HERVÉ (Florimond Ronger): MAM'ZELLE NITOUCHE

  • Hervé (Florimond Ronger, 1825-1892):
    MAM'ZELLE NITOUCHE
    Comédie-opérette in drei Akten und vier Bildern
    Libretto von Henri Meilhac und Albert Millaud, Deutsch von Richard Genée


    Uraufführungstermin unklar (26. Januar oder 26. Dezember 1883), im Théâtre des Variétés in Paris



    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Denise de Flavigny, Pensionatsschülerin, genannt „Mam'zelle Nitouche“ (Sopran)
    Célestin, Organist im Pensionat, heimlicher Operetten-Komponist (Bariton)
    Graf Fernand de Champlâtreux, Lieutenant (Tenor)
    Major Graf von Château-Gibus (Bass)
    Madame Therese, Leiterin des Pensionats, Schwester des Majors (Alt)
    Corinne und Lydia, Sängerinnen (Soprane)
    Dorival, Buffosänger (Tenor)
    Loriot, Offizier (Bass)
    Intendant, Regisseur, Soldat (Sprechrollen)
    Pförtnerinnen, Schülerinnen, Theatervolk, Soldaten (Chor)


    Die Handlung spielt in der Provinzstadt Pontarcy, Mitte des 19.Jahrhunderts.



    INHALTSANGABE



    ERSTER AKT: Mädchenpensionat der „Kleinen Schwalben unserer lieben Frau“.


    Denise de Flavigny ist eine der besten Schülerinnen im Mädchenpensionat (das im Volksmund mit ironischem Unterton „Taubenpensionat“ genannt wird) der Madame Therese und besitzt zudem ein kesses Mundwerk. Sie fand (man frage nicht nach dem „Wie“) heraus, dass der so gottesfürchtig wirkende Organist Célestin eine weit weniger fromme Profession hat: Er schreibt unter dem Pseudonym „Floridor“ Musik zu Operetten und hat gerade „Babett und Kadett“ fertiggestellt, deren Premiere in wenigen Tagen stattfinden soll. Denise hat auch noch herausgefunden (man frage auch hier nicht nach dem „Wie“), dass er mit seiner Hauptdarstellerin Corinne intim ist. Die Erkenntnisse lassen die kesse Denise von einer Theaterkarriere träumen - für eine Pensionatsschülerin aus dem Hause der Madame Therese unmöglich. Noch ein Punkt bedarf der Erwähnung (und auch hier wird die Frage nach dem „Wie“ nicht beantwortet): Es ist Denise gelungen, Célestines Notenmaterial für „Babett und Kadett“ zu ergattern und die Lieder auswendig zu lernen.


    Célestin hat Stress: Für den Abend ist die Premiere seines Werkes angesetzt und bietet Aufregung genug, doch zu allem Überfluss gibt es während der letzten Probe einen heftigen Streit mit dem zu Jähzorn neigenden Major de Château-Gibus, dem Bruder der Leiterin des Mädchenpensionats. Der tauchte nämlich unerwartet im Theater auf, weil er ebenfalls Corinne liebt und überzeugt ist, ältere Rechte bei der kapriziösen Actrice zu haben. Das dieses Zusammentreffen sowohl für Célestin als auch den Major ohne Blessuren vorüber ging, ist Corinnes Einsatz zu verdanken. Nun aber kommt besagter Major ins Pensionat zu seiner Schwester und Célestin wird ganz unruhig; doch zeigt sich sehr schnell, dass er im Auftrag der Eltern von Denise unterwegs ist, denn die haben beschlossen, dass ihr Töchterlein den Grafen Fernand de Champlâtreux, einem Offizier aus dem Regiment von Château-Gibus, heiraten muss. Und der, Therese bekommt Schnappatmung, steht vor der Tür und möchte seine Zukünftige zumindest kurz kennenlernen. Dieses Verlangen ist gegen jede gute Sitte und Therese wimmelt es zunächst ab; dann erlaubt sie jedoch ein Gespräch unter den Bedingungen, dass beide durch einen Paravent getrennt sind und der Herr Graf einen Schulinspektor spielt, der Denises Wissen prüfen soll. Diese absurde Inszenierung geht, man kann es sich denken, daneben, die Heiratskandidaten zeigen beiderseitiges Desinteresse an und an dieser Stelle könnte der Spuk ein Ende haben - doch nun trifft eine Weisung aus Paris ein, wonach Denise umgehend nach Hause beordert wird, um sich unter elterlicher Obhut auf die Ehe vorzubereiten. Madame Therese ordnet ausgerechnet Célestin als Reisebegleiter ab und bringt den komponierenden Organisten damit in Schwulitäten, denn er befürchtet, nicht rechtzeitig zur Premiere seiner Operette wieder zurück zu sein. Denise aber verabschiedet sich tränenreich von Madame Therese - wohl kaum, weil es ihr dort so gut gefallen hat, sondern weil sie jetzt den Traum von einer Theaterkarriere begraben muss.



    ZWEITER AKT: Im Theater-Foyer.


    Célestin hat die ihm anvertraute Denise noch nicht zu ihren Eltern gebracht, sondern zunächst in ein Hotel in der Stadt. Von dort aus will er sie nach der Premiere seiner Operette zu den Eltern bringen. Man muss kein Hellseher sein, um zu ahnen, dass die theaterbegeisterte Denise nicht züchtig in der Herberge hocken bleibt, sondern sich in den Musentempel begeben wird.


    Dort geht es im wahrsten Sinn des Wortes drunter und drüber: Der erste Aufzug von „Babett und Kadett“ ist mit einem stürmischen Applaus abgeschlossen worden, aber es sieht nicht danach aus, dass die Vorstellung fortgesetzte werden kann. Und das liegt an Corinne, die eifersüchtig durch die hinteren Theaterräume tobt, weil sie erfahren hat, dass ihr Floridor mit einer jungen Weibsperson gesehen wurde. Corinne weigert sich beharrlich, die Premiere zu Ende zu bringen. Daher steht der Theaterdirektor kurz vor einem Herzinfarkt, weil er sich schon ruiniert sieht und Célestin versucht unermüdlich, Corinne zum Weitermachen zu überreden. Er fällt ihr sogar zu Füßen und setzt gerade zu einer Erklärung wegen der jungen Weibsperson, natürlich Denise, an, als der Major de Château-Gibus hinzukommt und angesichts des Anblicks ausrastet. Corinne gelingt es nach gutem Zureden schließlich, den Major zu beschwichtigen.


    Derweil, das zeigt eine neue Szene, hat sich Denise tatsächlich ins Theater begeben und bestätigt damit die Annahme, dass sie nicht im Hotel auf Célestin warten würde. Sie unterhält sich gerade sehr angeregt mit einem netten Offizier, der sich ihr mit „Fernand“ vorgestellt hat (dass sie hier mit dem von ihren Eltern ausgesuchten Zukünftigen plaudert, ahnt sie genauso wenig, wie der Offizier Fernand weiß, wen er vor sich hat). Festhalten kann man allerdings, dass die Paravent-Szene (aus dem 1.Aufzug) keinen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Denise hat sich natürlich auch dem schmucken Offizier vorgestellt, allerdings mit ihrem Nicknamen „Mam'zelle Nitouche“ und sie hat sich, nicht ganz der Wahrheit entsprechend, als Schauspielerin bezeichnet. Die Behauptung, dass sie die Hauptpartie der heutigen Operettenpremiere auswendig beherrscht, ist jedoch Wahrheit.


