Lucia di Lammermoor (Donizetti), Hamburgische Staatsoper, 23.05.2017

  • Es war eine durchgehend gut gesungene Aufführung, ohne im Detail wirklich herausragend gewesen zu sein. Katerina Tretyakovas Stimme ist mir als Lucia, bei allem sängerischen Können, persönlich zu wenig warm und manchmal, in den dramatischeren Passagen der ersten Arie, auch zu nah am Rand der Schärfe. Das Leiden der empfindsamen Seele stellt sie nicht so sehr mit Klang, sondern eher technisch mittels dynamischer Abstufungen ihrer strahlkräftigen Stimme und natürlich schauspielerisch dar. Trotzdem ist ihre Gesamtleistung in Ordnung. Schwieriger ist die Rolle des Edgardo zu besetzen. Die Anzahl geeigneter Tenöre scheint begrenzt zu sein. In dieser Aufführung sang der Mexikaner Ramon Vargas. Seine Stimme klingt noch überraschend jung, mit schöner Mittellage, vielleicht nicht mehr mit dem nötigen Glanz in der Höhe. Insgesamt war es aber in meinen Augen die beste Leistung des Abends. Alexander Roslavets (Raimondo Bidebent) und Alexey Bogdanchikov (Enrico Ashton) reihten sich stimmlich in die guten Leistungen ein, ohne mit einem spezifischen Stimmklang hervorzustechen. Als Normanno ließ das Mitglied des Internationalen Opernstudios Sergei Ababkin aufhorchen. Lucias anempfohlener Bräutigam Arturo Bucklaw hat wenig zu singen und wird deswegen häufig unterbesetzt, allerdings muss er schön klingen und auch laut genug sein. Oleksiy Palchykov erfüllte beides, allerdings mit etwas engem Tenorklang. Das Orchester spielte unter der Leitung von Pier Giorgio Morandi mehr routiniert als inspiriert. Jubelnder Applaus für Katerina Tretyakova, Ramon Vargas und Alexander Roslavets.


    Die Inszenierung ist nach wie vor unter die Halbnegativen einzuordnen. Bühnenbild und Kostüme sind in Ordnung, allerlei inszenatorische Mätzchen (Sandra Leupold) sind aber nach wie vor nicht selbsterklärend (einem männlichen Schauspieler werden anfangs sämtliche Kleider vom Leib gerissen, eine Schauspielerin klettert später auf das Himmebett und führt dort den Tanz einer Verrückten auf, andere Statisten schleichen im Schneckentempo über die Bühne etc.). Zumindest mussten Lucia und Edgardo nicht mehr auf die schwankenden Palmen des von Lucia von der Hinterbühne nach vorn gezogenen Gewächshauses klettern und dort, um sicheren Stand bemüht, ihr Liebesduett singen.

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv

  • Hallo, Ralf
    Vielen Dank für Deinen Bericht, den ich mit Freude und Interesse gelesen habe. Auch wenn die Inszenierung zu den "Halbnegativen" einzuordnen ist, wie Du schreibst,
    ist so ein Live - Erlebnis doch immer etwas Besonderes, zumal die "Lucia" nicht so häufig auf dem Spielplan anderer Häusern steht.


    Herzlichst
    CHRISSY


    PS.: In einem anderen Thread fragt Alfred gerade - Interessiert sich jemand für meine Themen?
    Nun, ich meine, wenn man wie hier z. B. solch eine Rezension liest, sollte auch so viel Zeit sein,
    um die Mühe des Autors mit einem kurzen "Danke, war interessant zu lesen", zu quittieren.

    Jegliches hat seine Zeit...

  • Die Inszenierung ist nach wie vor unter die Halbnegativen einzuordnen.


    Nun bedeutet "Halbnegativ" gleichzeitig ja auch "Halbpositiv" und tatsächlich finde ich die Inszenierung so schlecht nicht: Die Idee besteht darin, die Geschichte auf der Hinterbühne eines Opernhauses spielen zu lassen, welches anscheinend eben jenes Werk Donizettis im Programm hat. Die Figuren erwachen und erwachsen gewissermaßen aus der "Möblierung" einer wohl eher klassischen Lucia di Lammermoor-Inszenierung und bekommen so neben der eigentlichen eher holzschnittartigen Handlung des Originals eine zweite tragisch-komische Dimension: Der Versuch einer Befreiung aus der immer gleichen Handlung, dem immer gleichen, tödlichen Ende gelingt auch auf der Hinterbühne nicht! - Insgesamt ist die Szenerie zwar schwächer, als z.B. Leupolds Deutung des Don Carlo am Stadttheater Lübeck, aber als "Gebrauchsinszenierung" durchaus geeignet, sich noch eine Weile im Repertoire zu halten.



    zumal die "Lucia" nicht so häufig auf dem Spielplan anderer Häusern steht.


    operabase vermeldet für den Mai neben Hamburg immerhin Aufführungen u.a. in Köln, Düsseldorf, Mannheim, Chemnitz und Hagen. In der kommenden Saison scheint das Werk auch in Berlin, München, Leipzig und Dresden programmiert zu sein.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Danke für Eure Kommentare. In dem eingebundenen Trailer ist als Lucia übrigens die wunderbare Hayoung Lee zu sehen, daneben George Petean als Enrico sowie, wenn ich richtig hingeschaut habe, Saimir Pirgu als Edgardo (es fehlte nur der herausragende Bass Alexander Tsymbalyuk als Raimondo). Ich habe diese Leupold-Inszenierung seit 2010 insgesamt 7mal gesehen. Das spricht zunächst für Donizetti, auf der anderen Seite aber auch für das Halbpositive der Inszenierung. Sollte Kunst aber nicht selbsterklärend sein? Wie erklärt sich das im Trailer angedeutete Entkleiden des Statisten, wie der Tanz der Verrückten auf dem Himmelbett? Es wirkt nur lächerlich, wenn sich Edgardo und Enrico mit Kissen ein Duell liefern und warum muss Edgardo auf das gut 2 Meter hohe Himmelbett klettern, um sich dort drehen zulassen? Wieso mutet die Regie einem Sänger solche Turnübungen zu? Manches im Trailer zu Sehende wurde ja bereits weggelassen wie das peinliche Ersteigen der Palmen durch Edgardo und Lucia, auch das Duett Edgardo / Enrico findet nicht mehr, wie in dem Trailer zu sehen, an einem Fenster in der Höhe, sondern „an der Rampe“ statt.


    Wahrscheinlich wird heute erwartet, dass der Besucher die an vielen Bühnen bereits üblichen Einführungen besucht, weil es der Regie eben nicht gelingt, die Zuschauer nonverbal von ihrer künstlerischen Leistung zu überzeugen. Von den häufig kritisierten modernen Regisseuren würde ich allerdings Konwitschny ausnehmen, dessen Bühnenaussagen verstand ich immer, fand sie zum Teil sehr überzeugend wie immer noch seinen Hamburger Schulklassen-Lohengrin, auch wenn ich verstehe, dass andere diese Art der Verfremdung überhaupt nicht mögen. Am besten sollten solche Inszenierungen im Sinne einer Werkstattaufführung nur für ein oder zwei Jahre gespielt werden, oder abwechselnd mit einer klassischen Version. Nur das funktioniert eben nicht. Der Hamburger Ballettdirektor John Neumeier hat einmal parallel seine eigene klassische Dornröschenchoregraphie und eine (ebenfalls sehr interessante) verfremdete Version von Mats Ek spielen lassen. Beim Publikum kam das überhaupt nicht gut an. Viele Zuschauer waren erbost, wenn sie in der falschen Vorstellung waren. Die Kassenleute hatten beim Vorverkauf viel zu tun, um die Käufer in die richtige (gewollte) Vorstellung zu lotsen. In der nächsten Saison gibt es wieder die Walküre in der unsäglichen Version von Claus Guth mit den verlausten, sich kratzenden und in einem zerbombten Keller hausenden Walküren. Ich werde trotzdem hingehen. Es ist halt die Musik (und der Gesang), um den es mir letztlich geht. Freundliche Grüße, Ralf Reck

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv