn als Priester und nicht als Komponist und Dirigent erleben will. Man will die Frage klären, ob er noch Priester genannt werden kann. Wieder bietet der Komponist sein Alter und die Gebrechen als Entschuldigung auf, doch Ruffo insistiert weiter und bringt Vivaldi entsetzt dazu, um Erbarmen zu bitten.


    2. Andante amoroso
    Vivaldi ergreift, wie zum Schutz, seine Violine; als er den Bogen ansetzt, erklingt eine Melodie, die sich im Raum vervielfältigt [Kanon].


    Der Kardinal sieht eine Frau und will von Vivaldi wissen, wer sie ist und erfährt, dass es sich um die Primadonna Anna Girò handelt, seine Muse, die „Virtuosa musicale“ in seinen Kompositionen, gleichzeitig aber auch seine Beschützerin und Hilfe im Alter. Und die Sopranistin beteiligt sich an der Kanonmelodie. Ruffo hört nicht auf die Musik, sondern erwähnt umlaufende Gerüchte über jene Anna, die in eine ganz bestimmte Richtung zielen. Diese Andeutung bringt Vivaldi in Rage und er fragt hitzig, wer es wagt, ihn und Anna anzuklagen?


    3. Vivace
    Kardinal Ruffo gibt sich zu erkennen, legt seine Verhüllung ab.


    Ruffo droht mit dem geistlichen Tribunal, nennt Vivaldis Priestertum einen Skandal und hält den Musiker für einen Straßenmusikanten, einen Schmierenkomödianten. Er wird dafür sorgen, dass Ferrara Vivaldis Oper „Ginevra“ ablehnt. Ohnehin ist das Genre Oper ein einziger Sündenpfuhl, der mit Stumpf und Stiel ausgerottet gehört.


    Dialog nach Nr. 3


    Vivaldi hat einen erneuten Asthmaanfall und zuckt, erwachend, zusammen. Was war das? Nur ein Traum oder doch Realität? Er ruft nach Anna, die ihm die Medikamente gegen Asthma geben soll. Die Muse wundert sich über das Chaos im Raum und er berichtet ihr von der Begegnung mit Ruffo und dessen Drohungen und Verwünschungen. Ist da nicht gestern ein Schreiben vom apostolischen Nuntius gekommen, der in Ruffos Auftrag nicht nur die Opernaufführung, sondern auch Vivaldis Erscheinen in Ferrara untersagt hat? In Annas bestätigende Schimpfkanonade hinein sagt Vivaldi niedergeschlagen, dass jenes Verbot seinen Ruin bedeutet. Anna aber ist in ihren Gedanken schon weiter und schlägt vor, nach Wien zu ziehen, denn dort wird er, so argumentiert sie überzeugend, mehr Beachtung bekommen und auch eine bessere Bezahlung erhalten. Der Gedanke ist für Vivaldi bestechend, zumal Karl VI.- wie die meisten Habsburger Herrscher - hochmusikalisch ist und sich vor Jahren bei einem Besuch in Venedig lange mit ihm über Musik unterhalten hat. Aber die Reise wird teuer, doch soll sie daran nicht scheitern.


    4. Arie des Vivaldi - mit konzertanter Violine


    Vivaldi denkt über sein Leben nach: Er hat über dreißig Jahre im Ospedale ohne Skandale gewirkt, hat die jungen Waisenmädchen ausgebildet, mit ihnen seine eigenen Kompositionen und die anderer Musiker eingeübt und aufgeführt. Und da die Venezianer die Musik lieben, haben sie nie mit Beifall gegeizt. Auch für die Bühne hat er einiges geschrieben, doch war ihm auf diesem Gebiet das Glück nicht immer hold. Aber die Theater gleichen ohnehin Irrenhäusern, aus denen man sich am besten zurückzieht. Auch an seine roten Haare und die Liebe zur Musik, Erbteile von seinem Vater, denkt Vivaldi. Weniger schön ist sein hereditäres Asthmaleiden, das ihn Priester werden ließ und das der Herr Kardinal Ruffo nicht als Krankheit akzeptieren will. Resümierend sieht er die Reise nach Wien hoffnungsfroh, aber als eine Fahrt ins Asyl.


