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Meine Vorfreude war nach der Matinée am 12. 3 groß – und leider die Enttäuschung gleich zu Beginn um so größer: Wegen Krankheit musste Mirko Roschkowski kurzfristig absagen, der in der Matinée als „Max“ so überzeugt hatte mit einem ebenso stimmmächtigen wie differenzierten Vortrag – Mozart und Schubert als Anklänge. Für ihn sprang Tilmann Unger ein, der den „Max“ in der Hannoveraner „Skandal“-Inszenierung gesungen hatte und später dann in Stuttgart und zuletzt in Dresden. Das Konzept von Regisseur Carlos Wagner, den Eremiten und den Samiel in einer Person zu vereinigen, wurde durch eine weitere Krankmeldung – Sebastian Campione – durchkreuzt. Es fand sich natürlich so schnell kein Ersatz, wo jemand tatsächlich beide Rolle übernehmen konnte.
Als Intendant Ulrich Peters bei Regisseur Carlos Wagner anrief, um ihn für den „Freischütz“ zu engagieren, brauchte der erst einmal etwas Zeit, um zuzusagen. Wegen der Klischeebeladenheit dieser „deutschesten“ aller deutschern Opern (meine Frau, die ja keine gebürtige Deutsche ist, meinte beim „Jägerchor“ nur: „Das ist aber sehr (!) deutsch!“) und der Erwartungen des Publikum, genau dieses Klischee auf der Bühne auch präsentiert zu bekommen, machen Regisseure von heute um das Stück eher einen großen Bogen.
Anstelle einer „naturalistisch“ bebilderten Inszenierung lässt Carlos Wagner das Bühnenbild zum Spiegel der Innenwelt werden. Dieser Ansatz ist dem Regieteam (für Bühnenbild und Kostüme war Christophe Ouvrard zuständig) auch rundum gelungen. Man sieht eine ruinenhaft zertrümmerte Hauswand, durch die ein riesiger Baum mit Wurzelwerk gefallen ist wie nach einem großen Sturm. Die romantische Symbolik und Stimmung ist also da – das Fantastische, Bizarre. Zugleich wird damit die Öffnung des Wohn- und Kulturraums zur Natur hin symbolisiert. Die bürgerliche, prosaische Welt ist also nicht in sich geschlossen, sondern offen für das Unheimliche. Die Figuren prägt – so Carlos Wagner – ihre Entwurzelung, was sich auf diese Weise eindrucksvoll im Szenenbild verdichtet. Das Bestreben der Regie, Klischees zu vermeiden, ging kurioser Weise ursprünglich so weit, dass die Regie ausgerechnet auf den Jägerchor verzichten wollte, was aber am „Einspruch“ des musikalischen Leiters Stefan Veselka scheiterte, der zudem bemerkte, dass Carlos Kleiber in seiner Aufnahme „gepfuscht“ habe, nämlich acht Hörner verwendet. Mit den Klischees des Zuschauers wird statt dessen gespielt. Während der Ouvertüre projiziert die Inszenierung das Schattenbild eines gefilmten, lebenden „röhrenden Hirschs“ in das Szenenbild des entwurzelten Baumes. Und tatsächlich hörte man eine Zuschauerin sagen: „Das ist der röhrende Hirsch!“. Der „Aha“-Effekt kam also an, hatte etwas von Loriots „Karneval der Tiere“: „Meine verehrten Damen und Herren, sorgen Sie sich nicht, der röhrende Hirsch kommt wirklich!“ War das etwa die ironische Antwort auf Hannover? Oder die „Rache“ dafür, dass der Regisseur den Jägerchor nun doch nicht streichen durfte?
Weil die Unheimlichkeit durch das omnipräsente, bizarre Bühnenbild immer da ist, muss sie in der schauerromantischen Wolfsschlucht-Szene auch nicht eigens evoziert werden. Carlos Wagner stellt dort die Welt auf den Kopf – Kronleuchter mit Kerzen, Möbel stehen mephistophelisch verkehrt herum auf dem Boden. Nicht ganz verstanden habe ich, warum auf den berühmten Schuss zu Beginn der ersten Szene verzichtet werden musste. Das ist sicherlich ein Theatercoup und Wirkungsästhetik pur. Aber das gehört finde ich zu dieser Oper dazu. Zudem war die Regie nicht konsequent in dieser Hinsicht. Warum hört man erst bei den Jägern keine Schüsse, bei Ännchens komischem Auftritt aber schon? In der Durcharbeitung gab es manche Schwächen, so agierte der Chor beim Gesellschafts-Gruppentanz zu Beginn so steif, als ob er nicht richtig geprobt hätte. Den Schuhplattler machten sie dann allerdings sehr gut! Die Regie-Konzeption fand ich stimmig, allerdings liegt es in der Natur der Sache, dass die Buntheit der Stilmischung bei Weber ein bisschen im einheitlichen Grau in Grau des schauerromantischen Bühnenbildes untergeht, dem knorrigen entwurzelten Baum, der mit der Drehbühne immer wieder fleißig gedreht wird.
Insgesamt, muss ich sagen, gehöre ich nicht zu den „Freischütz-Enthusiasten“. Nichts gegen die Musik und die musikgeschichtliche Bedeutung der Oper. Aber es ist einfach nicht von der Hand zu weisen, dass es dieses Libretto – freilich höchst wirkungsvoll und erfolgreich – schafft, Romantik als Opernklischee für Jedermann zu präsentieren. Da wird einfach alles nacheinander auf dem Tablett serviert, was Lieschen Müller so mit Romantik verbindet: Deutsches Singverein-Gemeinschaftsgefühl durch die reichliche Verwendung des Chors (Kommentar meiner Frau: „bei Euch Deutschen geht es immer um „Gemeinschaft“) , Jäger- und Schützenvereinsromantik mit dem dazugehörigen Tralala, Schauerromantik, bei der einer meiner Germanistikprofessoren, der Romantikexperte Heinz Rölleke, nicht ohne ironisches Lächeln auskam, und nicht zuletzt Biedermeier-Kitsch wie der Jungfernkranz. Herrlich, was Heinrich Heine einst schrieb, der die Oper zugleich liebte und hasste:
„Haben Sie noch nicht Maria von Weber’s ‚Freischütz‘ gehört? Nein? Unglücklicher Mann! Aber haben Sie nicht wenigstens aus dieser Oper ‚das Lied der Brautjungfern‘ oder ‚den Jungfernkranz‘ gehört? Nein? Glücklicher Mann!“
Mit heutigen Maßstäben gemessen fast schon peinlich ist der dramaturgisch völlig „unwahrscheinliche“ Schluss. In Johann August Apels Novelle, die Weber und Kind für ihr Libretto ausschlachteten, erschießt Max Agathe und endet im Wahnsinn. Opernwirksam wird dieses tragische Ende nun umgemodelt in ein Happy End, wo sich alles zum Guten wendet und alle zufrieden nach Hause gehen können. Durch solche Libretto-Bastelei wird allerdings Entscheidendes, etwa dass der Hochzeitskranz durch einen Totenkranz vertauscht ist, schlicht und einfach unlogisch. In Apels Novelle macht dieses Symbol der dunklen Ahnung Sinn – Agathe selber heiratet nicht wie erwartet, sie wird von Max tatsächlich erschossen – durch das Opern-Happy-End verliert das Todessymbol schlechterdings jegliche dramaturgische Sinnhaftigkeit. Man kann das Mystische und Fantastische freilich so deuten, dass die gesellschaftliche Konvention im Grunde selber schon entwurzelt ist, von daher also auf eine höhere Gewalt zurückgegriffen werden muss, welche das Naturrecht der romantischen Liebesheirat durchsetzt. Warum sich aber ausgerechnet der weltliche Herrscher diesem fügt, ist schlicht nicht einsichtig und wohl nur dem Wunschdenken der Restaurationszeit geschuldet, die Obrigkeit möge mit dem „Göttlichen“ im Einklang stehen, was sie aber eigentlich gar nicht mehr will, kann und darf, denn der unaufhaltsame Zug der Aufklärung ist längst abgefahren. All das kann man einem Zuschauer von heute, der Sinn in dieser Opern-„Handlung“ (die eigentlich keine ist, denn es regiert allein das Schicksal) sucht, als dramatische „Lösung“ nun wirklich nicht mehr ernsthaft zumuten. Adorno hasste bekanntlich das „Affirmative“, die Hohlheit von Schlussapotheosen, und hier, beim Finale des „Freischütz“, schießt einem das unweigerlich in den Kopf. Der musikalischen Leitung merkte man auch an, dass sie sich vor allzu viel Finalbegeisterung in Acht nehmen wollte. Genau diese intellektuell besonnene Zaghaftigkeit „wirkt“ dann aber nicht – eine aufführungspraktische Quadratur des Kreises. Hier wird Regietheater fast schon zur Pflicht, dem Finale seine Peinlichkeit zu nehmen. Verständlich also, dass Carlos Wagner die Figuren des Eremiten und des Samiel vereinigte, um im Geiste Richard Wagners das Finale aus dem Ganzen heraus zu motivieren. Statt opernhafter Schwarz-Weiß-Malerei gibt es in dieser Inszenierung also Ambivalenz: Das romantische Schicksal, es kann sowohl das Gute wie das Böse einem Menschen „geben“, der voll und ganz seinem Schicksal „er“-geben ist. Und dass Kaspar – der „das Böse“ verkörpert – in der Inszenierung zum Schluss in einem kollektiven Akt verbrannt wird, zeigt eine Katharsis, die im Grunde ein Unmögliches bleibt, weil das Handlungsprinzip durch romantische Passivität – die Schicksalsergebenheit – außer Kraft gesetzt ist. So bekommt diese „Tat“ das Beklemmende von Scheiterhaufen und Bücherverbrennungen, die etwas zutiefst Humanes – wie es eben auch das im Menschen schlummernde Böse ist – zu vernichten trachten durch einen inhumanen Akt. Auf diese Weise schließt sich der Kreis in Carlos Wagners Inszenierung: Der erste Akt beginnt damit, dass der „Versager“ Max von seinen höhnenden Jägerkollegen kollektiv gequält wird und zum Schluss erscheint diese kollektive Qual im vermeintlichen Triumph des Guten über das Böse: Eine durch das Kollektiv, die „Gemeinschaft“, verleugnete Humanität als Ausgang und Ende wird zum Sinnbild einer entwurzelten Gesellschaft.
Die „Vertretung“ Tilman Unger machte seine Rolle als Max sicherlich gut – die Vielschichtigkeit der Töne von Mozart bis Schubert, die mich bei Mirko Roschkowskis Matinée-Probesingen beeindruckte, vermisste ich allerdings. Wirklich hervorragend war die „Italienerin“ des Münsteraner Ensembles, Sara Rossi-Daldoss, als Agathe. Nicht nur, dass ihr die „italienischen“ Züge der Arien natürlich liegen, wie schon in der Matinée gefiel sie durch ihre schöne Stimme und wunderbare Piano-Kultur. Eva Baumüller passte einfach ideal für die „prosaische“ Gegenfigur der romantisch-poetischen Agathe mit ihrer Mädchenhaftigkeit und ihrem Humor. Wieder einmal eine Sternstunde präsentierte der Münsteraner Bösewicht vom Dienst, der Bass Gregor Dalal, in der Rolle des Kaspar. Zu Recht bekam er den größten Beifall, mit dem auch die anderen Solisten reichlich beschert wurden. Nur für den Chor, der im „Freischütz“ wirklich Schwerstarbeit zu verrichten hat, hätte ich mir einen Sonderapplaus gewünscht, den er sich wahrlich verdient hatte. Stefan Veselka leitete den Abend souverän und völlig uneitel im Dienst der Aufführung. Die Hörner klangen romantisch warm, wenn es auch in den schwierigen Partien einige Wackler gab. Ein rundum wirklich gelungener, schöner Opernabend!
Schöne Grüße
Holger