Von der interpretatorischen Relevanz des 'Mantels der Geschichte'.

  • Verleihen historische Momente oder besondere Orte den Interpretationen klassischer Musik eine besondere künstlerische Qualität? Oder spielt sich das Besondere an ihnen nur im Wissen des Hörers um besondere historische Situationen oder Zeitumstände ab, ohne dass dies Einfluss auf's Künstlerische nimmt?
    Es gibt ja Hörer klassischer Musik, die messen den Kriegsaufnahmen Furtwänglers eben aufgrund der begleitenden Kriegsumstände besondere Dramatik bei. Diesem Grundgefühl kann auch ich mich nicht entziehen. Lese ich Aufnahmedaten wie "März 1943", dann kommt mir automatisch der Gedanke, dass dies kurz nach der Niederlage von Stalingrad war, einer Phase des Krieges also, in der die Stimmung in Deutschland düsterer wurde, während das NS-Regime den Propagandalautsprecher in immer schrillere Tonlagen trieb. Parallel dazu starben, während die Musiker spielten (exakt zeitgleich) in den Vernichtungslagern in Osteuropa Menschen.
    Aber auch weniger dramatische Zeitumstände stelle ich mir gerne immer als Hintergrund zu Aufnahmen vor, die ich höre: das London der frühen 60er, Karajans Philharmonie in West-Berlin in den Zeiten, in denen sich alle Welt an die Teilung gewöhnt hatte und niemand ahnen wollte, dass damit auch wieder einmal Schluss sein würde.


    Was meint ihr? Sind solche Dinge allgemein von Bedeutung oder spielt sich das nur in den Hirnen einzelner Hörer mit besonderem Interesse an Geschichte ab?
    Gibt es einen 70er-Jahre-Mauer-Beethoven und einen Nuller-Jahre-"Berlin-ist-arm-aber-sexy"-Beethoven?


    Grüße
    Garaguly

  • Interessantes Thema. Grundsätzlich interessieren mich schon solche historischen Zusammenhänge. Und ich denke auch, wenn man um diese weiß, hört man die entsprechenden Aufnahmen mit entsprechend geschärften Sinnen. Allerdings wäre ich mir überhaupt nicht sicher, ob das nicht im gewissen Sinne eine Erwartungshaltung erzeugt und man dann hört, was man denkt, hören zu müssen (oder zu wollen).
    Funktioniert das denn auch anders herum? Man hört eine Interpretation und erkennt, daß hier ganz besondere historische Umstände geherrscht haben müssen, damit es so klingt, wie es klingt. Das wiederum würde ich für mich bezweifeln.

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Man hört eine Interpretation und erkennt, daß hier ganz besondere historische Umstände geherrscht haben müssen, damit es so klingt, wie es klingt. Das wiederum würde ich für mich bezweifeln.


    Na ja, in diesem besonderen Fall würde es wohl grad noch funktionieren:



    Allerdings auch nur aufgrund des veränderten Textes. Ansonsten würde ich Dir eher zustimmen, denn niemand könnte wohl glaubwürdig behaupten, die Anwesend Hitlers oder Goebbels in Furtwänglers '42er-Aufnahme des nähmlichen Werkes heraushören zu können.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Man hört, was man weiß - und fühlen will. Das ist meine Überzeugung bei diesem interessanten Thema. Es ist nicht immer der Mantel der Geschichte, es kann auch eine von Motten zerfressen Pferdedecke aus Schützengräben sein, die da herumflattert. Noch 1945 wurden in den Kellern des Berliner Reichsrundfunks von Michael Raucheisen Lieder eingespielt, auch sehr heitere und fröhliche Lieder. Die Russen marschierten währenddessen auf Berlin zu. Die Stadt lag in Trümmern. Andere harte Tatsachen hatte Garaguly schon in seinem Eröffnungbeitrag genannt. Es schüttelt mich, wenn ich beim Hören dieser Titel nur daran denke. Ich sehe darin einen Durchhalteversuch auf musikalischem Gebiet. Doch gesungen wurde gut. Nicht, weil die Umstände so waren, sondern weil die Sänger gut waren.


    Ich erinnere mich ein eine schöne Radiosendung aus Stuttgart über die erste Opernaufführung in dieser Stadt nach dem Krieg:


    Christoph Willibald Gluck
    Orpheus und Eurydike


    Orpheus:
    Res Fischer
    Eurydike:
    Martha Arazym-Haape
    Amor:
    Lore Wissmann


    Chor der Württembergischen Staatsoper
    Württembergisches Staatsorchester Stuttgart
    Musikalische Leitung:
    Alfons Rischer


    Stuttgart, 4. Dezember 1945


    Die Zuschauer sollen in Mänteln und in Decken gehüllt gewesen sein. Plötzlich friert es mich auch immer, wenn ich mir diesen bewegenden Mittschnitt anhöre. Wüsste ich um die Umstände nichts, es würde mich nicht frieren. Ich finde die Aufnahme etwas trocken.


    Furtwängler hat ja die "Eroica" noch im Dezember 1944 gespielt. Das Adagio finde ich erschütternd. Was hören wir? Es ist viel darüber geschrieben worden. Ich glaube nicht, dass es eine Totenklage ist. Ehr ist es auch Selbstmitleid dieses großen, tragischen Mannes, der sich geirrt hatte indem er glaubte, mit Musik gegen das Unheil angehen zu können.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent