MARTIN, Frank: GOLGOTHA

  • Frank Martin (1890-1974):
    GOLGOTHA
    Oratorium in zwei Teilen für Soli, gemischten Chor, Orgel, Klavier und Orchester
    Nach den vier Evangelien und Texten des Heiligen Augustinus zusammengestellt von Frank Martin
    Deutsche Übersetzung von Roland Philipp


    Uraufführung am 29. April 1949 in Genf



    BESETZUNG


    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bariton und Bass
    Jesus: Bariton
    Der Hohepriester: Bass
    Pilatus: Tenor
    Chor: Sopran, Alt, Tenor, Bass


    Orchesterbesetzung: 2 Flöten (auch 1 Piccolo), 2 Oboen (ad lib. 1 Oboe d'amore),
    1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Schlagzeug, Orgel, Klavier und Streicher



    INHALTSANGABE


    ERSTER TEIL


    I. Gebet
    Der Einleitungschor (Text aus dem 43. Kapitel des 10. Buches der „Confessiones“ des Augustinus) ist ein Gebet zu Gott, im dem die Menschheit dem Allerhöchsten für das Opfer, dass Jesus Christus mit seinem Tod die Erlösung von der Erbsünde gebracht hat, dankt.


    II. Das Palmfest
    Erst in diesem zweiten Satz beginnt die eigentliche Handlung, denn hier berichtet der Solo-Bassist (als „Testo“, als Evangelist), dass Jesus auf dem Weg nach Jerusalem von den Juden (den der Chor darstellt) begeistert mit Hosianna-Rufen bejubelt und fröhlich mit „Gelobt sei, der als König kommt im Namen des Herrn“ tituliert wird. Und diese Fröhlichkeit wird von den Solisten mit dem „Gloria in exelsis Deo“ aufgenommen, ehe jetzt der Tenor als Testo mit überwiegend rezitativischer Tonsprache, nur von wenigen leisen Akkorden des Orchesters begleitet, die Menschen auf eine Rede Jesu hinweist. Die Worte dieser Rede hat Frank Martin den „Meditationen“ des Augustinus entnommen; sie erklingen geheimnisvoll wie ein Ruf aus himmlischer Höhe und sind keiner Einzel- Stimme, sondern dem Chor anvertraut. Es wird dabei nicht nur der bevorstehende Sühnetod Jesu erwähnt, sondern auch auf das Weltgericht und auf Jesu Versprechen
    Und ich selbst, wenn ich von der Erde erhöhet werde, will alle Menschen zur mir ziehen
    hingewiesen.


    III. Der Disput im Tempel
    Jesus streitet mit einer ungeheuren Wucht gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer, nennt dabei ihre Predigten heuchlerisch, weil sie selbst ihren eigenen Worten zuwiderhandeln:

    Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die, die dir gesandt wurden.

    Eine zu erwartende Antwort der Angegriffenen aber bleibt aus - offensichtlich hat Jesu Anklage voll „ins Schwarze getroffen“. Dafür erhebt sich, ganz piano, der Solo-Sopran mit einer bangen Frage:

    Wird auch mir einst das Glück zu schauen den seligen Tag?

    die an Jesu Aussage anknüpft, dass er bald den Augen der Menschen entrückt werde - bis zu jenem Tag, an dem alle Menschen ihm huldigen werden. Es ist eine anrührende Stimme, die mit Augustins Worten ihren Glauben formuliert.


    IV. Das Heilige Abendmahl
    Im 22. Kapitel des Lukas-Evangeliums (Verse 19 und 20) wird nicht nur die Einsetzung des heiligen Abendmahls erwähnt, sondern auch der bevorstehende Verrat des Judas Ischarioth angesprochen (ab dem Vers 21). Der über die Konsekration des Abendmahles berichtende Evangelist ist zunächst der Solo-Tenor; wenn aber Jesus danach über „die Hand des Verräters“, der mit am Tisch sitzt, referiert, geht die Funktion des Testo auf den Solo-Bass über und der Tenor gibt seine Stimme nun einem der Jünger Jesu. Der Chor schweigt in diesem Teil.


    V. Gethsemane
    Dieser Teil, der den ersten Part des Oratoriums beschließt, beschäftigt sich mit dem von Jesus selbst so bezeichneten Verrat des Judas. Die Erzähler-Rollen nehmen hier Alt und Tenor wahr, die dem Publikum über die letzte Nacht Jesu mit den Jüngern berichten, und das keinesfalls zur Freude des Meisters: Dreimal findet er nämlich seine Anhänger schlafend vor, dreimal rügt er sie dafür. Seine eigene Not wird in seinem Gebet zu Gott deutlich:

    Lass diesen Kelch an mir vorübergehen, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.

    Über des Judas Handeln berichtet der Testo, in diesem Falle der Solo-Bass, ebenso wie über Jesu Verhaftung durch die Soldaten. Letzte Worte richten Solo-Alt und -Tenor an die Zuhörer (basierend auf dem biblischen Bericht des Markus (14, 50):

    Und die Jünger verließen ihn alle und flohen.

    Den Abschluss des ersten Oratorienteils bildet ein polyphon gestalteter Satz für die Solisten und den Chor (textlich auf den Meditationen von Augustinus beruhend):

    Sieh', das göttlich Lamm, hinweggeführt von Sündern.


    ZWEITER TEIL


    VI. Meditation
    Der sechste Abschnitt ist in der Hauptsache ein Zwiegesang zwischen dem Solo-Alt und dem achtfach geteilten und damit sehr komplex komponierten Chor; er beginnt mit einem Fagott-Solo über piano spielenden Streichern und wird dann von der Altistin mit elegischen Fragen fortgesetzt (die wieder den Augustinischen Meditationen entnommen sind). Der achtstimmige Chor gibt auf die Fragen der Solistin mit gedämpften, fast unhörbar klingenden Stimmen Antworten und zitiert dabei aus Psalm 121 (bei Luther, in der Septuaginta/Vulgata 120):

    Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen von welchem mir Hilfe kommt.


    VII. Jesus vor dem Hohenpriester
    Die Männerchorstimmen übernehmen hier die Funktion des Evangelisten; sie schildern episch die Anklagen gegen Jesus, lediglich die Frage des Hohenpriesters, ob er nicht auf die Klagen antworten will, stellt der Solo-Bass. Danach wird die Handlung, durch die Musik unterstützt, dramatisch, als nämlich der Hohepriester, es ist Kaiphas, Jesus geradezu beschwört, die Frage zu beantworten, ob er sei Gottes Sohn, der erwartete Heiland, und der erstmals darauf mit Bejahung antwortet. Und es nicht dabei belässt, sondern auch noch hinzufügt, dass er bald zur Rechten des Allmächtigen in den Wolken des Himmels sitzen werde. Der Solo-Tenor weiß vom Wutanfall des Hohenpriesters, der wegen dieser gotteslästerlichen Antwort seine Kleider zerrissen hat und dann (mit der Stimme des Solo-Basses) das Urteil über Jesus spricht. Ungeachtet des Urteils wüten die Männerchorstimmen weiter und bespeien den Angeklagten. Da greift der Frauenchor ein, sozusagen als Verteidiger Jesu, und mit voller Wucht prallen die Argumente der Männer- (gegen Jesus) und der weiblichen Chorstimmen (für ihn) aufeinander und wirken in ihrer zwölfstimmigen Klangwelt verstörend und sich auch nur sehr langsam beruhigend.


    VIII. Jesus vor Pilatus
    Nun bekommt der Solo-Bass die Testo-Rolle und der Solo-Tenor wird zum Statthalter Pilatus, der dem Volk, das Jesus anklagend und zum Aburteilen vor ihn bringt (weil es selber keine Todesstrafe verhängen darf), abwiegelnd widerspricht. Aber Pilatus erkennt nach dem Gespräch mit Jesus kein der Todesstrafe würdiges Verbrechen und bietet dem wütenden Volk als Ersatz für ihre aufgestaute Wut den Mörder Barrabas an; doch die Menge beharrt auf Jesu Tod am Kreuz. Es wird außerdem berichtet, dass die Kriegsknechte Jesus übel verspotten, indem sie ihm eine Dornenkrone aufsetzen und einen Purpurmantel anlegen. Dieser Abschnitt endet mit dem Bericht durch den Solo-Bass, dass Pilatus letztlich den Juden nachgibt und Jesus dem Kreuzestod überantwortet.


    IX. Kalvarienberg
    In diesem vorletzten Teil des Oratoriums ist der Chor - ohne die Sopranstimmen - in der Rolle des Testo und berichtet über den Weg Jesu nach Golgatha und die dortige Kreuzigung neben den beiden Schächern. Erwähnt werden auch Jesu letzte Worte

    zu seiner Mutter Maria: Weib sieh, hier steht dein Sohn.
    zu seinem Lieblingsjünger Johannes: Sieh deine Mutter.
    und das finale Wort vor dem Hinscheiden: Es ist vollbracht.

    Dann übernimmt der Solo-Tenor mit einer kontemplativen Arie aus Augustinus' Meditationen den Abgesang aus diesem Teil

    O mein Herr und Gott, blick hernieder auf ihn, durch den allein Erbarmen mit uns du hegest.


    X. Die Auferstehung
    Das gesamte Ensemble findet sich zum Schlusschor ein, dem in der Literatur einhellig das Attribut „Meisterstück moderner Vokalmusik“ zuerkannt wird. Martin verwendete einen Text aus dem Korinther-Brief (Kap.15, 55ff) und hat ihn atonal vertont:

    O Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?

    Diese Textstelle haben Komponisten aller Zeiten als eine Hymne des Trostes vertont, weil in ihr der Sieg über den Tod, das Grab und die ewige Verdammnis gefeiert wird. Martin stellt dem Tuttichor in dem umfangreichen Satz die Frauenstimmen kontrapunktierend gegenüber, ehe ein Orchester-Intermezzo zum choralartigen Unisono-Einsatz der Solisten führt - einem eindrucksvollen Erlebnis. Der D-Dur-Schluss ist textlich der Osternachtliturgie (Exsultet) und nachfolgend den Meditationen des Augustinus entnommen, er ist Anbetungs- und Triumphgesang zugleich.



    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Die Anregung zu diesem Passionswerk erhielt Frank Martin durch die Radierung „Die drei Kreuze” von Rembrandt van Rijn mit der faszinierenden Licht- und Schattenwirkung. Bereits im Elternhaus hatte Martin die Passionen von Johann Sebastian Bach kennengelernt, wobei den Zehnjährigen die „Matthäus-Passion“ so beeindruckt hat, dass er sie lebenslang in Erinnerung behielt. Sein Oratorium „Golgotha” (aramäisch: Schädel bzw. Hügel) entstand in den Jahren 1945 bis 1948; der erste Teil ist 1946 abgeschlossen worden, der zweite 1948.


    Die Textzusammenstellung durch Martin umfasst neben einer Kompilation aus den vier Evangelien und einigen Psalmversen auch Texte aus den Meditationen des Augustinus. Der Leidensweg Jesu wird in sieben Bildern geschildert, wobei die Solisten abwechselnd, stellenweise auch der Chor, die Rolle des Evangelisten übernehmen. Um eine Konzentration auf die Figur des Jesus zu erreichen, hat Martin sie dem Bariton anvertraut. Der Komponist hat sich auch 1946 zu seinem damals noch in Arbeit befindlichen Werk geäußert und dabei versucht zu erklären, warum er „nach Bach“ auch eine Passionsmusik schreiben wollte:
    „[Bachs] Werk war Kirchenmusik, geschrieben für seine Kirche. [...] So drücken seine Passionen wohl vor allem die Gefühle der Gläubigen angesichts der Passion aus. Das Golgotha, das ich schreiben will, versucht das Geschehen an sich darzustellen und überlässt es dem Hörer, daraus Schlüsse zu ziehen. […] Die besinnlichen Teile über Texte von Augustinus, die die einzelnen Bilder voneinander trennen, dienen nur dazu, Zeit zur Meditation zu geben und das Ganze in eine musikalische Form zu bringen, was die erzählenden Evangelientexte nicht erlaubten.“



    © Manfred Rückert für den Tamino-Oratorienführer 2017
    unter Hinzuziehung der Partitur der Universal-Edition
    „Oratorien der Welt“ von Kurt Pahlen, Chormusikführer von Hardenberg
    Das Oratorium „Golgotha“ von Frank Martin, Aufsatz von Georg Hage

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    MUSIKWANDERER

  • „Golgotha“ ist in verschiedenen Aufnahmen, erstaunlich für ein modernes Oratorium, gut dokumentiert und bei den Tamino-Werbepartnern jpc und Amazon erhältlich. Einige werden hier, ohne dass es als Wertung aufzufassen ist, gelistet:




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