Friedrich Schiller und die Frage: Müssen Kostüme und Kulissen historisch sein?

  • Möglichkeit zur sehr erwünschten (!) Diskussion gibt mein Thread:


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"


    Die Frage der Kostüme taucht bei Friedrich Schiller (Über das Pathetische, 1793) interessanter Weise in einem polemischen Kontext auf – im Rahmen seiner Kritik des französischen Trauerspiels. Für Schiller ist die Darstellung des Leidens in der Kunst nur möglich, wenn sie einen moralischen Zweck hat: das physische Leiden muss in Verbindung stehen mit dem freien Willen, einem Menschen, der wenn er leidet zugleich gegen dieses Leiden rebelliert. Das menschliche im Unterschied zum tierischen Leiden ist also nicht völlig passiv, sondern zugleich in seinem „Widerstand“ gegen das Leiden ein Tun und Handeln und das „Pathetische“ so ein „Pathetisch-Erhabenes“. Bei einem Drama leiden wir nach Schiller mit dem Helden mit – aber dieser Held, der unser Mitleid erweckt, ist letztlich nur die moralische Person in ihm. Das erklärt, warum Schiller das sehr „gesellschaftliche“ französische Trauerspiel für unempfindsam und gefühlskalt hält – denn statt der leidenden, moralischen Person ist hier Gegenstand der Darstellung ein historisches Individuum in seiner sozialen Rolle, die durch das Kostüm zum Ausdruck gebracht wird. Bei den „französischen Tragikern“ „erstickt“ – so Schiller – der „frostige Ton der Deklamation (...) alle wahre Natur (...). Kaum können wir es einem französischen Trauerspielhelden glauben, daß er leidet, denn er läßt sich über seinen Gemütszustand heraus wie der ruhigste Mensch, und die unaufhörliche Rücksicht auf den Eindruck, den er auf andere macht, erlaubt ihm nie, der Natur in sich ihre Freiheit zu lassen. Die Könige, Prinzessinnen und Helden eines Corneille und Voltaire vergessen ihren Rang auch im heftigsten Leiden nie und ziehen weit eher ihre Menschheit als ihre Würde aus. Sie gleichen den Königen und Kaisern in den alten Bilderbüchern, die sich mitsamt der Krone zu Bette legen.“


    Würde beruht auf gesellschaftlicher Anerkennung, deren Grad und Rangordnung sich letztlich für alle Gesellschaftsmitglieder sichtbar in der Kleidung und Verkleidung ausdrückt: Kleider machen bekanntlich Leute. Schillers polemische Spitze ist, dass die Würdenträger so mit ihrem Kostüm verwachsen sind, dass sie selbst im Schlaf, wenn sie nur noch für sich sind und gar nicht mehr gesellschaftlich existieren, also eigentlich nur noch Menschen sind (als Mitglieder der „Menschheit“ in uns, wie Schiller sagt, welche die „Natur“ des Menschen, das Allgemeinmenschliche, repräsentiert, worin alle Menschen ungeachtet ihrer Verschiedenheit des gesellschaftlichen Ranges gleich sind), absurder Weise immer noch ihre gesellschaftliche Rolle spielen. Als moralischen Spiegel hält Schiller dem französischen Gesellschaftsdrama deshalb die Darstellung der Natur des Menschen in der griechischen Kunst vor:


    „Wie ganz anders sind die Griechen und diejenigen unter den Neuern, die in ihrem Geiste gedichtet haben. Nie schämt sich der Grieche der Natur, er läßt die Sinnlichkeit ihre vollen Rechte und ist dennoch sicher, dass er nie von ihr unterjocht werden wird. Sein tiefer und richtiger Verstand läßt ihn das Zufällige, das der schlechte Geschmack zum Hauptwerke macht, von dem Notwendigen unterscheiden; alles aber, was nicht Menschheit ist, ist zufällig an dem Menschen. Der griechische Künstler, der einen Laokoon, eine Niobe, einen Philoktet darzustellen hat, weiß von keiner Prinzessin, keinem König und keinem Königssohn; er hält sich nur an den Menschen. Deswegen wirft der weise Bildhauer die Bekleidung weg und zeigt uns bloß nackende Figuren; ob er gleich sehr gut weiß, daß dies im wirklichen Leben nicht der Fall war. Kleider sind ihm etwas Zufälliges, dem das Notwendige niemals nachgesetzt werden darf, und die Gesetze des Anstands oder des Bedürfnisses sind nicht die Gesetze der Kunst. Der Bildhauer soll und will uns den Menschen zeigen, und Gewänder verbergen denselben; also verwirft er sie mit Recht.


    Ebenso wie der griechische Bildhauer die unnütze und hinderliche Last der Gewänder hinwegwirft, um der menschlichen Natur mehr Platz zu machen, so entbindet der griechische Dichter seine Menschen von dem ebenso unnützen und ebenso hinderlichen Zwang der Konvenienz und von allen frostigen Anstandsgesetzen, die an dem Menschen nur künsteln und die Natur in ihm verbergen.“


    Die Griechen werden zum Vorbild für die Moderne ihres noch nicht verlorenen Bezugs zur wahren Menschennatur wegen – sie zeigen sich in der Lage, Natur von gesellschaftlicher Konvention, das Wesentliche und Notwendige vom Zufälligen zu unterscheiden: Die griechisch nackt gezeigte Menschennatur passt in kein Kleid und Kostüm gesellschaftlich-zwanghafter Konvention, widersetzt sich den „frostigen Anstandsgesetzen“, die dem warmen Herz, der Empfindsamkeit, dem Leiden und Mitleiden in und an dieser menschlichen Natur, zuwider sind und es als eine hinderliche Hülle nur verbergen. Kleider und Kostüme sind für Schiller also Ausdruck des Konventionell-Gesellschaftlichen, welche von der Authentizität des moralischen Gefühls nur ablenken. Entsprechend ist auch das dramatische Interesse per se ein moralisches und kein historisch-gesellschaftliches: Das historische Kostüm zeigt nicht das Notwendige der Menschennatur, sondern immer nur das historisch Zufällige, es ist Ausdruck nicht der Moral, vielmehr nur einer Konvention, das somit den Blick ablenkt vom Wesentlichen, der „moralischen Person“ in ihrem Leiden und Widerstand dagegen. In der dramatischen Dichtung geht es entsprechend grundsätzlich nicht um die Darstellung einer „historischen Realität“:


    „Noch mehr wird man sich davon überzeugen, wenn man nachdenkt, wie wenig die poetische Kraft des Eindrucks, den sittliche Charaktere oder Handlungen auf uns machen, von ihrer historischen Realität abhängt. Unser Wohlgefallen an idealischen Charakteren verliert nichts durch die Erinnerung, daß sie poetische Fiktionen sind, denn es ist die poetische, nicht die historische Wahrheit, auf welche die ästhetische Wirkung sich gründet. Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darin, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, daß es geschehen konnte, also der innern Möglichkeit der Sache. Die ästhetische Kraft muß also schon in der vorgestellten Möglichkeit liegen.


    Selbst an wirklichen Begebenheiten ist nicht die Existenz, sondern das durch die Existenz kund gewordene Vermögen, das Poetische. Der Umstand, daß diese Personen wirklich lebten und diese Begebenheiten wirklich erfolgten, kann zwar sehr oft unser Vergnügen vermehren, aber mit einem fremdartigen Zusatz, der dem poetischen Eindruck vielmehr nachteilig als beförderlich ist.“


    Die von Taminos schon einmal gestellte Frage, ob historische Kostüme „notwendig für die Authentizität oder sinnloser Aufputz“ sind, lässt sich mit Friedrich Schiller also eindeutig beantworten: Zwar haben Kostüme einen ästhetischen Reiz und vermehren den ästhetischen Genuss des Zuschauers, sie bleiben dem Verständnis der dramatischen Intention jedoch prinzipiell fremd, weil sie sich mit keinerlei moralischem Interesse verbinden und insofern gerade das Nicht-Authentische, Nicht-Notwendige und Zufällige einer Theateraufführung bedeuten. Don Carlos, mit dessen Leiden wir Mitleid empfinden, ist nach Schiller also nicht die historische Figur in ihrem zeitgenössischen Kostüm, vielmehr die moralische Person hinter dieser Verkleidung. Schiller folgt hier der Moralphilosophie von Immanuel Kant: der „freie Wille“ ist etwas „Intelligibles“, was die Wirklichkeit transzendiert – die moralische Person demnach das „transzendentale Ich“, was mit dem „empirischen Ich“, dem historisch existierenden Individuum, niemals zu verwechseln oder mit ihm irgendwie gleichzusetzen ist. Das Historische fungiert bei Schiller so nur als das Symbol des Moralischen als dem wesenhaft Über- und Unhistorischen.


    Für Schiller, einem der Hauptvertreter des „Deutschen Idealismus“, kommt alles darauf an zu erkennen, dass die poetische Wahrheit nicht die historische Wahrheit ist. Nicht schon das Historische, allein das Poetische hat nach Schiller einen „idealischen“ Sinn, was Schiller durch die Veränderung der Seinsmodalität in der Erfassung des Geschehenden zum Ausdruck bringt: Idealisch-poetisch geht es nicht um die Abbildung einer Wirklichkeit, die historische Darstellung eines Ereignisses in einer bestimmten Zeit, sondern das, was Schiller einmal mit der Formel „die Zeit in der Zeit aufheben“ in Worte gefasst hat. Die poetische Wahrheit, sagt Schiller, ist nicht etwa das, was tatsächlich geschehen ist, sondern lediglich solches, was mit dem Sinn eines wirklich gewordenen Möglichen erfasst wird, dass geschehen konnte: Poetisch und idealisch ist die Erfassung des Möglichen im Wirklichen, des Allgemeinen und Allgemeinverbindlichen im Besonderen, des Exemplarisch-Vergleichbaren im Unvergleichlich-Einmaligen des historischen Moments. Das „Moralische“, um das es nach Schiller bei der Darstellung auf der Bühne geht, bedeutet das Zeitlose in der Zeit, das Allgemeine, was sich im Besonderen nicht nur erkennen, sondern zu jeder Zeit mitfühlend und mitleidend erleben lässt, eben weil das dramatisch dargestellte Leiden letztlich immer nur das der nicht historisch gebundenen moralischen Person sein kann. Und dieses passt in seiner exemplarischen Allgemeinheit eigentlich in jedes historische Kostüm.


    Natürlich treten auch bei Schiller die Figuren auf der Bühne nicht nackt, sondern in einem Kostüm auf. Das hat zweifellos einen ästhetischen Reiz. Aber das Schöne ist nach Schiller nur das Symbol eines sittlich Guten, d.h. für die historisch bedingte Kostümierung ist letztlich ihre symbolische Funktion entscheidend, auf das Überhistorische und Moralische der „nackten“ Menschennatur hinweisen zu können, die leidensfähige moralischen Person. Spielt sich eine opulente Bühnenausstattung dagegen derart in den Vordergrund, dass sie ihre Kraft des Symbolischen verliert, das Zeitlich-Historische auf das Zeitlos-Moralische hin zu überschreiten, dann ist das im Sinne Schillers ein Hedonismus, welcher dem Verlust der moralischen Dimension des Theaters gleichkommt.


    Der Sinn für das „Historische“ hat erst das 19. Jhd. in einer Weise kultiviert, wo der Segen historischen Bewusstseins schließlich zum Fluch wird, weswegen sich ein Friedrich Nietzsche genötigt sah, eine unzeitgemäße Betrachtung über den Nutzen wie auch den Nachteil der Historie für das Leben zu schreiben. Quisquilien wie ein ordinärer Nachttopf auf der Bühne bekommen auf einmal wesentliche Bedeutung, was bereits G.W.F. Hegel nicht ohne Ironie bemerkt. Während in Schillers idealistischem Theater das Allgemeine das Besondere dominiert, entsteht im Historismus ein Individualismus der Darstellung, dem es vor allem darum geht, den Handelnden als eingebettet in ein historisches Milieu zu zeigen. Doch der Fluch dieser Individualisierung sind die Aporien des Historismus. Eine Kunst, die ganz und gar historisch sein will, gibt sich dem Vergänglichen anheim und wird letztlich unwiederholbar. Nun wird aber auch das historische Drama wiederholt aufgeführt – selbst nach 100 oder 200 Jahren. So aber entsteht das Dilemma, dass das, was zur Entstehungszeit gar nicht historisch gemeint war, geradezu zwangsläufig als „Historisches“ rezipiert wird und umgekehrt das Historische seinen historischen Sinn verliert, indem sich dieser in einen aktuellen verwandelt.


    Regisseure von heute haben leider nicht die Gunst der späten Stunde der Geburt. Sie müssen sich nämlich den Aporien des Historismus stellen, die sich ihre „Erfinder“ ersparen konnten, weil ihr Geschichtliches eben – noch – aktuell war. Für Richard Wagner war die Sinnstiftung, die der Schöpfung eines Kunstwerkes wie der des Musikdramas zugrunde liegt, mit dem sozialen und historischen Milieu seiner Entstehung untrennbar verbunden und damit unwiederholbar. Die Frage, wie es möglich ist, dass ein solches historisches Kunstwerk nach 200 oder 300 Jahren aufgeführt werden kann und wird, selbst dann, wenn die von ihm selbst gestiftete Bayreuther Aufführungstradition nicht mehr tragfähig ist, hat Wagner schlicht weder theoretisch noch praktisch gestellt und beantwortet. Hier behält Schillers idealistische Auffassung des Theaters seine Aktualität, denn sie bietet eine Lösung der unlöslich scheinenden Aporien des Historismus. Mit dem Opernbesucher von heute, der im Geist des 19. Jhd. auf historische Treue der Darstellung fixiert ist und somit Quisquilien wie Bühnenbilder und Kulissen für das Wesentliche hält, droht mit Blick auf Schiller der Verlust des Symbolischen, der es möglich macht, das Zeitliche auf das Zeitlose in ihm zu überschreiten. Dieser drohende Verlust kann und darf deshalb auch von einer modernen Inszenierung so aufgehalten werden, dass die Personen in ein anderes – zeitgenössisches und nicht historisches – Kostüm gesteckt werden. Denn damit wird wirksam unterbunden, die handelnde Person auf der Bühne mit der historisch kostümierten gleichzusetzen und so im Sinne Schillers die „poetische“ Darstellung mit einer „historischen“ zu verwechseln, wie es bei einer betont historisierenden Inszenierung geschieht. Auch das redlichste Bemühen um historische „Treue“ bleibt letztlich aporetisch, denn das – unwiederholbare – Vergangene wird nicht wieder lebendig, es entsteht lediglich ein täuschendes, verführerisch-reizvolles Bild von ihm. Auch wenn er es nicht wahrhaben will: Der Historismus bildet das Gewesene keineswegs „orginalgetreu“ ab, er verzeitlicht das Vergangene vielmehr zu einem narzistischen Spiegelbild der eigenen Gegenwart, zu einem Wunschbild des Begehrens seiner ephemeren Bedürfnisse. Denn anders als Schillers Überschreitung des Historisch-Realen auf das Ideale hin verweigert sich der Historismus dem Unhistorischen, ist in seinem Zeitbezug nicht transzendent, sondern reszendent: Die Zeit wird nicht mehr in der Zeit aufgehoben, das Zeitliche verweist vielmehr immer nur wieder auf sich selbst zurück.