    Dialog nach Nr. 4


    Während Vivaldi auf seiner Geige spielt, kommt Anna mit Gepäck und Kleidern auf die Szene und hält ihn an, endlich seine Noten einzupacken. Sie hat schon manches geklärt: Sein Bruder wird das Haus übernehmen und ihr eigenes wird von ihrer Schwester bezogen. Und jetzt wird es Zeit, denn der Reisewagen ist schon bestellt. Beim weiteren Packen kommt Vivaldi plötzlich die Idee, seine Soutane an Kardinal Ruffo zu schicken, was Anna mit dem Satz „Dann wäre der Skandal perfekt“ quittiert. Während er sein Notenmaterial zum Verkauf ins Ospedale bringt, packt sie entschlossen die Soutane zum Reisegepäck und denkt dann arios über ihre Situation nach:


    5. Arie der Anna - Rezitativ und Koloratur-Arie


    Wird sie auch etwas von der Reise nach Wien haben oder ist es nur eine Flucht vor Vivaldis aktuell schlechter Lebenssituation und der Hoffnung, es in der Hauptstadt der Musik besser anzutreffen? Es gibt keine Antwort auf diese Frage, denn der Blick in die Zukunft ist Anna verwehrt. Dafür geht sie innerlich zu ihren Anfängen zurück: Früh hat sie die Mutter verloren, früh kam sie als musikalisches Kind in jenes Ospedale, in dem Vivaldi, der „Rote Priester“ wirkte. Ihm konnte sie eines Tages bei einem Asthmaanfall beruhigend zur Seite stehen, worauf er sie wegen ihrer guten Stimme dann zu sich nahm und ihr für Gesundheitspflege Gesangsunterricht gab. Manche Opernrolle hat Vivaldi ihr auf den Leib geschrieben, hat sie auf Reisen mitgenommen und ihr damit Reputation verschafft. In der Stadt kennt man sie zwar als Künstlerpaar, doch „lebt ein jeder, beide ledig“ an einem anderen Ende von Venedig. Und die Zukunft? Anna hat die Absicht, Vivaldi auch weiterhin zu pflegen, will aber auch versuchen, ihn von der Oper weg und hin zur Kammermusik und Sinfonik zu locken.


    Dialog nach Nr. 5


    Gegen Ende der Arie ist unbemerkt ein Mann in den Raum getreten, hat interessiert zugehört und spendet schließlich lebhaften Beifall. Überrascht nimmt Anna die Begrüßung und den Glückwunsch zu ihrem Gesang von Carlo Goldoni entgegen. Auf den Plauderton, den der Gast anschlägt, reagiert sie allerdings gereizt, fordert ihn auf, schnell zur Sache zu kommen, denn sie hat nicht viel Zeit (den Grund nennt sie allerdings nicht). Goldoni möchte zu Vivaldi, doch der, erfährt er von Anna, ist ins Ospedale gegangen, um einen Teil seiner Noten zu verkaufen. Diese Nachricht erstaunt den Poeten: Weshalb verkauft ein berühmter Komponist (um den es jedoch in letzter Zeit etwas Stille geworden ist) und Priester Noten? Anna bleibt die Antwort wieder schuldig.


    Goldoni muss aber nicht lange warten, denn Vivaldi kommt gerade zurück, begrüßt Goldoni und bittet Anna, einen dringenden Botengang zu einem gewissen Signore Bentivoglio zu machen. Kaum ist sie gegangen, muss er sich der Neugierde des Dichters erwehren: Wie angeblich alle Venezianer möchte auch er etwas über das „Ferrara-Projekt“ erfahren - doch Vivaldi zeigt kein Interesse an dem Thema, er laviert sich ohne konkrete Aussagen durch. Goldoni gibt schließlich auf und kommt zum eigentlichen Anliegen: Er bittet den Musiker um die Vertonung einer kleinen Canzone aus seiner neuen Komödie, wozu Vivaldi auch bereit ist. Als Anna zurückkommt und erfährt, dass soeben eine Komposition für Goldoni entsteht, wird aus ihr sofort eine agile Geschäftsfrau, die dem Poeten ein anständiges Honorar aus dem Beutel zu locken vermag. Und sie verrät Goldoni jetzt das Reiseziel: Wien, die Stadt mit dem musikliebenden Kaiser, der, zehn Jahre ist es her, während seines Venedig- Aufenthaltes täglich Vivaldi besucht und sich mit ihm über Musik unterhalten hat.


    6. Canzone


    Vivaldi setzt sich ans Cembalo, Anna stellt sich hinter ihn und singt „prima vista“ die Canzone, die ein Abgesang auf Venedig, auf Kanäle, Paläste und rauschende Feste ist. Und, so nebenbei, auch eine Abrechnung mit der Gedankenlosigkeit der venezianischen Bevölkerung, die nicht bemerken, dass der Protagonist aus der Komödie nicht mehr in der Lagunenstadt wohnt.


    Dialog nach Nr. 6


    Nach kurzem Schweigen meint Goldoni, Vivaldi habe eine sehr ernste Musik geschrieben, Anna ist dagegen von ihr angetan. Der Musiker weist den Poeten darauf hin, dass er in dem Lied noch ein zweites, nur für den Dichter bestimmt, versteckt sei und mit dem sich Goldoni nach seiner Abreise befassen kann - wenn er will. Während sich Vivaldi vom Dichter verabschiedet, weil inzwischen die Kutsche vorgefahren ist, geht Anna grußlos hinaus. Goldoni steht wie angewurzelt, sieht dem Paar und der Kutsche nach und lässt das Publikum an seinen Gedanken teilhaben: Vivaldi hat gut dreißig Jahre lang Venedigs Musikleben geprägt, er wurde bejubelt und war doch gleichzeitig auch eine Zielscheibe von Satire und Spott. Der Poet gesteht sich ein, dabei mitgemacht zu haben, denn für ihn war der Komponist mittelmäßig und überschätzt - als Komponist und Virtuose. Interessant fand er, wie tout Venedig, jedoch immer das Privatleben des Prete rosso: War Anna Girò nur Vivaldis Schülerin oder doch seine „amicizia“? Zwanzig Jahre war sie, die nur eine kleine Stimme, aber eine reizende Figur hat, eine Haushälterin mit Pflege- und Koloraturverpflichtung - und jetzt sind beide fort. Ach ja, die Canzone taugt nichts (wie auch nicht anders erwartet), die Venezianer werden das traurige Geleier nicht goutieren. Aber seine Arie wird er jetzt ausprobieren:


    7. Goldonis Aria


    Am Cembalo sitzend versucht sich der Dichter mit Vivaldis Notentext, doch will das nicht so recht gelingen; den ominösen Text spricht er mehr als er ihn zu singen in der Lage ist:


    Des Menschen Bürde ist seine Würde. Legst du die Bürde ab, drückt sie dich schwer.
    Des Menschen Würde ist keine Bürde. Hältst du die Würde hoch, wiegt sie nichts mehr.


    Selbstgespräch nach Nr. 7 und Nr. 8. Couplet des Goldoni
    (Später mit den Stimmen von Vivaldi und Anna)


    Goldoni weiß nicht, was Vivaldi ihm mit dem merkwürdigen Text sagen wollte; um ihn verstehen zu können, müsste er sich näher damit befassen, doch danach steht ihm momentan nicht der Kopf. Auf jeden Fall wird er die Kompositionen behalten und nicht vernichten. Mit einem mehrstrophigen Couplet macht er sich dann über Vivaldi und seine Muse mit Anzüglichkeiten lustig und kann sich sogar vorstellen, über die beiden eine saftige Komödie zu schreiben -Venedig hätte dann mal wieder etwas zu lachen. In sein Couplet hinein klingt aus der Ferne Vivaldis Canzone, von Anna und dem Meister gesungen und Goldoni zuckt betroffen zusammen. Er würde auch gerne fliehen, aber die Bürger der Stadt wollen auch in Zukunft noch lachen; er wird also bleiben und weiterhin Komödien schreiben...


    Intermezzo: Il prete rosso - Konzert für Violine und Kammerorchester in drei Sätzen
    zu drei Sonetten im Stile von Vivaldis „Jahreszeiten“

    (Die Sonette sind vom Darsteller der Tenorpartien in Konzertkleidung vor jedem Satz vorzutragen)


    Das erste Sonett erhebt gegen Venedig den Vorwurf, dass es den großen Vivaldi hat ziehen lassen, weil man ihm, der ja auch Priester ist, vorwarf, fünfundzwanzig Jahre lang keine Messe gelesen zu haben. Na und? War Vivaldi nicht immer ein Priester der Musik? Absurd auch der andere Vorwurf, dass nämlich Anna buhlenhaft das Künstlerdasein mit Vivaldi teilt. Dieser Vorwurf ausgerechnet von der großen Buhlerin Venedig?


    Das zweite Sonett ist ein Frage- und Antwortspiel zwischen dem Komponisten und seinem inneren, zweiten Ich: Es beschreibt die Reise des Künstlerpaares nach Wien, über Villach und Klagenfurt, wobei klares Wetter in der Ferne die Karawanken zeigt. Aber auch hochkommend die Frage nach Annas Rolle in seinem Leben. Hat sie, die immer zu ihm gestanden ist, nicht endlich ein „Danke“ verdient? Ja, diesen Dank hat sich Anna wahrhaftig verdient!


    Im dritten Sonett erneute Fragen: Warum reist er, der alte und kranke Mann, nach Wien? Ist es eine Flucht vor dem Priestertum, vor dem eigenen Namen? Wird er in der Haupt- und Residenzstadt der Habsburger Kraft für einen Neuanfang finden? Oder sucht er lediglich einen stillen Platz für seinen Rotschopf? Die Nachwelt wird es nie erfahren und Anna war an seinem Armengrab allein, um ihn zu beweinen.


    Dialog nach dem Intermezzo
    (Später Nachmittag irgendwo zwischen Villach und Klagenfurt)


    Vivaldi ärgert sich über den Radbruch, der mal wieder zu einer Reise-Unterbrechung geführt hat. Er sinniert auch über das finanziell magere Ergebnis seines Notenverkaufs im Ospedale, denn wenn es noch mehrere Zwischenfälle wie den Radbruch geben sollte, werden Anna und er verarmt in Wien ankommen. Er muss Neues komponieren, um in Wien punkten zu können. Wien! Ob man ihn dort noch kennt? Außer der Majestät natürlich, die musikalisch sehr gebildet ist und diese Bildung auch der eigenen Tochter, Maria Theresia, weiterzugeben gedenkt. Welche Musik wird aktuell bei Hofe gemacht? Er kennt wahrscheinlich niemanden dort. Da kommt Anna und stört seine Gedanken mit der Nachricht, dass die Radreparatur zwei Tage dauern werde. Der ungeduldige und asthmatische Vivaldi will nicht länger warten, er ist entschlossen, per Pedes Wien zu erreichen. Der ungläubigen Muse Anna wird er den Weg mit eigener, neuer Musik, auf seiner Geige gespielt, verkürzen und das Werk nennt er „Sonata veneziana, per Violino e Continuo“- und sie gehen...


    9. Duett Anna - Vivaldi
    (Wiener Variationen über ein venezianisches Thema)


    Die erste Variation ist, nach Annas Meinung, die musikalische Schilderung eines venezianischen Maskenfestes. Dieser Klang sollte doch eigentlich zurückgeblieben sein - eine Bemerkung, die den Musiker das Stück abbrechen lässt. Aber die nächste Variation gefällt Anna (es ist eine Variation im Stile Haydns), denn es klingt nach Jugend, genau wie die folgende (Mozart nachempfunden), die Anna als kühn und schwungvoll charakterisiert. Kaum verklungen kommt eine männlich wirkende Variation zu Gehör (Beethoven), die Anna mit einem siegreichen Helden assoziiert. Das nächste Stück bringt Anna zum Weinen (Schuberts Melancholie erahnend). Weiter gehen die musikalischen Abwandlungen zu Brahms, Bruckner, Mahler, Schönberg, Webern - um schließlich mit dem Ruf


    Nach Wien lass uns ziehn, um zu sterben, um zu leben, nach Wien

    beim Junior-Strauß (gleich einem walzerseligen Totentanz) anzukommen. Doch diese Variation unterbrechen Anna und Vivaldi, weil ihnen plötzlich jemand entgegen tritt:


    10. Karawanken-Terzett


    Dieser Jemand stellt sich Anna und Vivaldi in den Weg und im folgenden Frage- und Antwort-Spiel stellt sich heraus, dass er, der sich als „Wächter der Karawanken“ versteht, Vivaldi und seine Musik kennt. Er warnt den Komponisten vor Wien, der Stadt, die mit den dort lebenden Menschen nicht immer gut umgeht, ihnen oft genug das Leben zur Hölle macht. Gegen Ende dieses merkwürdigen Gesprächs glaubt Vivaldi plötzlich in dem Fremden den verstorbenen Kaiser Karl VI. zu erkennen. Der aber zieht sich zurück...


    Allmählich wachsende, farbige Helligkeit einer raum- und zeitlosen Entrückung.


    11. Finale - Traumduett


    Vivaldi und Anna sind in Wien angekommen, wenden sich, die Hände ergreifend, einander zu und singen gemeinsam über das Land der Liebe, dass sie hier zu finden hoffen. Sie resümieren, dass die Liebe der Sinn allen menschlichen Lebens ist. Während Vivaldi auf seiner Violine Annas Gesang mit dem „Andante amoroso“ (Nr. 2) begleitet, tritt der Pfarrer von Sankt Stephan auf die Szene. Als Anna sagt, sie seien endlich in Wien, will Vivaldi sofort den Antrittsbesuch beim Kaiser machen; es ist die Stimme des Pfarrers, der das Paar in die Realität holt: „Der Kaiser ist tot!“


    Nachspiel
    Vivaldi sinkt zu Boden, Anna kniet bei ihm. Der Priester zieht sein Sterbebüchlein hervor, macht einen Eintrag, den er dann laut vorliest:


    Der wohl ehrwürdige Priester Herr Antonio Vivaldi; Wien, 28. Juli 1741


    Mit dem letzten Ton der Solovioline erlischt alles Licht.



    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Es gibt eine Titelvignette zu einem Notenband, in der ein Geige spielender Engel abgebildet ist, der mit seinen Füßen ein Ruderboot steuert und einen Priesterhut trägt. Unwillkürlich denkt man an den Impresario und Leiter des Theaters im venezianischen Kirchsprengel Sant'Angelo, Antonio Vivaldi, der dieses Amt seit 1714 innehatte. Er war allgemein bekannt als der „Prete rosso“- seiner rötlichen Haare wegen. Sein Priesteramt (zu dem der 1678 geborene Sohn eines Barbiers und Violinisten mit 25 Jahren geweiht wurde) hat er nur neun Jahre ausgeübt. 1712 las er letztmalig eine Messe, weil ihn, wie er später einem Gönner gestand, eine „Enge in der Brust“ (Asthmatiker von Geburt an) an der Ausübung dieses Berufes gehindert habe. Dafür fand er im Jahr seiner Priesterweihe (1703) am „Ospedale della Pietà“ seine erste Anstellung, anfangs als Lehrer für Geige und Gesang, später auch als eine Art Hauskomponist und Konzertmeister. Die „Pietà“ war eine der großen Konservatorien der Stadt und nur für weibliche Zöglinge geöffnet.


    Unter den musikalischen Zöglingen war auch jene in dieser Oper vorkommende Anna Girò, Tochter eines Perückenmachers aus Frankreich, die Vivaldis bevorzugte Sängerin wurde. Goldoni beschrieb sie als „nicht besonders schön“, ihre Wirkung auf der Bühne aber als überzeugend. Dass die Girò auch Vivaldis „amicizia“ gewesen und deshalb den sittenstrengen Kardinal von Ferrara, Tomaso Ruffo, zu einem Rüffel veranlasst haben soll, wird in dieser Kammeroper ebenfalls erwähnt. 1738 verbot Ruffo dem Klerus, an Karnevalsveranstaltungen teilzunehmen, auch Opernvorstellungen zu meiden. Vivaldi, der schon viel Geld für eine Opernstagione in Ferrara investiert hatte, drohte der Ruin. Was also tun?


    Auch in Venedig spielte Vivaldi im Opernbetrieb keine Rolle mehr. So begann er, alte Kontakte zu aktivieren, wie die zum Habsburger Kaiser Karl VI., dem er 1728 in Triest begegnet war (Vivaldi widmete dem Kaiser sein opus 9 „La cetra“) und mit dem sich lange Gespräche über Musik ergeben hatten. Könnte er in Wien an alte Erfolge anknüpfen? 1740 (als 62jähriger) tritt er die Reise an, aber Karl VI. stirbt im Oktober dieses Jahres und sein Sohn Franz Stephan, Großfürst von Toskana, hatte keine „Vakanz“. Verarmt ist Vivaldi am 27. Juli 1741 in Wien gestorben; der Totenschein vom Tag darauf bezeichnet ihn nur als „Priester“- der Komponist Antonio Vivaldi ist schon lange tot. Seine Beisetzung mit einem Armenbegräbnis erweckt Assoziationen zu Mozart 50 Jahre später.


    Mathias Husmann zeigt in der hier vorgestellten Kammeroper Vivaldis Lebensende. Die Handlung beginnt mit den Vorbereitungen zur Abreise nach Wien. Der Komponist denkt an seine Begegnung mit Kardinal Ruffo und dessen geifernder Rechthaberei wie in einem Albtraum. Und als eine Art Leitmotiv zieht sich ein „Misterioso“ durch das Stück, um schließlich die Ankunft in Wien zu einem Kreuzweg mit der Endstation Kaisergruft darzustellen. Dabei wird ein venezianisches Motiv mit Variationen berühmter Musiker von Haydn über Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner, Mahler, bis hin zu Schönberg und Webern geführt, um letztlich in einen Totentanz à la Johann Strauß zu münden.


    © Manfred Rückert für den Tamino-Opernführer 2017
    unter Hinzuziehung des Librettos

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