    Währenddessen ist die Fortsetzung der Premiere endgültig gescheitert, denn Corinne hat zu allem Überfluss mitbekommen, dass Mam'zelle Nitouche eine Schülerin von „meinem Floridor“ ist. So ist der Theaterskandal und der Ruin des Herrn Direktors wohl nicht mehr abzuwenden. Doch Floridor hat die rettende Idee: Denise kennt sein Stück und muss einspringen! Dem Direktor ist inzwischen alles so was von egal, dass er zustimmt. Und das Wunder geschieht: Denise rettet die Premiere und sorgt für einen riesigen Beifallssturm. Aber es gibt einen chaotischen Schluss der Aufführung: Als nämlich Château-Gibus seinen Rivalen Floridor entdeckt, stürmt er wutentbrannt auf die Bühne und bekommt prompt den für Floridor bestimmten Lorbeerkranz über den Kopf gestülpt. Das rettet zwar nicht seine Laune, lässt Floridor und Denise aber den Überraschungsmoment für die Flucht aus dem (Parterre-)Fenster nutzen, um den Zug nach Paris noch zu erwischen...



    DRITTER AKT
    Erstes Bild: In der Kaserne.


    Da ist aber etwas völlig schief gegangen: Den Fenstersprung hat nämlich eine Soldaten-Patrouille gesehen und offensichtlich als eine Flucht wegen eines Delikts gedeutet - Denise und ihr Mentor sind verhaftet und in die Kaserne gebracht worden. Hier wird gerade von einigen Offizieren, die in der Vorstellung von „Babett und Kadett“ waren, die erfolgreiche Premiere gefeiert und dabei die Musik und die Darstellung von Denise gelobt (von Corinne ist keine Rede mehr). Und als nun jene Denise mit dem Komponisten eintritt, geraten die Herren Offiziere (unter ihnen übrigens auch Graf Fernand de Champlâtreux) vollkommen aus dem Häuschen. Mam'zelle Nitouche muss eines der schmissigen Lieder zum Besten geben - und freut sich dann über das Wiedersehen mit Fernand, den es augenscheinlich ebenso erfreut.


    Célestin ist in dieser Runde derjenige, der sich unbehaglich fühlt. Sein Verantwortungsbewusstsein drückt ihm die Schuld für die widrigen Umstände auf: Normalerweise müsste er Denise bereits den Eltern übergeben haben, aber ihm war die Premiere seiner Operette wichtiger. Doch sich selbst mit Vorwürfen zu malträtieren ist jetzt nicht die Zeit, er muss Denise ins Pensionat zurückbringen. Und genau dazu kommt es schneller, als er es sich gedacht hat, denn eine Wache kündigt Major Château-Gibus an. Ruckzuck steckt man Floridor und Denise in Uniformen, doch damit sind sie beide nicht außer Gefahr, denn der Major glaubt in der kesseren Person eine Frau zu erkennen. Das wird sich sofort klären lassen: Château-Gibus lässt für einen Reitertest zwei Pferde kommen - doch die beiden Gestalten spielen einfach nicht mit, sie schwingen sich in die Sättel und galoppieren eilig davon...


    Zweites Bild: Im Mädchenpensionat.


    ...und gelangen zurück ins „Taubenpensionat“, wo sie sich schnell ihrer Uniformen entledigen. Aber Mutter Therese hat natürlich das Pferdegeklapper gehört und vermutet Einbrecher (oder vielleicht doch einen Angriff auf die Tugend der Pensionatsschülerinnen?). Im Treppenhaus steht sie plötzlich ihrem Bruder gegenüber, der die beiden Reiter verfolgt hat. Bevor irgendetwas gesagt werden kann kommt Denise aus ihrem Zimmer und zeigt Therese und dem Major ihr schauspielerisches Talent: Sie ist zurückgekommen, säuselt sie, weil sie eine Himmelsbraut sein will, weshalb eine weltliche Ehe für sie nicht in Betracht kommt. Therese ist gerührt und Célestin kann sich nur ganz schwer das Lachen ob dieser schauspielerischen Leistung verkneifen.


    Aber da ist noch der Graf Fernand de Champlâtreux, der die Bewerbung um die Hand von Denise zurückziehen will, weil er sich in eine Schauspielerin namens Mam'zelle Nitouche verliebt hat. Als Denise das hört, wird ihr klar, mit wem sie gesprochen und in wen sie sich verliebt hat. Sie reagiert sofort und ist in der Lage, ihr Verhalten von einer Sekunde zur anderen zu ändern: Nein, sie kann nicht zulassen, dass der Adelsspross den Weg der Sünde geht (und das Theater ist ein Sündenpfuhl), sie muss Fernand ins Gewissen reden - aber durch den Sichtschutz getrennt. Therese ist entzückt über diese Reaktion ihres Schützlings, fällt aber aus allen Wolken als Denise nun zugibt, Mam'zelle Nitouche zu sein. Der Paravent wird beiseite gestoßen und die beiden jungen Leute fallen sich in die Arme, Célestin und der Major versöhnen sich ebenfalls, wobei der komponierende Organist mit klammheimlicher Freude von Château-Gibus erfährt, dass Corinne ihn einen „Affen“ genannt habe: So nannte sie ihn schließlich immer unter vier Augen...



    INFORMATIONEN ZU KOMPONIST UND WERK


    Louis Auguste Florimond Ronger wurde am 30. Juni 1825 in Houdain (bei Arras) geboren, kam im Alter von 10 Jahren nach Paris und wurde Chorknabe in der St. Rochus-Kirche. Er lernte Orgel zu spielen und studierte bei Antoine Elwart Harmonielehre, später nahm er Unterricht bei Auber am Pariser Konservatorium. Zunächst wirkte er als Organist, ab 1848 mit dem Pseudonym Hervé auch als Pianist, Sänger, Komponist und Textdichter für das heitere Genre. 1851 ernannte man ihn zum Kapellmeister des Théâtre du Palais Royal.


    Mit seinen frühen Bühnenwerken darf man Hervé noch vor Jacques Offenbach zum Begründer der französischen Operette nennen. Für die Folies concertantes, einem 1854 von ihm übernommenem Bühnentheater, schrieb er mehrere Stücke (in denen er auch selbst auftrat), und wurde damit zum unmittelbaren Vorläufer der Offenbachschen Bouffes parisiennes. Hervé arbeitete aber auch direkt mit Offenbach zusammen, z.B. 1878 unter Offenbach in einer Wiederaufführung des „Orpheus in der Unterwelt“ als Jupiter. Von seinen über 120 Bühnenwerken haben sich allerdings nur die hier vorgestellte „Mam'zelle Nitouche“ und (mit Abstrichen) auch „Le Petit Faust“ im französischen Repertoire gehalten.


    1886 zog es Hervé nach London, wo er von 1887 bis 1889 eine Reihe von Ballettstücken für das Londoner Empire Theatre verfasste. 1892 kehrte er nach Frankreich zurück und starb noch im gleichen Jahr, am 4. November 1892, in Paris.



    © Manfred Rückert für den Tamino-Operettenführer 2017
    unter Hinzuziehung eines alten französischen Librettodrucks (ohne Jahresangabe)
    aus Privatbesitz und mit privater Übersetzung ins Deutsche

    .


    MUSIKWANDERER


  • Von „Mam'zelle Nitouche“ ist eine Aufnahme (aus dem Jahre 1953) bei Cantus erschienen, die der Tamino-Werbepartner jpc bereit hält. Das kurze Tonbeispiel beweist nicht nur eine durchaus befriedigende Tonqualität, sondern auch eine hervorragende Musik. Eine Platte mit Auszügen aus französischen Operetten aus der Zeit von 1850 bis 1899 enthält ebenfalls zwei Ausschnitte aus "Mam'zelle Nitouche", allerdings sind es Mono-Aufnahmen aus der Frühzeit der Schallaufzeichnungen (darauf sei ausrücklich hingewiesen):


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER